Die Unendlichkeit. Ist Tocotronic eine romantische Band?
DvP: Die zeitliche Ordnung des Texts Prolog ist so aufgebaut, dass das Entscheidende in die Zukunft verlegt wird, die wir nicht kennen können. Auch das entspricht romantischen Ideen. Es wird gefragt: Was wird das Ereignis sein? Dieses offenbar sehr wichtige Ereignis ist noch nicht eingetreten, sondern wird nur erwartet, deshalb muss sich die Protagonistin im Video weiterbewegen. In der Zukunft aber wird etwas passieren, das auf den Begriff der Liebe gebracht wird. Ich habe mich gefragt, welchen Umfang hier der Begriff der Liebe hat. Vielleicht lasse ich mich auch zu sehr von dem Video leiten. Aber ich glaube nicht, dass nur eine Liebe zwischen zwei Menschen gemeint ist, sondern ein umfassenderer Begriff von Liebe. Was verstehst du an dieser Stelle unter Liebe?
DvL: Das Lied speziell und das ganze Album waren geprägt durch einen französischen Theoretiker, Alain Badiou. Der hat ein Buch geschrieben, das heißt Lob der Liebe und geht, ganz verkürzt gesagt, von einem kommunistischen Liebesbegriff aus. Sein Begriff von Liebe ist im kommunistischen Sinne ein bisschen eschatologisch, utopisch. ‚Die Liebe als Bühne der Zwei‘, so drückt er sich aus, ist sozusagen die Urzelle des Kommunismus. Das war unsere Idee bei diesem Album: Liebe einerseits, Kommunismus, Solidarität, Kollektivismus andererseits. Deshalb auch Das Rote Album: Rot für die Liebe, aber Rot auch für den Kommunismus.
DvP: Vielleicht können wir ganz kurz abschweifen. Es wurde im Laufe unseres Gesprächs schon verschiedentlich deutlich, wie du arbeitest. Aber ich möchte es nochmal genauer wissen. Wenn du einen Song schreibst, gehst du sehr stark vom Text aus oder von der Musik, oder entwickelt sich beides gleichzeitig? Überarbeitest du deine ersten Entwürfe sehr stark? Gibt es einen Rhythmus in den ersten sprachlichen oder musikalischen Ideen, der die weitere Ausarbeitung steuert? Wie muss man es sich in deinem Fall vorstellen, die Arbeit an einem Songtext oder an einem Song?
DvL: Es ist meistens beides zur gleichen Zeit da. Ich habe Phasen, in denen ich Songs schreibe und Phasen, in denen ich gar keine Songs schreibe. Gerade jetzt bin ich in einer Phase, da schreibe ich überhaupt gar keine Songs. Aber letztes und vorletztes Jahr habe ich lange Phasen gehabt, in denen ich viele Songs für ein neues Album geschrieben habe. Das sind dann ein bisschen ‚manische‘ Phasen. Man ist die ganze Zeit in der Welt der Songs drin, jedes einzelnen Songs, aber auch des Songzyklus, den man erarbeiten möchte. Das ist wie ein Puzzle. Man kann sich das wirklich so vorstellen: ein Puzzle, mit 1000 oder ich-weiß-nicht-wie-vielen Teilen, liegt auf dem Tisch, und immer, wenn man gerade Zeit hat, fügt man ein Teil hinzu. Man läuft zufällig daran vorbei, und dann fällt einem was auf.
Ich bin leider über die letzten Jahre ein ziemlicher Frühaufsteher geworden. Ich versuche dann oft, ganz früh am Morgen, mit dem ersten Morgenkaffee etwas zu schreiben. Das gelingt auch oft ganz gut, weil man noch diese versponnenen Nachtgedanken im Kopf und noch nicht so viel Lärm und Gebrüll und Kram mitbekommen hat. Diesen Morgentau versuche ich oft zu pflücken. Dabei passieren einem dann manche Songs einfach. Das ist das, was ich vorhin meinte, man muss eigentlich passiv werden und lernen, etwas mit sich geschehen zu lassen. Man wacht morgens auf und hat irgendwas im Kopf. Oft merke ich dann, in den Texten kommen Sachen vor, an die ich mich fast nicht mehr erinnern kann, die ich aber irgendwie unbewusst aufgeschnappt habe. Zum Beispiel dieser Satz von Baudelaire: „Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile“, der an sich schon total geil klingt. Deshalb bleibt der im Kopf. Beim Schreiben wird der dann, vielleicht unbewusst, wieder rausgezogen. Was für ein traumhafter Vorgang! Ein bisschen wie automatisches Schreiben. So puzzelt man sich dann zurecht. Und manchmal natürlich, wie man es vom Puzzle her kennt, betrügt man auch ein bisschen und haut auch mal auf eines drauf und sagt: „Jetzt pass! Das passt schon so!“
DvP: Und nochmal zur Musik. Es scheint so, als hättest du zuerst die Sprache im Kopf – und dann kurz danach und im Sprachprozess die Musik, oder erst deutlich später?
