Hendrick Heimböckel , 31.08.2018

Blaubär statt blauer Blume

Romantische Strukturen in Käpt’n Blaubärs Seemannsgarn

Seemannsgarn ist bekanntlich ein Material, aus dem nichts gestrickt werden kann, außer Geschichten. Meist werden sie eher männlichen Erzählern wie Matrosen, Kapitänen und Piraten in den Mund gelegt. Sie handeln von ihrem Leben, von besonderen Ereignissen, von bestandenen Abenteuern und fetter Beute. Wenn diese Erzählungen eines nicht sind: Wiedergaben schlichter alltäglicher Erfahrungen, unausgeschmückt und langweilig. Der Rohstoff, aus dem dieses flüchtige Garn gewonnen wird, ist dem Anschein nach das Leben ihrer Erzähler. Damit muss es jedoch nur wenig gemeinsam haben. Der eigentliche Rohstoff ist die Phantasie. Deswegen lässt sich aus Seemannsgarn auch nichts Praktisches gewinnen. Es ist nutzlos. Was hat das mit Romantik zu tun? Im Fall der Geschichten von Käpt’n Blaubär ziemlich viel.

Er ist die wohl bekannteste Figur der jüngeren deutschen Medienlandschaft, die sich dieses fadenscheinigen Stoffes bedient. Seit 1991 hat Blaubär meist im letzten Clip der Sendung mit der Maus einen kurzen Auftritt. Er gibt dort seiner Enkelin und seinen zwei Enkeln Auszüge aus seinen „Seefahrten“ zum Besten. Häufig ist auch die Ratte mit dem sprechenden Namen Hein Blöd mit von der Partie – sowohl in den Erzählungen als auch als Bewohner des wohnlichen, auf einer Klippe gestrandeten Kutters.

Neben den Enkeln und Hein Blöd hören in familiärer Atmosphäre rund 2 Millionen Zuschauer*innen wöchentlich die Geschichten des Käpt’n. [1] Er ist eine Figur des Zeichners und Autors Walter Moers, bekannt für seine Bücher über die fiktive Welt Zamonien.

Blaubärs Kürzestgeschichten haben eine thematische Bandbreite, die von Märchen und Mythen, über Geographie, Flora, Fauna und Kosmologie bis hin zu den Bedingungen des alltäglichen Lebens reicht. Ebenso machen die Titel vieler einzelner Folgen wie Die drei Bärchen und der blöde Wolf, Die drei Muskebären, Dr. Hein und Mr. Blöd, Bei den Lilliputbären, 20000 Millimeter unter dem Meeresspiegel, Der fliegende Schottländer, Der Flötenfänger von Hameln darauf aufmerksam, dass die Handlungen der Clips nicht bloß aus spontanen Eingebungen und Assoziationen im luftleeren Raum geschöpft werden, sondern auch in der Literaturgeschichte ihren Ort haben. Dabei werden die meist wunderbaren Handlungen im Rahmen der Welt, in der Käpt’n Blaubär und seine Crew leben, keineswegs als Erfindungen präsentiert. Obwohl es zum Schema der Episoden gehört, dass ihr Wahrheitsgehalt von den drei Enkeln angezweifelt wird, bevor ihr Großvater mit dem Erzählen beginnt, kommt es vor, dass sich die Geschichten als wahr erweisen. Es kommt auch vor, dass der Käpt’n mit seinen Märchen ein Ablenkungsmanöver vollführt – meist dann, wenn es ihm darum geht, Essbares zu stibitzen.

Wenn die Bärchen ihn beim nächtlichen Tortendiebstahl am Kühlschrank ertappen, tischt er ihnen die Geschichte vom Klabauterecho auf, einem Kobold der Seefahrt, der die Gestalt seines Gegenübers annimmt. Es sei das Klabauterecho gewesen, das die Torte aus dem Kühlschrank genommen hat und nicht der Käpt’n. Die Bärchen geben sich – nicht ohne Skepsis – mit der Geschichte zufrieden und gehen zu Bett. Triumphierend holt Blaubär die Torte hervor: „Dann wollen wir mal das Beweisstück beseitigen, bevor diese Superdetektive wieder hier rumschnüffeln“, [2] nur um sich darüber zu wundern, warum nur noch die Hälfte der Tote übrig ist, und sich prompt seinem Doppelgänger gegenüber zu finden – ein Motiv, dessen Konjunktur mit E.T.A. Hoffmann begann.

