„Der Geist der Romantik ist noch erfahrbar“
Nico Karge: Eine Ihrer Arbeiten von 2015 ziert – nicht zufällig – die Startseite des Romantik-Forums, für welches wir unser Gespräch führen. Sie trägt den Titel Cloud und zeigt eine in Pastell und Kohle gefasste Berglandschaft, hinter der sich eine gigantische geometrisch komponierte Lichterscheinung am Himmel manifestiert. Was würden Sie selbst sagen – ist diese Landschaft romantisch?
Wieland Payer: Das ist eine interessante Frage – ich würde sagen, dass in der Arbeit zumindest das Erbe der Romantik nachhallt. Was mich mit den Künstlern der Romantik verbindet, ist die Nähe zu Natur und Landschaft und der Ansatz, persönliche Stimmungen auf die Landschaft zu übertragen beziehungsweise durch das Sujet auszudrücken. Natürlich kommen da noch andere Aspekte hinzu, zum Beispiel das Interesse für Utopien, der Konsum von Science-Fiction-Literatur und -Filmen. Ich bin nicht religiös, suche aber in der Beschäftigung mit der Natur auch nach Antworten auf Lebensfragen.
N.K.: Und noch weitere Parallelen Ihrer Arbeiten zu Werken von romantischen Künstlern wie Carl Gustav Carus, Johan Christian Clausen Dahl und Caspar David Friedrich sind augenscheinlich: Ihre farbigen Zeichnungen sind ebenso wenig klassische Landschaftsbilder wie die Gemälde der Romantiker, sondern vielmehr Imaginationslandschaften, in denen Bildgegenstände künstlich zusammengefügt sind und verschiedene Perspektiven ineinandergreifen. Inwieweit ist die Romantik – sei es unter inhaltlichen, motivischen oder kompositorischen Gesichtspunkten – Inspirationsquelle für Ihre Bilderfindungen?
W.P.: Es gibt einige Bilder, die sich direkt auf Bilder der Romantiker beziehen, zum Beispiel Midnight (2018), Happy End (2018), aber auch Oehme (2015). Ich finde vor allem die große Frische und Strahlkraft der Arbeiten der Romantiker sehr anziehend. Die Kompositionen sind klar und wie bereinigt von allem Unnötigen. Die Landschaften der Romantiker sind zwar häufig aus verschiedenen Studien zusammenkomponiert, aber wirken trotzdem selbstverständlich und überzeugend durch sorgfältige Naturbeobachtung. Nach den barocken Ideallandschaften des 18. Jahrhunderts haben die Romantiker die Heimat als Thema wiederentdeckt und in ihren Studien sehr genau hingeschaut und sorgfältiges Naturstudium betrieben. Das macht den Reiz der Arbeiten aus, und viele Studien kann ich als Künstler als Vorlage für eigene Bilder nutzten.
Da ich in Dresden lebe und arbeite, ergibt sich dadurch natürlich noch ein zusätzlicher Ortsbezug. Manchmal, wenn der Nebel über der Elbe aufzieht oder sich eine besonders interessante Wolkenszenerie ergibt, denke ich, jetzt hätte Friedrich die Malpappe gezückt und diesen Moment festgehalten. Der Geist der Romantik ist in solchen Momenten noch erfahrbar. Durch meine Familie (Großvater) bin ich auch sehr mit der Sächsischen Schweiz verbunden, eine Landschaft vor den Toren Dresdens, die ein beliebtes Motiv der Romantiker war.
N.K.: Vielleicht können Sie in diesem Zusammenhang noch mehr über Ihren Bildfindungsprozess erzählen: Wonach suchen Sie Ihre Motive aus und wie gehen Sie bei etwaigen historischen Vorlagen vor, denen Sie sich als Studien für Ihre Werke annehmen? Arbeiten Sie auch nach Anschauung oder entsteht alles direkt im Atelier, zum Beispiel durch die Arbeit mit Modellen und Vorlagen, oder gänzlich aus Imagination und Vorstellung heraus?