DvL: Also, ich gehe dann morgens hin und nehme mir die Gitarre; die steht schon da, weil ich meistens abends lange noch dran rumgeklimpert habe. Dann habe ich Melodien im Kopf und begleite mich quasi gleich schon zu diesen fixen Ideen. Ich kann das dann tatsächlich auch relativ rasch aufschreiben und fertigstellen. Das sind jedenfalls immer die besten Songs, wenn man merkt, das geht wirklich innerhalb von fünf Minuten. Ich meine, der Song ist ja keine lange Einheit, meistens nur drei bis fünf Minuten. Wenn man dann im ‚Flow‘ ist, kann man das schon in zehn bis zwanzig Minuten hinkriegen.
DvP: Aber nur, weil der Song kurz ist, wird es nicht leichter, ihn zu schreiben.
DvL: Nee, nee, überhaupt nicht. Aber ich glaube, vieles von dem, was man liest, was man wahrnimmt, Filme, Bilder, Literatur oder so, lagert sich sedimenthaft ab und löst sich dann oft im Schlaf wieder, sodass eine bestimmte Sache wieder nach vorne tritt, ins Bewusstsein. Dann gibt es epiphaniehafte Momente, in denen es ‚klick‘ macht, und der Song ist plötzlich ganz schnell da.
DvP: Schreibst du ihn mit der Hand auf oder schreibst du in ein Gerät?
DvL: Ich schreibe das mit der Hand auf und sing das ganz oft. Seit neustem bin ich wahnsinnig glücklicher iPhone-Nutzer, denn das hat diese SprachMemo-Funktion, mit der kann ich einfach die Lieder, die ich geschrieben habe, aufnehmen, mit Gitarre und Gesang gleichzeitig. Das ist wie ein Mini-Studio. Die Aufnahmen verschicke ich dann an die anderen Bandmitglieder. Also nicht morgens um acht, da lasse ich sie noch in Ruhe, aber dann um elf. Oder ich gehe zwischendurch noch mal einkaufen und höre es mir noch mal an, ob es nicht vielleicht Mist war. Dann schicke ich es rum und die anderen reagieren darauf: Daumen hoch oder Daumen runter. Wenn es gut ist, gibt es ein Lektorat, das ist ganz wichtig. Meist übernimmt das unser Bassist, Jan Müller, weil er sich sehr für deutsche Texte interessiert. Vielleicht kennen ihn manche auch als Podcasthost von Reflektor. Er ist ein sehr aufmerksamer Musik- und vor allem Texthörer. Der sagt dann „Das könntest du aber noch besser machen“ oder „da redest du um den heißen Brei herum.“
DvP: Es werden also auch deutliche Worte gewählt.
DvL: Ja. Das ist ein sehr spannender, aber auch für beide Seiten teilweise schmerzhafter Prozess. Ich bin natürlich immer der Meinung, wenn ich einen Song geschrieben habe, morgens um elf: das ist jetzt das größte, der größte Hit, es kann überhaupt gar nicht anders sein, als das Beste, wird sich auch verkaufen wie geschnitten Brot…
DvP: Und dann kommt die Antwort, die man nicht hören will.
DvL: Und dann kommt die Antwort, die man nicht hören will.
DvP: Vielleicht passt, was du jetzt zur Entstehung gesagt hast, zu dem nächsten und auch schon letzten Song, über den wir sprechen wollen. Ich möchte einleitend einen Abschnitt zur Entstehung oder auch zur Auseinandersetzung mit diesem Song aus deinem Buch Ich tauche auf voranstellen. Das Buch trägt denselben Titel wie der Song, was wohl auch zeigt, dass dieser Song für dich eine große Bedeutung besitzt. Ich finde ihn auch wirklich herausragend. Es gibt also eine Notiz in deinem Buch: „Buckow, 28. Juni. Eine tropische Nacht. Ich schlafe tief und fest. Beim späten Frühstück lese ich ein Interview in der taz mit Christian Petzold zu seinem Film Undine, der nun coronabedingt verspätet in die Kinos gelangt. Normalerweise vermeide ich es, Interviews mit Petzold zu lesen. Er scheint immer ein bisschen zu gut über seine Filmpraxis Bescheid zu wissen. Es kommt sogar vor, dass mir seine Ausführungen den Kinobesuch vermiesen. Hier ist es anders. Er erwähnt die Erzählung Undine geht von Ingeborg Bachmann. Sofort bin ich wie elektrisiert. Lade mir die Erzählung auf meinen E-Book-Reader und beginne zu lesen. Unser Lied Ich tauche auf ist ebenfalls eine Wasserfrau-Geschichte. Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet Anja Plaschg das Duett mit mir singt? Schließlich liest sie mit ihrer schönen Stimme die Briefe Ingeborg Bachmanns an Paul Celan in Ruth Beckermanns Film Die Geträumten. Entdeckung und Verweise machen die Arbeit erst zu dem, was sie ist. Es gibt keinen luftleeren Raum, in dem sie überleben kann. Darüber bin ich sehr glücklich.“ Ich finde diese Notiz sehr erhellend, am Anfang wird eine ganz konkrete Erfahrung geschildert, und von dort geht es weiter zu allgemeinen Reflexionen. Es wird, so scheint mir, deutlich, dass Du Dich in einem Kosmos von Ideen, Gedanken, Vorstellungen, Bildern bewegst, die in deinem Kopf und deinen Empfindungen in irgendeiner Weise vorhanden sind und dann in einem Song zusammenfinden können, ohne dass ein Plan dahintersteht?
