Karl Tetzlaff , 09.12.2024

Die Bochumer Romantik Herbert Grönemeyers

Mit der vor vierzig Jahren, 1984, veröffentlichten LP 4630 Bochum begann Herbert Grönemeyers bis heute andauernde Erfolgsgeschichte als Popmusiker. Der Titelsong des Albums ist eine Hymne auf seine Heimatstadt, die ebendort bereits Volksliedcharakter angenommen hat. „Bochum, ich komm‘ aus dir / Bochum ich häng an dir / Glück auf, Bochum!“, heißt es im Refrain, der jedes Heimspiel des örtlichen Fußballvereins eröffnet. Verbunden mit dem traditionellen Steigerlied, das Grönemeyer seinem eigenen Song vorangestellt hat, schreibt er sich ein in die vom Bergbau geprägte Regionalkultur des Ruhrgebiets. In der lesenswerten Romantik-Einführung des Literaturwissenschaftlers Dirk von Petersdorff wird Bochum als popkulturelle Weiterführung einer etwa beim Salinenassessor Novalis begegnenden Romantisierung des Bergbaus aufgeführt [1] Wie durch Novalis „allgemeine und oft nur abstrakt formulierte Vorstellungen von der Liebe, von der Moral oder dem Göttlichen“ im Handeln des Bergmanns, „im Schürfen, im Beobachten der Gesteinswelt und in seinen Gefühlen unter der Erde […] fassbar“ gemacht werden, nutzt Grönemeyer hier die Bildwelt des Bergbaus, um seiner „ästhetisch eher wenig ansprechende[n]“ Heimatstadt mit gewissen ironischen Untertönen „eine Würde zu verleihen“ [2].

Diese Interpretation lässt sich erweitern, wenn man die Sichtweise von Michael Lentz hinzuzieht. Der am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig lehrende Schriftsteller, Musiker und Literaturwissenschaftler hat kürzlich ein Buch mit dem knappen Titel Grönemeyer vorgelegt, in dem er eine umfassende Analyse von Werk und Werdegang des Sängers gibt [3]. Es beginnt mit dessen Herkunftsgeschichte, bei deren Erzählung Lentz sogleich auf Bochum zu sprechen kommt, dem er eine gleichsam existenzialistische Wendung gibt [4]. „Bezieht man das ‚Ich‘ des Liedes nicht nur auf Herbert Grönemeyer, sondern auch auf die Bergmänner“, schreibt er, „bekommen die Wendungen ‚ich komm aus dir‘ und ‚ich häng an dir‘ im Hinblick auf den im Lied besungenen Bergbaukontext (‚Pulsschlag aus Stahl‘, ‚Grubengold‘, ‚hochgeholt‘) eine spezifische metaphorische Färbung gefährdeter Existenz.“ (11) Die mit dem täglichen Einfahren in den Berg verbundene Gefahr sei nämlich in der Kindheitswelt des Sängers ständig bewusst gewesen, was sich ihm tief eingeprägt habe.

Direkter noch als in Bochum wird dieses Gefährdungsbewusstsein aber in Unter Tage (Dauernd Jetzt, 2014) zum Thema. Aus der Grenzsituation der Bergmänner, die sich „tief im Dunkel“ des Stollens blind und wortlos aufeinander verlassen können müssen, macht der Song ein Sinnbild der in Notlagen auf ihr Wesentliches reduzierten conditio humana: „Ob ich dich mag / hat hier kein Gewicht / wichtig ist / du ziehst mich ans Licht“, „In der Not / sicher und gefasst / Hauptsache ist / auf dich ist Verlass“, heißt es im Text. Anhand des Seins unter Tage gewinnt das abstrakte Ideal einer bedingungslosen zwischenmenschlichen Verlässlichkeit an Anschaulichkeit. Darin wiederholen sich Motive der oben erwähnten romantischen „Bergbau-Mythologie“ [5]. Lentz nennt Unter Tage aufgrund seiner „mehrdeutige[n] Symbolik und Metaphorik“ sogar ein „Bergmanns- und Liebeslied zugleich“ (184), was die These unterstreicht, dass es in diesem Song um mehr als die Schaffung eines Genrebilds geht.