W.P.: Die Bildfindung ist ein langwieriger Prozess, der sich vor allem aus der Logik einer Serie ergibt. Während der Reisen und Wanderungen sammele ich Fotomaterial. Bei einer Reise nach Ecuador in diesem Jahr konnte ich auch vor Ort Aquarellstudien anfertigen. Wenn ich von den Reisen zurückkomme, geht es erst einmal darum, welche Eindrücke für mich wesentlich sind. Welche Bilder, Stimmungen, Farben sind essentiell gewesen? Dann sammele ich in meinem Skizzenbuch Studien und Ideen. Das können bis zu 200 verschiedene Skizzen sein. Dabei verwende ich nicht nur eigenes Fotomaterial, sondern alle möglichen Inspirationsquellen, zum Beispiel alte GEO-Magazine, Bildmaterial aus dem Internet, Filme (wie aktuell die Südamerikafilme von Werner Herzog), Bilder von Instagram von anderen Künstlern oder eben bestimmte Werke der Romantiker. Welche Verknüpfungen ergeben sich, welche Ideen könnten sich in einer Serie gut ergänzen, den Ausstellungsraum gut bespielen? Meist geht es ja um konkrete, mir bekannte Räume wie die der Galerie Rothamel in Frankfurt und Erfurt. Da geht es dann schon recht konkret um Formate und Größen. Anschließend entscheide ich dann, welche Bildidee zu welcher Größe passen könnte, baue die Formate und fange die ersten Bilder an.
Für die eigentliche Ausführung nutzte ich dann eine Vielzahl von Detailbildern, meist Fotos der Reise oder Studien aus dem 19. Jahrhundert von Dahl, Oehme, Friedrich, Heinrich und anderen Romantikern. Gerade in der „Zeit des abnehmenden Lichts“ haben die Abend-/Morgenhimmelbilder von Caspar David Friedrich eine unheimliche Ausstrahlung auf mich, sodass ich schon mehrmals diese Lichtstimmungen für eigene Werke verwendet habe – am offensichtlichsten bei der Arbeit Midnight, bei der ich einen Friedrich-Himmel mit einer kargen isländischen Vulkanlandschaft verknüpft habe.
N.K.: Was neben der Landschaftsmotivik viele Ihre Bilder durchzieht, ist die Verbindung von organischen Naturgegenständen und abstrakt-geometrischen Farbflächen und Lichtkörpern, die in Ihren Kompositionen in Erscheinung treten wie beispielsweise in der schon angesprochenen Arbeit Cloud. In dieser materialisiert sich eine mächtige gelbe Blitzwolke über dem Gebirge. In anderen Werken sind es schraffierte Lichtstrahlen und leuchtende Flächen- oder Körperkonstrukte, die Licht in ihre Umgebung emittieren. Verbindet sich damit eine bestimmte Naturauffassung oder vielleicht sogar ein Ausdruck von Naturwahrheit für Sie?
W.P.: Bei den Konstruktionen, Strahlen, Flächen geht es mir eher um den Kontrast zur Natur, um etwas Technisches, Heutiges, Architektonisches, auch Utopisches. Dieses Abstraktionspotential fängt meist mit seltsamen Naturerscheinungen, Wolkengebilden und Farbspielen in der Landschaft selbst an, verselbstständigt sich aber zu eigenständigen Gebilden. Dabei geht es darum, die Harmonie in der Landschaft irgendwie zu brechen. Gleichzeitig werden diese Elemente natürlich Teil der Szenerie und stehen damit irgendwie auch wieder in der Tradition des Erhabenen.
N.K.: Sie selbst haben gerade schon die Brechungen in Ihren Landschaftskompositionen angesprochen. In Ihren jüngeren Werken begegnen wir als Betrachtende nicht nur einer unmittelbaren, sondern oftmals technisierten Natur, die in Verwertungs- und Produktionsprozesse mit einbezogen zu sein scheint. Welche Rolle spielt diese starke Verankerung ökologischer Prozesse mit oftmals romantischen – im Sinne von unverstellten – Vorstellungen über Natur und welche dahingehenden Brechungen und Verwerfungen fokussieren Sie, wenn gezeichnete Schnitte zum Beispiel Pflanzen im Bildraum durchschneiden, diese als Bouquet und wie durch Cellophan verpackt ansichtig oder hinter Scheiben gezeigt werden und dadurch wie in kristallinen Strukturen konserviert wirken?