In einer anderen Folge erzählt Blaubär auf ironische Weise die Kritik am Roman im 18. Jahrhunderts, der den ablehnenden Stimmen zufolge zu Lesesucht und Sittenverfall geführt haben soll, mit dem Medium des Comics neu. Um die Bärchen davon abzuhalten, sich der vorgeblich verdummenden Comiclektüre hinzugeben, berichtet er ihnen von seiner eigenen Comicsucht. Sie soll dazu geführt haben, dass er nur noch in Sprechblasen reden, in Denkblasen denken und mit Klangblasen Geräusche von sich geben konnte. Die Heilung für diese medienspezifische Krankheit seien Klassiker gewesen wie Die Angst des Blaubären beim 11-Meter, Auf der Suche nach dem verlorenen Blaubären, Des Blaubären Wunderhorn und ironischer Weise ein Text, dessen historisches Pendant eine Mode hervorgebracht und Suizide motiviert hatte: Die Leiden des jungen Blaubären. Das Ganze ist jedoch nicht erfunden. Die Bärchen sprechen im Anschluss an die Erzählung nur noch wie Comicfiguren. Einen Stapel klassischer Literatur hinterlassend, geht Blaubär in seine Kajüte, setzt sich gemütlich mit den Worten: „Eine Ente die sprechen kann. Einfach köstlich“, in seinen Sessel und liest einen Comic. [3] Auf Titel von Handke, Proust, Arnim, Brentano und Goethe wird hier angespielt. Mit diesen verfremdeten Titeln von Werken aus dem Sturm und Drang, der Romantik, der klassischen Moderne und der experimentellen Lyrik sowie unter dem Mantel der Medienkonkurrenz von Buch und Comic wird eine aufklärerische Fiktionskritik parodiert. Und vice versa: Das Schema der Fiktionskritik parodiert die Medienkonkurrenz.

Im Gegensatz zu dieser bewiesenen Geschichte, schlägt der Nachweis für andere fehl. Der Uhrmacher in der Zeitfabrik: Der Käpt’n und Hein Blöd sollen eine Ladung Sommerzeit nach Australien schiffen, die wie Teilzeit, Eiszeit und Osterzeit in der Zeitfabrik hergestellt und vom Zeitgeist in der Weltzeituhr in einem reibungslosen Ablauf zusammengestellt werden. Hein Blöds Versuch, die verschiedenen Zeiten zu verladen, führt zu einem Chaos. Damit der Zeitgeist wieder Ordnung herstellt, soll Blaubär ihm huldigen. Anlass für dieses allegorische Seemansgarn ist eine Kaputte Standuhr. Die Bärchen verlangen als Beweis, dass der Käpt’n auch jetzt dem Zeitgeist huldigt, um die Standuhr wieder zum Laufen zu bringen. Der Kasten rappelt. Die Anwesenden wähnen die Präsenz des Zeitgeistes, das Ziffernblatt springt heraus. Und stattdessen lugt dort, wo sich zuvor das Ziffernblatt befunden hat, Hein Blöds Nase hervor. [4]

https://www.youtube.com/watch?v=6KvwleBohj4

Weder gibt es einen Geist, der die Zeiten ordnet noch gerät irgendjemand in Not, wenn der reibungslose Ablauf in der Zeitfabrik gestört wird. Dahinter verbergen sich höchstens ein Märchen und ein Narr. Alles nur erstunken und erlogen. Dieser Clip ließe sich als ausgeklügelte Kritik an Idealismus und Materialismus mit den Mitteln des Märchens verstehen, wie sie schon unter anderen kulturgeschichtlichen Vorzeichen Hoffmann in Klein Zaches ästhetisiert hat.

Nicht nur in den Geschichten, sondern auch in der Welt des Käpt’n kehrt sich das Verhältnis von Wissen und Fiktion um. Wenn die Bärchen von ihrem Großvater wissen wollen, ob das Nordlicht ein physikalischer Effekt ist oder seine Erscheinung etwas mit der Sonne zu tun hat, so wischt er dieses Wissen als Kokolores zur Seite: Vincent van Blau, sein künstlerisch begabter Vorfahr von Weltruhm fing an, alle möglichen Lebewesen zu bemalen, da Hollywood den ganzen Bestand an Leinwänden aufgekauft hat. Bei seiner Suche nach immer größeren Flächen zum Bemalen, wobei er weder Wale noch Eisbären verschmäht, gelangt er schließlich zum Nordpol. Dort nutzt er die gefrorene Luft als gigantische Leinwand, um „Sonnenblumen mit Brathering“ zu malen. Am Nordpol wird er klarerweise von der Polizei in Gestalt von zwei Pinguinen ertappt. Sie halten ihn dazu an, die gefrorene Luft zu säubern. Statt die Farben wegzuwischen, verwischt Vincent van Blau sie bloß. Ein verschmiertes Gemälde ist es also, was die Bärchen in klaren Polarnächten sehen und keine Sonnenwinde. Beweis für diese Geschichte ist ein Andenken an das Werk in Form einer Kühlschranklampe, die leider von Hein Blöd als Eis entfremdet wurde. Auf die Forderung es zurückzugeben entgegnet er: „Hol ich mir eben nen Lutscher.“ Auch in diesem Clip liegt ein Umkehrungsphänomen vor, dass diesmal die Ästhetisierung des Wissens verballhornt. [5]

