Der Progressionsimpuls des Fragmentarischen
Sandra Kerschbaumer: Im Secession Verlag Berlin erscheint seit Sommer letzten Jahres die Handliche Bibliothek der Romantik. Sechs Bände mit Texten aus dem ausgehenden 18. und dem aufsteigenden 19. Jahrhundert liegen vor, neun weitere werden folgen. Sie sind einer der Herausgeber der Reihe. Warum haben Sie gemeinsam mit Ihren Kollegen und Kolleginnen beschlossen, dass Leser heute eine „Bibliothek der Romantik“ brauchen?
Roland Borgards: Der Impuls zur Reihe kam bemerkenswerter Weise vom Verlag, von den Verlegern Joachim von Zepelin und Christian Ruzicska. Nicht wir Wissenschaftler, sondern zwei Buchmenschen hatten also zuerst den Eindruck: Leser und Leserinnen brauchen heute eine „Bibliothek der Romantik“. Diesen Eindruck teilen wir, insofern die romantische Literatur uns Heutigen – und damit meine ich nicht die enge Community der Wissenschaften, sondern die weite Welt der Lesefreudigen – so fern und so nah zugleich ist. Fern liegt die Romantik schon schlicht deshalb, weil sich die Welt in den 200 seither vergangenen Jahren in vielerlei Hinsicht radikal geändert hat; auch die literarischen Formen und Ausdrucksweisen können allen, die noch nicht viel romantische Leseerfahrungen gesammelt haben, mittlerweile recht fremd vorkommen. Doch gleichzeitig ist die Romantik uns auch sehr nah. Das gilt schon geistes- und kulturgeschichtlich, insofern die Romantik, sehr allgemein gesprochen, den Übergang von der Aufklärung in die Moderne moderiert, oder anders formuliert: Mit der Romantik beginnt unsere Gegenwart. Deshalb hinterlassen romantische Texte beim Lesen so oft einen ambivalenten Eindruck: Obwohl sie so fremd wirken, erzählen sie uns doch etwas über uns selbst. In diesem Sinn sind romantische Kunstwerke unheimliche Dokumente unserer eigenen Herkunft. Sich solchen Dokumenten zuzuwenden, ist – im Sinne einer kulturellen Selbstanalyse – sehr lehrreich, und es kann zugleich – weil es einfach so viele so gute Texte aus dieser Zeit gibt – sehr vergnüglich sein.
S.K.: Und warum soll es eine „handliche“ Bibliothek sein?
R.B.: ‚Handlich‘ ist die Bibliothek zunächst genau deshalb, weil sie Vergnügen bereiten soll. Diese Bücher wollen gelesen werden, sie sind zum Blättern da, zum Mitnehmen, zum Nebenherlesen, zum Weiterreichen, zum Querlesen, zum Stöbern, zum Schenken. ‚Handlich‘ sind die Bücher damit auch in einem ganz konkreten Sinn: Sie liegen gut in der Hand. Zugleich aber meint das ‚Handliche’ nicht nur die einzelnen Bücher, sondern auch die gesamte Bibliothek, die nicht auf ein vollständiges, scheinbar objektives Bild der romantischen Literatur zielt, sondern eine zwar wohlkalkulierte, aber doch dezidiert offene und spielerische Auswahl romantischer Themen vorschlägt – und nur deshalb auch als Bibliothek ‚handlich‘ bleiben kann.
S.K.: Sie nennen die Auswahl „offen“ und „spielerisch“ und tatsächlich überraschen ja einige der Bandtitel („Tiere“, „Teufelsgeschichten“, „Handarbeit“) ebenso wie die Vielfalt der Textsorten (Abhandlungen, Erzählungen und ganze Romane), ihre zeitliche Reichweite und die Unterschiedlichkeit der Autorinnen und Autoren. Auch wenn man eine große Offenheit möchte – auswählen muss man doch und damit eine Festlegung treffen, indirekt bestimmen, was ‚romantisch‘ ist und was nicht mehr in diese Bibliothek gehört.