W.P.: Diese Deutung finde ich interessant, die Beschäftigung mit Waldboden- und Blumenstillleben fußt aber eher in dem Bedürfnis, nach den großen weiten Landschaften der Islandserie wieder auf die Nähe zu fokussieren. Die Serie entstand nicht zufällig in der Coronazeit mit ihrem häuslichen Biedermeier der Lockdowns, verbunden mit der Sehnsucht nach einem schönen Galerie- oder Museumsbesuch. In der Serie habe ich mich ein bisschen in ein Museum „hineingeträumt“.
Zudem hat die Serie einen starken musikalischen Bezug. Der große Vorteil am Künstlerdasein ist ja, dass man bei der Arbeit die ganze Zeit Musik hören kann. Ich bin nicht nur ein großer Fan von Bands wie Radiohead, Tocotronic, Interpol und My Morning Jacket, sondern höre auch viel klassische Musik, vor allem Symphonien von Bruckner, Mahler, Beethoven. So hat die Serie für mich auch etwas Bühnenhaft-Inszeniertes, was vielleicht am Ehesten in den Arbeiten Lemon Stage (2021) und Allegro (2021) zum Ausdruck kommt.
Ihre Deutung ist trotzdem interessant, weil ich den Aspekt des Kristallinen, Zerbrechlichen, Verpackten selbst kürzlich in einer Konzeptbeschreibung verwendet habe. Es geht da um die neue Serie von Regenwaldlandschaften. Im März/April 2022 konnte ich eine schon lange geplante Reise nach Ecuador verwirklichen. Im Moment arbeite ich an neuen Bildern, die nach den Eindrücken der Reise entstehen. Beim Thema Regenwald schwingt natürlich das Thema des gefährdeten Biotops, der Zerstörung immer mit. In dem Sinne ist der Anschein des Gläsernen, Kristallinen, der Aspekt des Zerbrechlichen hier sehr passend.
N.K.: Ich möchte einen Aspekt dieser Deutung noch etwas ausführen: Unberührten Naturraum gibt es heute kaum noch. Wälder existieren beispielsweise zumeist nicht mehr frei von Wegen, Unrat und Anzeichen forstwirtschaftlicher Einflussnahme – also generellen menschlichen Eingriffen und Hinterlassenschaften. In Ihren Werken scheint dieses Verhältnis von Unberührtheit und dem Eingriff des Menschen durch die besagten Brüche ausbuchstabiert zu werden. Inwieweit ist diese Auffassung von Naturraum auch als Kritik an Vorstellungen von Natur zu lesen, die oftmals romantisiert inszeniert wird, also ohne zivilisatorische Rückstände? Sehen Sie die Thematisierung dessen in der Kunst auch als Metaebene, um Diskussionen um Umwelt und Naturwahrnehmung sinnlicher zu führen?
W.P.: In der Landschaft interessieren mich gerade die Gegenden die menschenleer und scheinbar unberührt von unserem Wirken existieren. Das sind abgelegene Hochebenen in den Alpen, die moosigen Schluchten der Sächsischen Schweiz, die wirklich sehr menschenleeren Vulkangebirge und Ebenen Islands oder die Regenwälder und Vulkanebenen Ecuadors. Diese einsamen Gegenden üben eine große Anziehungskraft auf mich aus als Motiv, denn dort bekommt man zumindest eine Ahnung davon, was es heißt, dass eine Gegend einfach nur Gegend ist, wie sie vor der Zivilisation da war und auch nach der Zivilisation einfach da sein wird und ein wohliger Schauer überkommt mich dabei. Doch in Wirklichkeit ertrage ich diese Einsamkeit gar nicht so gut. Muss ich deswegen vielleicht immer etwas Technisches, einen Bruch, eine Spur der Zivilisation hineinerfinden? Sicher sind es in meinem Fall auch Nachwehen des idealistisch-utopischen Denkens des 20. Jahrhunderts, welches ich in meiner Kindheit noch voll mitbekommen habe (DDR-Sozialisation, Bücher, Geist der Technik) und welches nun in den Jubelrufen über Digitalisierung und Künstliche Intelligenz scheinbar wieder aufflammt. Die eigene kindliche Begeisterung für technische Lösungen der Probleme der Menschheit, das schon fast totgeglaubte Fortschrittsdenken lebt nun in anderer Gestalt wieder auf. Für mich ist das faszinierend und abschreckend zugleich, bietet aber zumindest mehr Hoffnung als der allgemeine Pessimismus und die Lust an der Apokalypse des ökologischen Zeitgeistes. In dem Sinne ist der Bruch in meinen Bildwelten vielleicht doch eher Ausdruck eines inneren Kampfes mit der eigenen romantisierenden und harmoniebedürftigen Künstlerseele.