Das Stichwort ‚Liebeslied‘ weist mithin voraus auf den Fokus der folgenden Ausführungen. Was gerade exemplarisch anhand von Bochum und Unter Tage dargelegt worden ist, nämlich dass in Grönemeyers Songs genuin romantische Motive wiederbegegnen, werde ich nun an weiteren Beispielen vor Augen führen [6]. Ich beschränke mich im Zuge dessen auf ein für Grönemeyers Werk zentrales Thema: die Liebe. Meine hauptsächliche Referenzgröße ist dabei das bereits erwähnte Buch von Michael Lentz, das eine wirklich beeindruckende Pionierarbeit im Blick auf Grönemeyers Werk geleistet hat.

 

Nachtstücke

„Kein Wort beschreibt die sehnende Sucht“, singt Herbert Grönemeyer in Neuer Tag, einem Song, den er seinem 2014 erschienenen Album Dauernd Jetzt als Bonustrack beigegeben hat. Der Liedvers artikuliert ein romantisch anmutendes Wissen um die Grenzen des Sagbaren. Es gibt demnach Erlebnisdimensionen, die sich sprachlich nicht fassen lassen. Dazu gehört „die sehnende Sucht“, deren überschießende Eigenart jedes noch so gut gewählte Wort übersteigt. In Neuer Tag richtete sie sich auf ein Du, dem das singende Ich einst in Liebe verbunden war. Nun bleibt ihm einzig die Erinnerung an das unumkehrbar Vergangene, von der es sich des Nachts plötzlich erfasst findet. Als „ein banges Ziehen“, das „tief unten in mir“ einsetzt, wird der nächtliche Erinnerungsschub geschildert. „Es ist ein schmaler Moment / der zartbitter brennt / der aber auch heilt und auch bestärkt“. Dem Erlebten haftet also eine Zweideutigkeit an. Einerseits sieht sich Grönemeyers Ich mit der Unwiederbringlichkeit des vermissten anderen konfrontiert, dessen Leerstelle wie „ein klares Schwarz […] in mir verharrt“; andererseits wird es einer unverlierbaren Beziehung zur verflossenen Liebe inne: „Aber ich trag immer das Bild in mir“. Durch nichts und niemanden kann ungeschehen gemacht werden, was das innere Bild festhält: „dass du warst / mich wähltest / dich anvertrautest / auf mich zähltest / dass mich deine Liebe traf“. Aus der Gefühlsintensität vergangener Verbundenheit erwächst jene überschießende Sehnsucht, die in ihrer Unfasslichkeit keine Grenzen kennt und im Song gleichwohl nach passfähigem Ausdruck sucht.

Dass in Neuer Tag offenkundig „Topoi der Romantik“ aufgegriffen werden, lässt sich im Grönemeyer-Buch von Michael Lentz nachlesen (323). Auf diesen Song, dessen Text aus seiner Sicht „einer der eindringlichsten von Herbert Grönemeyer“ (323) ist, kommt er im Zusammenhang eines der Liebesthematik gewidmeten Kapitels zu sprechen [7]. Lentz entdeckt in der Darstellung der „Nacht als Erinnerungs- und Sehnsuchtsgenerator bei gleichzeitiger Unsagbarkeit der Sehnsucht, die sich zur ‚sehnenden Sucht‘ auswächst“ (ebd.), eine unverkennbar romantische Motivik wieder. Sie kommt aber auch in anderen Grönemeyer-Liedern zum Vorschein, die solche nächtlichen „Anrufungen von den Tod überdauernder Liebe“ (320) enthalten. Das spannungsvolle Nebeneinander einer Sehnsucht, die als nicht artikulierbar gilt und dennoch zum Ausdruck kommen will, findet sich dort ebenfalls wieder.