https://www.youtube.com/watch?v=vgDLOmxfCi8&t=1s

Neben der klassischen Verbindung von Binnenerzählung und Rahmenhandlung in den frühen Folgen setzen die neueren Clips mit der Totale eines Buchdeckels ein, der von einer blauen Stoffhand aufgeschlagen wird, während die Kamera nach und nach in das Buch zoomt. Die aufgeschlagene Seite wird zur Rahmenerzählung, die wiederum durch das Intro selbst als Geschichte markiert und damit zum Mittel medialer Selbstreflexion wird.

Man könnte meinen, dass der um Käpt’n Blaubär entstandene Clip-Kosmos von einer der Figuren aus E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüder erfunden wurde. Auch hier liegt eine Rahmenerzählung vor, doch sind es Freunde, die sich gegenseitig Geschichten vortragen. Darunter befindet sich auch Nußknacker und Mausekönig, eines der frühen Kindermärchen, das mit der Realität der Fiktion und dem Übergang von Binnen in Rahmenzählung genauso spielt, wie die Clips. Im Anschluss an das Märchen diskutieren die Freunde darüber, ob es überhaupt kindgerecht gewesen sei. Zum Ende der kontroversen Diskussion gibt Lothar, der Erzähler, zu, dass „ein gewisser unverzeihlicher Übermut“ sein Märchen ausmacht und er dabei zu sehr „an die erwachsenen Leute und ihre Taten gedacht hat“. [6] Daher gelobt er bei seinem nächsten Märchen „weniger in fantastischem Übermut zu luxurieren, frömmer, kindlicher zu sein.“ [7] Während die Rahmenhandlung der Serapions-Brüder realistisch ist, die Erzählungen hingegen wunderbar, unheimlich oder fantastisch sind, müssen wir uns bei Käpt’n Blaubär keine Sorgen machen: Die Welt, aus der heraus er seine Märchen auftischt, funktioniert nach einem schematisierten Ablauf. Er besteht aus: Anlass für eine Erzählung, die Bärchen stellen die Geschichte im Vorfeld in Frage, Blaubär erzählt, ein Ereignis der Rahmenhandlung bestätigt oder negiert den Wahrheitsgehalt der Erzählung. Wenn auch auf bekannte Mythen, Medien, also auf kulturelles Wissen angespielt wird, sorgen das animierte Intro die Puppen und das Schema dafür, dass es den Zuschauenden klar ist, worum es hier geht: Geschichten zu erzählen, die zum Lachen bringen und zum Denken anregen. Moralisiert wird hingegen nicht.

Und was hat das alles mit Romantik zu tun? Retrospektiv sollte deutlich geworden sein: Der literaturgeschichtliche Zitatenreichtum, das Ineinandergreifen der Erzählebenen, die Reflexionen auf die Fiktionalität der Fiktion, die Parodie, Motive wie der Doppelgänger und die Gegenüberstellung sowie Vermischung von Wissen und Fiktion sind Merkmale, die wie, um mit Christoph Bode zu sprechen, eine Familienähnlichkeit zu Erzählverfahren und Topoi der Romantik aufweisen. [8]

Ein Element, das nicht im Zentrum des genuin romantisch-ästhetischen Formenspektrums steht – und eigentlich dazugehören müsste –, aber genauso wenig aus dem Blick fallen darf, ist das Marionettentheater. In Kleists Aufsatz zum Marionettentheater wird der Marionette eine gottgleiche Anmut zugeschrieben. Sie vermag das, was kein Tänzer vermag: durch die Verfremdung des Menschen als Marionette etwas darzustellen, was dem Menschen versagt ist – makelhaft zu sein. Die Marionette hingegen ist eine Puppe, ihre Bewegungen müssen keinem Ideal entsprechen, handeln aber dennoch exakt nach den Vorgaben des Puppenspielers. Ein solcher Anspruch wird genauso wenig an die Clips des Käpt’n Blaubär gestellt: Sie sind nicht von dieser Welt und erlauben in den Vorgaben ihres Mediums als Kindergeschichten alle möglichen Kombinationen. Das Prinzip ist simpel, aber Grundlage für eine schier unbegrenzte Kombinatorik von Geschichten.