N.K.: Ebenfalls sehr charakteristisch für Ihre Arbeit scheint mir die Technik zu sein, mit der Sie arbeiten: Sie zeichnen mit Pastell, zum Teil in Verbindung mit Aquarell und Kohle. Bei dieser Technik werden Pastellkreiden miteinander gemischt und in durchscheinenden Schichtungen aufgetragen. Weder in der Kunst der historischen Romantik noch in der Gegenwartskunst spielt Pastellmalerei eine vorherrschende Rolle. Sie hingegen greifen diese mittlerweile eher unterrepräsentierte Technik auf und wenden sie auf Landschaftsdarstellungen an – eine sehr neuartige Verbindung.
W.P.: Das Pastell hatte eine große Bedeutung in der Porträtdarstellung des Rokoko und hat ja irgendwie den Ruf des Süßlichen, Kitschigen aus der Welt der Hobbymalerei. Ich kam zum Pastell über Umwege. An der Burg Giebichenstein studierte ich Zeichnung und Druckgrafik von 2002 bis 2009. Ich zeichnete während des Studiums jahrelang vor allem schwarz-weiß mit Kohle und schuf Farbholzschnitte. Die Arbeit mit den Farbholzschnitten blockierte mich jedoch zunehmend. Da man in der Technik vom ersten bis zum letzten Schritt alles durchplanen muss und die sehr komplexen Holzschnitte (bis zu 50 Farben) lange Aufenthalte in der ungesunden Werkstattluft erforderten, suchte ich nach einer Technik, um in der Zeichnung farbig arbeiten zu können. Schließlich probierte ich, dünne Pastellschichten unter die Kohleschichten zu legen, was eine ähnliche Anmutung hat wie frühe kolorierte Fotografien. Das Pastell verselbstständigte sich dann immer mehr und drängte sich in den Vordergrund; die Arbeit mit der Kohle geriet in den Hintergrund. Die Pastelltechnik ist für mich perfekt, weil diese sowohl eine zeichnerische als auch eine malerische Richtung im Schaffensprozess erlaubt und durch das Matte, Erdige der Pigmente schon sehr viel für das Landschaftssujet mitbringt.
Wie Sie schön beschrieben haben, kann man ganz viele Schichten übereinanderlegen und kann damit sehr gut Transparenz und Lichtstimmungen erzeugen. Scharfe Kanten oder bestimmte Formen (wie zum Beispiel Kreise) kann man ganz einfach durch Schablonen erzeugen. Das Pastell hat eine tolle Leuchtkraft und reagiert sehr unterschiedlich auf unterschiedliche Lichtzustände (Neonlicht, Tageslicht, Lampen). Das ist immer wieder verblüffend zu beobachten, wenn sich das Licht im Atelier ändert und die Bilder auf einmal zu leuchten scheinen. In den letzten Jahren arbeite ich auch relativ viel mit dem Pinsel. Aquarellfarben und Pastelle werden dabei mit Wasser vermischt und auf die grundierte Platte aufgetragen. Am Ende muss aber alles fixiert werden, damit die Pigmente am Bildträger haften. Manche Farben verändern sich dann noch einmal und knallen richtig heraus, so bleibt der Prozess bis zuletzt spannend.
N.K.: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch mit Wieland Payer führte Nico Karge im November 2022 per E-Mail.
Wieland Payer wurde 1981 in Erfurt geboren und lebt heute in Dresden. Er studierte an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle (Diplom, 2009), der Accademia di Belle Arti in Rom (Erasmusstipendium) und am Royal College of Art in London (Stipendium der Studienstiftung und des DAAD, Master, 2011). Seine Arbeiten wurden seitdem in einer Vielzahl von Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, so auch kürzlich im Museum Schloss Wilhelmsburg, Schmalkalden (2022), im Jenaer Kunstverein (mit Doris Ziegler, 2022) und in der Galerie Rothamel, Erfurt/Frankfurt am Main (2021/2020). Weitere Informationen über Wieland Payer finden sich auf seiner Webseite.