R.B.: Solche Festlegungen wollen wir vermeiden. Darin ist die Handliche Bibliothek der Romantik selbst romantisch: Sie versteht sich nicht als eine vollständige, nicht einmal zwingend als eine repräsentative, sondern als eine fragmentarische Sammlung – und auf diese Weise kann sie dann doch wieder repräsentativ sein für die Romantik. Eigentlich wäre das auch ein schöner, programmatischer Reihentitel gewesen: „Fragmentarische Bibliothek der Romantik“. Das hätte noch deutlicher gemacht, dass wir mit unserer Bibliothek an romantische Bibliotheksphantasien anknüpften, wenn auch im Miniaturformat von nur 15 Bänden. Was wir anbieten, das sind also lediglich Fragmente einer Bibliothek der Romantik. Damit legen wir zwar in ein paar einzelnen Fällen fest, was der Romantik zuzurechnen sein könnte, wir schließen aber nichts aus. Ganz im Gegenteil: Was wir in Gang setzen wollen, ist, in einem weiteren romantischen Verfahren, eine progressive Erweiterung der Bibliothek. Diese Erweiterung vollzieht sich – erneut romantisch gedacht – zunächst in der Imagination der Lesenden: wenn schon „Tiere“, wieso dann nicht auch „Pflanzen“, wenn schon „Teufels-“, wieso dann nicht auch „Heiligengeschichten“, wenn schon „Handarbeit“, wieso dann nicht auch „Bergwerkserzählungen“, wenn schon Vielfalt der Textsorten, wieso dann nicht auch Drama, Philosophie und überhaupt: viel mehr Lyrik?
S.K.: Ja, wo bleibt die Lyrik? Wirklich greifbar und gut ist derzeit nur ein Reclam-Heftchen. Zwar handlich, aber nicht schön. Und es ist doch auch und gerade die Lyrik Brentanos, Eichendoffs, Heines, die romantische Töne bis in die Gegenwart getragen hat.
R.B.: Im Zentrum steht erzählende Literatur, und zwar ganz einfach, weil dies den gegenwärtigen Lesegewohnheiten entspricht. Und bei diesen Gewohnheiten wollen wir ansetzen, damit wollen wir beginnen, damit wollen wir Leserinnen und Leser locken – um dann umso entschiedener mit Ungewohntem und Unerwartetem konfrontieren zu können. Und so findet die Lyrik jetzt auch langsam Eingang in unsere Romantische Bibliothek. Im Band zur Handarbeit spielt sie zum Beispiel schon eine zentrale Rolle. Aber all das ist dynamisch angelegt: Wir haben von Anfang an imaginäre Erweiterungen der Bibliothek mitgedacht, und genau das haben wir auch schon sehr oft als Rückmeldung bekommen: Vorschläge zu weiteren Bänden. Der Progressionsimpuls des Fragmentarischen wirkt. Und wenn es nach uns geht, dann würden wir diesen imaginären Impuls auch realisieren wollen: in weiteren 15 Bänden, die dann wieder weitere 15 Bände anstoßen, die dann wieder weitere 15 Bände auslösen würden, die dann … . Ob es zu dieser Realisierung kommt und wie weit sie trägt, darüber entscheiden indes nicht wir, sondern der Buchmarkt (und selbst das ist eine romantische Volte).
S.K.: Ihre Idee einer progressiven Bibliothek ist bestechend schön und doch sagt mir eine skeptische Stimme, dass es schwer sein muss, eine Öffnung zu betreiben, die nicht ins Uferlose geht. Auf der anderen Seite ist klar, dass jeder Zugriff auf romantische Texte einen begrenzenden Charakter hat und nur ein reduzierendes Angebot unterbreiten kann. Oder um es mit Friedrich Schlegel zu sagen: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ Aus diesem Dilemma speist sich wohl auch der ewige Streit von Wissenschaftlern, in dem es darum geht, ob es eine oder unzählige ‚Romantiken‘ gibt, ob und wie diese überhaupt zu bestimmen seien. Was also weiß eine ideale Leserin, wenn sie in Ihrer Bibliothek geblättert und gestöbert hat, über die Romantik? Hat sie eine Vorstellung davon, was romantische Texte von anderen unterscheidet? Oder auch davon, was die Gegenwärtigkeit dieser Texte begründet, ihre Aktualität?