Neben Neuer Tag führt Lentz den Song Roter Mond (Dauernd Jetzt, 2014) an, der „im tranceartigen Zwischenreich von Schlafen, Träumen und Wachsein“ (321) siedelt. Wie im Eingangsbeispiel wird hier die Nacht zum Ort gesteigerter Sehnsuchtsgefühle, die sich unwillkürlich, ja schmerzhaft („Und es wogt und es reißt“, „Und es zehrt und es beißt“) einstellen und das Subjekt über die Grenzen des Endlichen hinausstreben lassen. „Und ich weiß / und ich häng / an dem Glauben, dass du an mich denkst / Und ich fühl‘ / und ich mein‘ / dass du irgendwo durch die Sterne scheinst“, singt das Ich im Refrain. Vom vergangenen Zusammensein mit jenem Du, dessen „traute[n] Blick“ und „Gelassenheit“ es erinnert, ist ihm „ein rauer Stich Unendlichkeit“ geblieben – ein Stich, der offenbar nicht verheilen will und der Akzeptanz des Vergehens entgegenwirkt.

Ein weiteres Nachtstück, das auf Grönemeyers Erfolgsalbum Mensch (2002) enthalten ist, lässt Lentz‘ aber an dieser Stelle aus [8]. Dort und hier, das kürzeste und leiseste Lied des Albums, weist jedoch vielleicht noch mehr als die anderen beiden Songs Nähen zu einem romantischen Text auf, der für den Topos der „Nacht als Sehnsuchtsgenerator“ (320) besonders einschlägig ist: Novalis‘ Hymnen an die Nacht. „Die Nacht schluckt jedes schwere Gewicht / entlässt den Tag aus der Pflicht / der Mond steht steil und tut wieder nichts / schließ‘ die Augen und denk‘ an dich“, setzt Grönemeyers Lied ein. Wie bei Novalis wird die Nacht als Außerkraftsetzung des am Tage gültigen Regelwerks eingeführt, wozu beim romantischen Dichter auch gehört, dass die „Fernen der Erinnerung“ [9] wieder nahe zu kommen vermögen, weil „unendliche[] Augen […] in uns geöffnet werden“ [10] . Was im unbarmherzig aufklärenden Tageslicht illusorisch erscheint, wird unter „dem Himmel der Nacht“ scheinbar möglich: die Wiederbegegnung mit der jung verstorbenen Verlobten („in ihren Augen ruhte die Ewigkeit“ [11]), deren Tod Novalis in den Hymnen in stark vermittelter und religiös aufgeladener Form verarbeitet hat.

Auch Grönemeyers Text, der mit einer persönlichen Verlusterfahrung, dem Tod seiner ersten Frau Anna im Zusammenhang steht, lässt die nächtliche Ahnung einer Unvergänglichkeit des Lebens (und der Liebe) anklingen. Doch der Versuch, sich „einen Traum vorzuprogrammieren“, in dem die geliebte Person wieder zurückkäme, wird dabei zunächst als vergebliches Unterfangen markiert: „Ich sollte aufhören, mein Hirn zu strapazieren / du bist dort, und ich bin hier“. Zwischen Dort und Hier klafft dem Text zufolge eine unüberwindliche Kluft. Dass das jenseitige Dort vom diesseitigen Hier aus unzugänglich ist, lässt es aber keineswegs zu einer bloßen Illusion werden. Grönemeyer bringt im Refrain des Songs eine tastende, fragende Jenseitshoffnung zum Tragen, die aus dem unaufhörlichen Interesse der Liebe am guten Ergehen des geliebten Anderen erwächst: „Ist jemand da, wenn dein Flügel bricht / der ihn für dich schient / der dich beschützt / der für dich wacht / dich auf Wolken trägt / für dich die Sterne zählt / wenn du schläfst“. Andeutungsweise wird hier die verbreitete Vorstellung eines Lebens nach dem Tode als Engel („Flügel“) im Himmel („Sterne“, „Wolken“) aufgerufen. Offen bleibt, ob jemand da ist, der nun die Aufgaben des Hiergebliebenen übernimmt, also Fürsorge, Schutz und liebevolle Zuwendung spendet. Dass so jemand da ist, darauf aber richtet sich die nächtliche Sehnsucht danach, der verlorenen Anderen weiter nahe sein zu können. Artikulationsmittel dieser „unendliche[n] Sehnsucht“, die vom „fliehenden, verlöschten Leben“ [12], wie Novalis schreibt, nicht ablassen kann und deshalb nach Ausdruck sucht, ist auch bei Grönemeyer eine religiös gefärbte Metaphorik. Sie erlaubt eine Artikulation der „sehnenden Sucht“, ohne deren endloses Streben stillzustellen, das sich nach einem unerreichbar und unaussprechlich bleibenden göttlich-absoluten „Dort“ ausstreckt.