Dass sie zeitgenössischen Variationen ästhetischer Topoi gegenüber offen sind, zeigt eine kürzlich ausgestrahlte Folge, in der ein Computervirus auf die Rahmenhandlung übergeht, alle Gegenstände zum Verschwinden bringt und den Käpt’n zur Computerfigur macht. Obwohl der Virus gelöscht wird, erscheint er noch einmal im Outro – ein Mittel mit dem Unbehagen bereitet wird, weil es offenlässt, ob die Grenze von Virtualität und Wirklichkeit restauriert wurde oder weiterhin brüchig ist. Die Aufhebung von Grenzen und die Überblendung sowie inszenierte Synthese von Heterogenem ist ein Kernelement romantischer Ästhetik. Das gilt sowohl für ihre Schauer- als auch für ihre märchenhaften Erzählungen.

Wenn Literaturhistoriker*innen die Romantik an die Anfänge der Autonomieästhetik binden, sind die Blaubär-Clips die radikalen Narrenstücke dieser Geschichte. Autonomieästhetik lässt sich holzschnittartig einerseits als die Emanzipation künstlerischer Formen von ihrer Inanspruchnahme von Moral, Religion und Politik umschreiben. Andererseits prägt sie eine Orientierung an Formexperimenten sowie die ästhetische Reflexion verschiedener Diskurse und zeitgenössischer Phänomene. In den Clips finden wir keine Moral, keine Politik, keine Philosophie, geschweige denn Religion oder modernes Krisenbewusstsein wie in bekannten romantischen Texten, Musiken und Bildern: die musikalische Wirkungsästhetik eines erhabenen Gefühls kollektiver Verbundenheit in Beethovens Ode an die Freude, Wagners völkisches Gesamtkunstwerk, Friedrichs religiös inspirierte Seelenlandschaften oder der poetische Messianismus eines Novalis, die regelpoetischen Diskussionen in Hoffmanns Serapions-Brüder oder Brentanos Mythos von der gesegneten Naivität des Kindes. Blaubär ist ein Beispiel für einen Gipfel in der Geschichte der ästhetischen Autonomie. Die mühsame Vermittlung von Kunst und Leben, von Phantasie und Vernunft, die von vielen Romantiker*innen zugunsten von Kunst und Phantasie so häufig erprobt wurde, ist für ihn ein Kinderspiel – und ohne die vorausgegangene Arbeit nicht denkbar.

 

Anmerkungen

[1] „Käpt’n Blaubär. Basisinformationen“, in: WDR.de, wdr-mediagroup.com/programmverwertung/markenportfolio/kaeptn- blaubaer/, abgerufen am 10. März 2019.

[2] WDR mediagroup: „Das Klabauterecho“, in: Käpt’n Blaubär. Seemansgarn. Das Beste vom Kutter, Vol. 1–3, DVD 1, 48:30–48:36 (WDR, D, 2012).

[3] WDR mediagroup: „Der Comicbär“, in: Käpt’n Blaubär. Seemansgarn. Das Beste vom Kutter, Vol. 1–3, 43:29–43:33 (WDR, D, 2012).

[4] WDR mediagroup: „Der Uhrmacher in der Zeitfabrik“, in: Käpt’n Blaubär, https://www.youtube.com/watch?v=cYImdeF-ViU, abgerufen am 10. März 2019.

[5] WDR mediagroup: „Das Nordlicht“, in: Käpt’n Blaubär, https://www.youtube.com/watch?v=vgDLOmxfCi8, abgerufen am 10. März 2019.

[6] E. T. A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, hg. von Wulf Segebrecht/Ursula Segebrecht, Frankfurt am Main 1988, S. 308f. (= E. T. A. Hoffmann. Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4).

[7] Ebd., S. 309.

[8] Vgl. Christoph Bode: „A Model of Models? Reconceptualizing European Romanticism and the Form(s) of Historicity“, in: Romantik erkennen – Modelle finden, hg. von Stefan Matuschek/Sandra Kerschbaumer, Paderborn 2019, S. 131–144.

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