R.B.: Sie haben natürlich recht: Ohne eine implizite Vorannahme darüber, was romantisch ist, kommen auch wir nicht aus, und wir nehmen dabei ganz offensichtlich auch spezifische Akzentuierungen vor. Welches Bild könnte eine Leserin unserer Bibliothek also von der Romantik gewinnen, neben dem Eindruck der Vielfalt, Intensität und fremder Vertrautheit? Ein Vorschlag: Dass romantische Texte sehr häufig um zwei Fragen kreisen, die uns auch heutzutage beschäftigen: Wer bin ich? Und wer sind wir? Die Frage nach dem Ich zielt auf die Psychologie, auf die von innen wirkenden Triebe wie auf das Getrieben-Sein von den äußeren Zwängen der Gesellschaft: Wo gehöre ich hin, wie soll ich mich halten, was für Haltungen gibt es in dieser an Halt mitunter so armen Welt? Die Frage nach dem Wir zielt auf das Verhältnis zwischen dem Vertrauten und dem Fremden: Was beziehen wir ein, was grenzen wir aus, wie entstehen kulturelle und politische Gemeinschaften, welche Risiken gibt es dabei, welche Sehnsüchte, welche Kosten, welchen Profit und welche Abgründe? Mit diesen Fragefeldern machen die romantischen Texte dreierlei: Sie beobachten sehr genau, sowohl im Modus der psychologischen Introspektion als auch im Modus der gesellschaftlichen Analyse. Sie experimentieren sehr offen, mit dem Denken, mit Selbstbildern, mit ästhetischen Verfahren, mit Geselligkeitskonzepten. Und sie reflektieren all das sehr nachdrücklich: Jede Position, die sie beziehen, wird immer als Position kenntlich gemacht. Es geht nie nur darum, wie etwas ist, sondern immer auch darum, wie sich etwas zeigt. Das ist das reflexive Grundelement der Romantik, die romantische Ironie. Was weiß die ideale Leserin also nach dem Stöbern in der Bibliothek? Eines gewiss: dass romantische Texte genau beobachten, waghalsig experimentieren und nachdrücklich reflektieren.
S.K.: Können Sie das an Beispielen aus dem von Ihnen herausgegebenen Band „Tiere“ zeigen? Inwiefern spiegeln sich die Selbstreflexivität und Experimentierfreude, gesellschaftliche Analysekraft und psychologische Innenschau in den versammelten Beiträgen etwa von Johann Matthäus Bechstein über Empfehlende Eigenschaften der Nachtigall, Edgar Allen Poes Der schwarze Kater oder Achim von Arnims Warnung gegen weibliche Jägerei?
R.B.: Wenn Bechstein jede einzelne Lautäußerung der Nachtigallen notiert, dann ist das zunächst einmal ein schönes Beispiel für die romantische Haltung der genauen Beobachtung. Nun könnte man hier einwenden, dass Bechstein als Naturwissenschaftler schreibt, die Präzision der Beobachtung also wenig mit Literatur zu tun hat. Dann aber wagt Bechstein ein bemerkenswertes Experiment: Er notiert den Nachtigallengesang in Form eines Lautgedichts, das klingt, als habe Hugo Ball es geschrieben. Und er flankiert dieses Experiment mit Gedanken zur Virtuosität, zum Verhältnis von Kunst und Kunstfertigkeit, kurz: mit literarischer Selbstreflexivität. In Poes Horrorgeschichte wiederum öffnen sich in der Auseinandersetzung eines Mörders mit seinem schwarzen Kater die dunklen Abgründe psychopathischer Triebhandlungen. Und Arnims kleine, raffinierte Groteske über eine kurzsichtige, aber jagdwütige Gräfin entfaltet das ganze Drama einer sich selbst um ihre Legitimität bringenden Adelsherrschaft, einer gründlich misslingenden und dieses Misslingen aber doch missachtenden Translatio Imperii, bei der der Sohn am Ende nicht etwa mit der Würde des Souveräns belehnt, sondern von seiner Mutter angeschossen wird. Und auch diese Geschichte endet mit einer selbstreflexiven Volte: mit dem unmarkierten und unautorisierten Zitat eines Goethe-Gedichts, das Goethe selbst damals noch gar nicht publiziert hatte.