 

Zwischen Melancholie und Glück

In den Ausführungen zu Grönemeyers Liebesliedern, die einen wesentlichen Teil von dessen Werk ausmachen, entdeckt Lentz insgesamt eine besondere Sensibilität für die unter modernen Bedingungen zunehmende Spannung zwischen einer überschwänglichen Idealisierung und der stets endlichkeitsbestimmten Realität des Liebens [13]. In ihnen würden „entgegengesetzte[] Dispositionen wie ‚Anwesenheit und Abwesenheit der/des Geliebten, Hoffnung und Verzweiflung, Kühnheit und Furcht, Wut, Respekt‘“ (299f.) zum Thema, ohne je zu einer der beiden Seiten hin aufgelöst zu werden. Dabei tradierten sie das „romantische Konzept der Liebe“, dem sein „Scheiternkönnen […] bereits eingeschrieben“ (302) sei, weshalb die ihm eigenen „Idealisierungen“ stets „in paradoxale oder aporetische Erfahrungen und solche der Instabilität, auch der Nichtmitteilbarkeit“ (300) abzukippen drohten.

Neben einer schwärmerischen Begeisterung, die sich nicht selten an Augenblicken erfüllender Zweisamkeit festmacht, sind Grönemeyers Songs deshalb häufig von einer, nach Lentz‘ Darstellung bereits in Kindheitserfahrungen angelegten, Melancholie geprägt [14] „Sehr früh“, schreibt Lentz, „hat sich ihm eingeprägt, dass Musik die Funktion haben kann loszulassen, indem sie Verlust und Schmerz benennt und ihnen eine Atmosphäre verleiht“ (21). Ein „Hauch von Melancholie“, verbunden mit dem „Bewusstsein […], dass alles, auch das Glück einmal endet“ (20), durchzieht deshalb Grönemeyers Lieder, was mal stärker nach vorn dringt, wie in den oben aufgeführten Beispielen, oder eher untergründig vorkommt. Lentz zufolge stellt die „Melancholie“ sogar „eine Qualität seiner Stimme“ selbst dar, in deren besonderer Eigenart „[v]ielleicht […] das ‚Geheimnis‘ seines Erfolgs“ liegt (8).

Doch würde das Bewusstsein der Endlichkeit allen Glücks nicht von melancholischen Stimmungen begleitet, gäbe es gar keinen Sinn fürs Unendliche [15], der sich an Momenten des Glücks entzündet hätte. „Und du denkst, dein Herz schwappt dir über / fühlst dich vom Sentiment überschwemmt / es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente / das ist, was man Sekundenglück nennt“, singt Grönemeyer in Sekundenglück (Tumult, 2018). In Mensch, dem Titelsong des gleichnamigen Albums (2002), kommt „ein transitorisches Moment der Schwebe zum Ausdruck“ (110), das als „unbeschwert und frei“ tituliert wird.

Dass Unendliches, Absolutes oder Göttliches allein in solchen Augenblickserfahrungen begegnet, die sich nie in Dauerhaftigkeit überführen lassen, sondern von transitorischer Art sind, ist ein in romantischen Texten häufig begegnender Gedanke [16]. Nicht selten spielt dabei die Liebe eine zentrale Rolle, wie auch bei Grönemeyer, der im soeben zitierten Song Sekundenglück den Moment einer beglückenden Wiederbegegnung imaginiert: „An dem Tag, wenn du kommst, wird's regnen / der Frühling in mir bricht sich die Bahn / du wirst mit Zauber mir begegnen / und auf Verdacht lass‘ ich das Licht schon mal an“.

