„Alte Abmeyerei“ – Clemens Meyer liest Wolfgang Hilbig im Literaturhaus Leipzig
Es ist Hilbig-Jahr. Am 31. August dieses Jahres wäre der Meister 80 Jahre alt geworden und die Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft rahmt diesen Termin mit zahlreichen Veranstaltungen. Vielen gilt Hilbig als der einzig wirklich moderne Schriftsteller der DDR, doch Hilbigs Singularität mag wohl für den gesamtdeutschen Literaturbetrieb Gültigkeit besitzen – von seiner Sprachmächtigkeit gab und gibt es nicht viele. Hilbigs Werk war und ist Literatur für Kenner und Liebhaber. Niemals hätte dieser das für sich selbst beansprucht, Kritik und Wissenschaft waren Hilbig stets ebenso suspekt, wie jedweder offen ausgestellte kultivierte Gestus. Man schaue sich dazu nur einmal das Fernsehinterview mit Günter Gaus an – Hilbig, in grellem Scheinwerferlicht auf dem Marcel-Breuer-Klassiker B3 – man spürt förmlich, wie sich der öffentlich (oft, aber nicht immer) scheu auftretende Hilbig unwohl fühlt. Diese Person mit den unter gleichem Namen veröffentlichten Texten in eine Verbindung zu bringen, dürfte seinerzeit vielen schwergefallen sein. Dem Dichter der ungeheuerlichsten Sprachphantasien war jegliche Exaltiertheit fremd. Hier ist nicht der Raum, um intensiv auf die bewegte Biografie Hilbigs einzugehen, doch sein von Brüchen geprägtes, unstetes Leben ist die Hintergrundfolie, vor der fast jeder Satz seines Werks betrachtet werden muss. Der sowohl in den Staaten des geteilten und erst recht im wiedervereinigten Deutschland persönlich gescheiterte Hilbig hat all diesen Gesellschaften einen trüben Zerrspiegel vorgehalten. Die sich darin unheimlich abzeichnenden grotesken Bilder atmen den Geist magisch-schauriger Avantgarden, von der Romantik bis zum Nouveau Roman. Das Spektakuläre bei Hilbig mag sein, dass er dieses literaturgeschichtliche Gewitter fast ausschließlich über der sogenannten Leipziger Tieflandsbucht hat abregnen lassen. Der von der Industrie bis zur Unkenntlichkeit geschundenen Landschaft und ihren oftmals nicht weniger gezeichneten Bewohnern hat er einen Platz in der Weltliteratur zugewiesen.
Gerade bei der Hervorbringung seiner nachtseitigen Protagonisten und finsteren Gestalten mag sich Hilbig die Geschichten E.T.A. Hoffmanns, Klingemanns oder auch Edgar Allan Poes neben das Textblatt gelegt haben. In Hilbigs dunklen Kellern, Kneipen und Kohlestollen findet sich so mancher Wiedergänger dieser schaurigen Seite der Romantik. Wolle man wissen, wie es mit diesen oftmals prekären Gestalten Hilbigs weitergehen könnte, so würde man am ehesten bei Clemens Meyer fündig, empfiehlt Wilhelm Bartsch im fulminanten Nachwort des kürzlich erschienenen letzten Bandes der Hilbig-Werkausgabe. Wie Recht er damit hat! Deswegen dürfte Meyer in der Funktion als Hilbig-Botschafter eine Idealbesetzung sein.
Am Abend des 20. Juli liest er aus Texten Hilbigs und mischt auch immer mal etwas eigenes darunter. Das Mash-Up mit dem Namen „Alte Abmeyerei“ wird jedoch vor allem dann spannend, wenn sich Meyer von den Texten löst; wenn Meyer zum Beispiel vom Leipziger Hauptbahnhof als einer „Hilbig-Kathedrale“ spricht und viele Zuhörer im Café des Leipziger Literaturhauses Szenen und Gestalten aus dem Œuvre Hilbigs deutlich vor Augen gehabt haben dürften. Der Bahnhof als Kathedrale, die Bahnhofskneipe als Sakristei. Die romantischen Interferenzen von Traum und Wirklichkeit sind bei Hilbigs Protagonisten auch allzuoft Ergebnis von literweise Bier und schweren Schnäpsen – jener bewusstseinsverändernde Rausch, den auch Meyer gern literarisch heraufbeschwört. Dass Meyer, wie er an diesem Abend an einer eigenen Textprobe vorführt, Hilbigs narrative Strategien mäandernder und kreisender Beschreibungen und Beschreibungsversuche zu adaptieren versucht, zeigt, dass beide jedoch wohl schon längst mehr als nur das Personal gemeinsam haben. Davon hätte man gern noch mehr gehört. Doch sei es drum, auch wenn es bei diesem gelungenen Auftakt zu Meyers kleiner Lesetour letztlich kein Thema war, so scheint beide Autoren eine ihnen jeweils eigene Romantizität wie ein unsichtbares Band zu verbinden, was letztlich für ein recht harmonisches Beieinander ihrer Werke sorgt.
„Alte Abmeyerei“ ist noch zu hören am 12. August in Hamburg und am 14. September in Köln.