S.K.: Ihre Sammlung wirkt horizonterweiternd, bringt die Gedanken ins Schweifen und trägt sie weit – auch zu weniger bekannten Texten wie dem Roman O.T. von Hans Christian Andersen. Das kann auch den Impuls auslösen, die Gedanken wieder zusammenzuziehen. Dabei fällt mir ein, dass es eine Textsammlung, die einen engeren romantischen Kreis zieht, aktuell nicht gibt und ich überlege, welche Texte man zusammenstellen könnte, wenn sich die frühe Romantik selbst erklären sollte: Fragmente aus dem Athenäum? Ausschnitte aus Schleiermachers Reden Über die Religion und Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur? E.T.A. Hoffmanns Rezension der 5. Symphonie Ludwig van Beethovens? Die Lucinde und den Ofterdingen? Briefe von Clemens Brentano an Sophie Mereau und Gedichte dieser beiden? Ihre Handliche Bibliothek der Romantik hat wirklich einen „Progressionsimpuls“! Worüber wir noch sprechen sollten ist die wunderbare Gestaltung der Bücher in dieser Bibliothek. Jedes einzelne ist durch eine Farbe strukturiert, alle Bilder des Bandes zweifarbig gedruckt: Blau sind die Texte zur Stadt. Ein Vorsatz zeigt den Ausschnitt eines kolorierten Stahlstichs des Leipziger Marktplatzes um 1850, ein Nachsatz Pariser Straßenkinder zur gleichen Zeit. Alle Einzeltexte des Bandes sind durch blaue Zwischenseiten mit illustrierenden Abbildungen getrennt und bereichert.
R.B.: Ja, das sind Bücher, über deren wunderbare Gestaltung ich mich auch jedes Mal freue, wenn ich sie in die Hand nehme. Jeder Jahrgang hat eine Farbe, das erste Jahr war rot, das zweite ist nun blau, es folgen noch gelb, lila und grün. Die Abbildungen, alle selbst aus der Zeit der Romantik, dienen nicht einfach als Illustration, sondern eher als Kommentar oder als eine zweite Stimme, die sich durch den jeweiligen Band zieht. Und die farbigen Zwischenseiten führen zu einer Rhythmisierung der Bände, sie bilden eigene metrische Muster, die sich über die Buchschnitte legen und damit auf eine eigentümliche Weise zum Blättern animieren, als habe man ein Daumenkino in der Hand, ein sich verlebendigendes Exemplar der Gattung „Buch“, genauer: der Subgattung „Handliches Buch“. Und damit sind wir wieder beim Beginn des Gesprächs: beim Impuls und bei der für dieses Projekt gar nicht zu überschätzenden Grundlagenarbeit des Verlags, der Verleger und auch des für die typografische Gestaltung verantwortlichen Erik Spiekermann. Ohne die verlegerische Risikobereitschaft und Spielfreude – beides ihrerseits romantische Tugenden – wäre eine Handliche Bibliothek der Romantik wohl nie zustande gekommen.
Das Gespräch zwischen Roland Borgards und Sandra Kerschbaumer wurde im November 2020 per E-Mail geführt.