 

Romantische Liebe

Auch wenn die bei Lentz begegnende Rede von ‚romantischer Liebe‘ vorsichtig zu gebrauchen ist, weil der damit angesprochene Aufstieg der Liebe zum zentralen Medium individueller Selbsterfüllung nicht durch die historische Romantik begründet wurde, kommt dieser Topos gleichwohl nicht von ungefähr [17].  Aus Dirk von Petersdorffs Sicht wird das insbesondere durch Goethes Werther geprägte „moderne Liebeskonzept“ bei Autoren wie Friedrich Schlegel nämlich so weiterentwickelt, dass es zumindest eine spezifisch „romantische Note“ erhält [18].

Was das bedeutet, lässt sich am Beispiel von Schlegels Skandalroman Lucinde zeigen, wo die Liebe „in das Spannungsverhältnis von Bedingtem und Unbedingtem“ eingerückt und mit einem transzendentalen „Überschuss“ ausgestattet wird [19]. Schlegel erzählt dort u.a. die Entwicklungsgeschichte eines jungen Mannes namens Julius, der zunächst durch eine „Liebe ohne Gegenstand“, die „sein Innres [zerrüttete]“, bestimmt wird [20]. Erst die Begegnung mit Lucinde, die ihn erfahren lässt, „daß er ebenso unendlich geliebt“ werden kann, „wie er lieb[t]“ [21], lässt „Licht in seinem Inneren“ [22] aufkommen. Diesem hohen Wert des Liebens bzw. Geliebtwerdens für die Selbst- und Sinnfindung korrespondiert bei Schlegel mithin ein gehäufter Gebrauch „göttliche[r] Sinnbilder“ [23], um das eigentlich unfassbare Liebeserleben sprachlich zu fassen zu bekommen. „Der Gott muss in den Liebenden sein, ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung“ [24], unterstreicht Friedrich Schleiermacher in seinen Vertraute[n] Briefe[n] über Friedrich Schlegels Lucinde das Vorgehen des frühromantischen Freundes. Beiden ist ein Bewusstsein dafür gemeinsam, dass gerade im Falle von derart tiefgehenden Erfahrungen „etwas zurück [bleibt], was sich nicht äußerlich darstellen läßt, weil es innerlich ist“ [25]. Hier kommen jene „göttlichen Sinnbilder“ [26] ins Spiel, die zumindest einen annäherungsweisen Ausdruck des Erlebten ermöglichen, wenngleich der Liebe und Religion gleichermaßen zugrundeliegende „geheimnißvolle Augenblik“ der Koinzidenz von Endlichem und Unendlichem, Bedingtem und Unbedingtem als er selbst „unbeschreiblich“ [27] bleibt.

Diese negative, eine unstillbare Sehnsucht freisetzende Einsicht, von der wie gesehen auch bei Grönemeyer die Rede ist, bringt aber paradoxerweise gerade die künstlerische Arbeit in Gang. „Eigneten ihr unverbrüchliche Dauer, Garantie und Stabilität, müsste nicht über die Liebe gedichtet und gesungen werden“ (303), schreibt Lentz treffend. Von Anfang an seien demgemäß unauflösliche „Paradoxien und Aporien ein Motor von Herbert Grönemeyers Liebesliedern“ (304) gewesen. „Will jeden Moment genießen / Dauer ewiglich“, heißt es etwa in Halt mich (Ö, 1988), einem Grönemeyer-Song, der die bedingungslose Hingabe an ein Du schwärmerisch feiert: „Bin vor Freude außer mir / will langsam mit dir untergeh’n / mich Kopflos, sorglos, schwerelos in dir verlier‘n“. Doch „die Nacht ist kurz“, weiß Grönemeyers Ich zu sagen, und der aus dem erfüllten Augenblick hervorgehende Wunsch nach ewiger Dauer („Ich will mich an dir satthören / immer mit dir sein“) wird schon am Anfang des Lieds als illusorisch markiert: „Nehm‘ Träume für bare Münze / schwelge in Phantasien“.

Dass sich dieses träumerische-fantastische Schwelgen im Bewusstsein seiner Endlichkeit vollzieht und trotzdem nicht abbricht, unterstreicht den dabei obwaltenden Sinn fürs Unendliche. Gleichwohl ist der letztere zutiefst enttäuschungsanfällig, wodurch die Gefühlslage schnell ins Gegenteil umschlagen kann. „Gib mir mein Herz zurück / du brauchst meine Liebe nicht“, lautet der vielleicht bekanntestes Liedvers aus Grönemeyers Feder. Er entstammt dem Song Flugzeuge im Bauch (Bochum, 1984), den Lentz der Kategorie der „Trennungslieder, Liebesauslieder oder Antiliebeslieder“ (304) zuordnet.

 

Ironisierter Überschwang

Den Hang zum Illusionären, von dem die Liebenden mit bisweilen schmerzhaften Folgen befallen werden, kann Grönemeyer aber auch im Modus der Ironie thematisieren. Darin zeigt sich ebenfalls romantisches Erbe, denn „an der unbedingten Liebe festzuhalten, mit ihr aber ironisch umzugehen“ [28], so von Petersdorff, ist ein durch die historische Romantik vorgeprägter Umgang mit der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Liebesideals. Man versuchte auf dessen Ambivalenz durch die poetische Erzeugung einer „Einheit von Pathos und Nüchternheit“ [29] zu reagieren. Entsprechendes zeigt sich im Song Liebe liegt nicht (Zwölf, 2007), in dem Lentz „die ironisierte Summe von Herbert Grönemeyers Liebesliedern“ entdeckt, „eine Art Abgesang auf die mit der Chiffre ‚Liebe‘ verbundenen romantischen Topoi, die – immer wieder gebrochen – Bausteine seiner Lieder sind“ (316).

Liebe liegt nicht richtet sich an ein Du, das „ans Unfassbare“, „an Wunder“ glaubt und „von der zweiten Geburt / vom Neubeginn / von dem überbordenden Gefühl“ träumt. All dies soll ihm die Liebe bringen und darin wird es durchaus bestätigt: „Eines Tages steht sie aufgebaut vor dir / dir verschlägt's die Sprache / es wird dir alles leicht zuviel / und du wankst, du schwingst, genießt / Und fühlst endlich, wie du fliegst“. Andererseits aber wird der Adressat des Liedes in seinem Streben auch gebremst: „Liebe erspart dir keinen Alltag / und bricht nicht alle Wolken auf / Liebe schmeißt nicht ständig Reis / aber sie, sie macht dich leicht“. Das romantische Zugleich von Pathos und Nüchternheit kommt hier gut zum Ausdruck. Die Erwartung, für immer im außeralltäglichen Zustand des „überbordenden Gefühls“ zu bleiben, bricht sich am mühevollen Auf und Ab des Alltagslebens.

Über Lentz‘ Beispiel hinaus lässt sich zudem auf das frühe Liebeslied Anna (Total Egal, 1982) – es trägt den Namen von Grönemeyers damaliger Ehefrau – verweisen. „Anna, es fällt mir furchtbar schwer / alle Beschreibungen wirken leer / du bist nichts, was man so sagt“, lauten die ersten Zeilen des Songs. Das erwähnte Motiv der Nichtmitteilbarkeit des eigenen Gefühls scheint hier aufgegriffen zu werden. Doch die folgenden Begründungen für die Wortfindungsstörungen des lyrischen Ichs durchkreuzen die naheliegenden Erwartungen: „Du hast kein freundliches Naturell / deine Launen wechseln schnell / du küsst mich nur, wenn ich dich frag‘“. Die besungene Geliebte ist nämlich deshalb so schwer zu beschreiben, weil die gängigen Redeweisen romantischer Liebeslyrik bei ihr schlichtweg nicht funktionieren. „Anna, meine Poesie / die mochtest du noch nie / jetzt siehst du, was du davon hast“, endet dementsprechend das Lied – aber nicht ohne zuvor noch den Versuch einer Liebeserklärung gewagt zu haben: „In dich könnt ich mich immer aufs Neue verlieben / ist noch nicht mal übertrieben“. Übertriebene Gefühlsduseleien scheint die Angebetete jedoch nicht besonders zu schätzen, weshalb sie im Song nur ironisch verdeckt transportiert werden: „Ich habe dich viel lieber als es klingen mag“, heißt es im Refrain: „Ich weiß auch nicht / wie’s mit dir ist / es ist einfach unbeschreiblich“.

„Ja, finde ich jetzt nicht so toll“, quittierte die reale Anna Grönemeyer gern die an ihre Adresse gerichteten Songs ihres Mannes, wie bei Lentz zu lesen ist (301). „Er war eine Art Minnesänger, der sich wund schreibt und stundenlang unter ihrem Fenster steht“ (301), ohne jemals den richtigen Ton zu treffen. In Ich lieb‘ mich durch zu Dir (Dauernd Jetzt, 2014) wird eine ganz ähnliche Situation beschrieben: Ein Mann versucht sich „durchzulieben“ zu einer Frau, die für ihn unerreichbar bleibt, trotz größter verbaler Anstrengungen. In der letzten Strophe des Lieds hat sich der Tag längst geneigt und noch immer ist alles beim Alten: „Es sind die letzten Abendstrahlen / ich geb‘s auf zur guten Nacht / erklär‘ dir zum tausendsten Male / wie sehr glücklich du mich machst / und du zweifelst / und du zweifelst noch im Schlaf / Eigentlich sind wir bereits im Himmel / im sechsten, siebten, wo du willst / du redest uns um Kopf und Kragen / ich sitz‘ da und lausche still / es ist ganz einfach / aber einfach nicht für dich“. Das in blumige Formeln gepackte Glücksgefühl des einen prallt an den unerbittlichen Zweifeln der anderen ab, wodurch die sich in himmlische Höhen erhebende Liebeserklärung ironisiert wird.

 

Wortfindungsstörungen

Wie schwer es ist, sich in Liebesdingen verständlich zu machen, ja die „sehnende Sucht“, die man in sich verspürt, in Sprache zu fassen – davon erzählen aber viele Grönemeyer-Texte nicht nur. Auch der Vorgang ihrer Entstehung erweist sich als mühsamer Wortfindungsprozess, den Lentz in langen Passagen seines Buchs schildert. [30] „Herbert Grönemeyer vertont keine Texte, sondern vertextet Musik“ (173), schreibt er pointiert, wobei der Vorgang der Vertextung eine äußerst mühevolle „Spracharbeit“ (152) darstellt, in deren Zuge über mehrere Schritte hinweg aus einem spontanen englischen „Bananentext“ (140) schließlich die finale Endversion hervorgeht. Auch diese aber kann beim Einsingen im Studio oder auf der Bühne nochmals modifiziert werden. „‚Der Text darf mir die Musik nicht kaputt machen‘, lautet ein Credo Grönemeyers“ (105), in dem sich eine prinzipielle Scheu vor der Versprachlichung der zunächst ohne Worte musikalisch ausgedrückten Stimmungen zeigt.

Möglicherweise ist es aber gerade diese Scheu, die Grönemeyers Liedern das gewisse Etwas verleiht, weil er durch sie davor gefeit ist, seine Sicht des Lebens (und Liebens) zu vereindeutigen. Es bleibt in den Texten vieles unaufgelöst und unausgesprochen, was sich auch in ihrer bisweilen offenkundigen Unverständlichkeit [31] spiegelt. Dass bei ihm das Verhältnis zwischen den Extremen von Jenseits und Diesseits, hymnischer Emphase bzw. Glück und Melancholie, Endlichkeit und Unendlichkeit, Pathos und Nüchternheit, Unsagbarkeit und Ausdrucksdrang stets in der Schwebe gehalten wird, spricht aber nochmals für den romantischen Charakter von Grönemeyers Werk. Vielleicht wird man irgendwann von einer Bochumer Romantik sprechen.

 

Anmerkungen

[1] Dirk von Petersdorff: Romantik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2020, S. 39f. Petersdorff bezieht sich dabei auf Novalis‘ Roman Heinrich von Ofterdingen.

[2] Ebd.

[3] Michael Lentz: Grönemeyer, Frankfurt am Main 2024, S. 323. Alle im folgenden Fließtext angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Werk.

[4] Vgl. zur Herkunftsgeschichte: Lentz: Grönemeyer, S. 10–38.

[5] Petersdorff: Romantik, S. 39.

[6] Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen: Karl Tetzlaff: „‚Du fehlst‘. Ein theologischer (Rück-)Blick auf Herbert Grönemeyers Album ‚Mensch‘“, in: ZZ 23,8 (2022), S. 43–45; „Sehnsucht nach Dauer. Friedrich Schleiermacher und das romantische Streben nach erfüllter Gegenwart“ (erscheint in: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel Gesellschaft 2025); „Sekundenglück. Das romantische Motiv des erfüllten Augenblicks und seine ethische Relevanz“ (im Erscheinen); „Modern Love. Theologische Reflexionen zum spannungsvollen Verhältnis von (romantischer) Liebe und Anerkennung“, in: NZSth 66,1 (2024), S. 25–46.

[7] Vgl. Lentz, Grönemeyer, S. 297–336 („Über die Liebe“).

[8] Der Song wird aber an anderer Stelle des Buchs in den Blick genommen: vgl. Lentz: Grönemeyer, S. 277f.

[9] Novalis: „Hymnen an die Nacht“, in: Novalis Werke. Studienausgabe, hg. von Gerd Schulz, München 31987, S. 41.

[10] Ebd., S. 43.

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Vgl. Lentz: Grönemeyer, S. 297ff.

[14] Vgl. zur Melancholiethematik: Lentz: Grönemeyer, S. 20–23 u.ö.

[15] Mit dieser Formel beziehe ich mich natürlich auf das berühmte Diktum aus Friedrich Schleiermachers Reden: „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 2001, S. 80).

[16] Vgl. Tetzlaff: „Sehnsucht nach Dauer“; Bruno Hillebrand: Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute, Göttingen 1999.

[17] Vgl. zum Topos „romantische Liebe“: von Petersdorff: Romantik, S. 93–108; Tetzlaff: „Modern Love.“

[18] von Petersdorff: Romantik, S. 97.

[19] Ebd.

[20] Friedrich Schlegel: „Lucinde. Ein Roman“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 5, hg. von Hans Eichner, Paderborn 1962, S. 35. Die Entwicklungsgeschichte des Julius wird geschildert im Kapitel „Lehrjahre der Männlichkeit“, S. 35–59.

[21] Ebd., 56.

[22] Ebd., 57.

[23] Ebd., 58. Julius macht an dieser Stelle deutlich, dass seine Erzählung das ans Absolute rührende Liebeserleben nicht vollends zu fassen vermag: es bleibe „etwas zurück, was sich nicht äußerlich darstellen läßt, weil es innerlich ist“, insbesondere „[d]as Geheimnis einer augenblicklichen Entstehung oder Verwandlung“ (Ebd., 59).

[24] Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde [1800], in: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. I/3, hg. von Günther Meckenstock, Berlin/Boston 1988, S. 139 – 216, hier S. 165. Die Metapher der „Umarmung“ spielt in Schlegels Lucinde eine ebenso starke Rolle wie in Schleiermachers ebenfalls 1799 publizierten Reden Über die Religion. „[W]ir umarmten uns mit eben so viel Ausgelassenheit als Religion“, heißt es z.B. bei Schlegel („Lucinde“, S. 8) und Schleiermacher z.B. vergleicht das religiöse Ursprungserlebnis einer Koinzidenz von Anschauung und Gefühl mit einer „bräutliche[n] Umarmung“ (Schleiermacher: Über die Religion, S. 89). Viele weitere Belegstellen wären zu nennen.

[25] Schlegel: „Lucinde“, S. 59.

[26] Schlegel: „Lucinde“, S. 58.

[27] Schleiermacher: Über die Religion, S. 89.

[28] von Petersdorff: Romantik, 106. Beispielhaft kommt von Petersdorff auf Heinrich Heine zu sprechen.

[29] Ebd.

[30] Vgl. Lentz: Grönemeyer, 137ff.

[31] Vgl. zur Unverständlichkeit Grönemeyers, die man auch im Bezug auf den entsprechenden romantischen Topos auswerten könnte: Ebd., S. 193–202.

Cover des Albums „4630 Bochum“ © Herbert Grönemeyer

Michael Lentz' Buch „Grönemeyer“ © S. Fischer Verlag

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