DvL: Ja, das finde ich eine sehr schöne Vorstellung. Es hat natürlich auch etwas mit der Idee zu tun, dass es keinen einzelnen, originären Autor gibt, sondern dass man selbst nur die Summe all der Erfahrungen und Lektüren und Eindrücke ist, die man gemacht hat und im Moment des Schreibens ganz viele Stimmen durch einen hindurch sprechen. Diese Art zu denken hat mir immer total eingeleuchtet, ganz unmittelbar, weil ich immer schon, wenn ich als Kind Popstar gespielt habe, mit dem Tennisschläger meiner Mutter vorm Badezimmerspiegel und einem Ledergürtel noch so bondagemäßig um, ich weiß nicht, vielleicht David Bowie imitieren wollte und dabei versucht habe, ihn durch mich sprechen zu lassen. Ich glaube, diese Idee von Imitation, davon, andere durch einen selbst sprechen zu lassen, ist ganz, ganz wichtig, weil man nur so – das ist wieder so ein Paradox – zum Eigentlichen, zur eigenen Stimme kommen kann. Und so empfinde ich das eben auch mit Liedern. Es ist am schönsten, wenn man auf Verweise stößt, an die man vorher gar nicht gedacht hat. Also man schreibt dieses Lied. Irgendwie hat das was sehr Traumhaftes. Das hat ein bisschen was zu tun mit Märchen, mit Geschichten von Wasserwesen, Wasserfrauen. Dann gibt es diesen Film von Christian Petzold, Undine, der später rauskam. Dadurch stößt man auf diese Geschichte von Ingeborg Bachmann, Undine geht, die ich auch nicht kannte vorher, ehrlich gesagt. Und dann weiß man, dass Anja, die in Ich tauche auf so toll gesungen hat, wofür ich unendlich dankbar bin, dass sie Ingeborg Bachmanns Briefe gelesen hat. Diese ganzen Verweise, Zusammenhänge, das macht mich unglaublich glücklich, weil sich da so eine Familie gebildet hat.
DvP: Das passt auch zu den Dingen, die Du vorhin erläutert hast und zu dem anderen Zitat aus Deinem Buch, wonach es einerseits ein Abgrenzungsbedürfnis gibt, aber genauso auch den Wunsch, Teil eines Zusammenhangs zu werden. Auch das wäre ein solcher Zusammenhang, in dem man sich bewegt, in dem die anderen schon etwas gesagt und geschaffen haben, das man weitersagt, damit auch zu einer der Stimmen wird?
DvL: Man muss natürlich aufpassen, dass man nicht zu eitel wird und sich in eine Reihe stellt. Darum geht es eigentlich auch nicht. Es geht auch nicht um die Aufwertung der eigenen Arbeit durch Zitate oder irgendwelche Referenzen oder so. Es macht mich einfach glücklich, dass es da Leute gibt, von deren Arbeit ich vorher gar nichts wusste.
DvP: Nochmal zu dem Song. Ich finde ihn auch deshalb sehr reizvoll, weil man einerseits versteht, worum es geht, aber gleichzeitig versteht man es auch nicht ganz. Er behält etwas Rätselhaftes. Was hat dich daran interessiert, an dieser Wasserfrau, die nur erscheint und über die schlecht gesprochen wird? Es kommt im Song zu einer kurzzeitigen Nähe, aber nicht zu einer Verführung? Lässt sich dieses Ich näher bestimmen, das dort auftaucht? Ist die Begegnung glückhaft oder gefährlich, oder beides?
DvL: Ich glaube, es war weniger das Bild einer Wasserfrau als vielmehr das Märchenhafte. Ich glaube, es hat etwas zu tun mit Tod und Jenseits. Das spielt in unseren Songs seit ‘96, ‘97 eine große Rolle, genau wie in meinem Buch Aus dem Dachsbau, weil einer meiner engsten Freunde früh verstorben ist. Mit dem habe ich so etwas wie eine Mini-zwei-Zellen-Liebeskommunismus-Jugendbewegung in Offenburg in den 70er, 80er Jahren gehabt, und später ist er dann mit uns als Band getourt, als Fahrer und Tourmanager. Er ist leider sehr früh verstorben, an einem Gehirntumor. Das war ein schockhaftes Erlebnis für mich, weil er eben erst 25 war und wir uns unser ganzes Kinderleben geliebt und gekannt haben. Es war eigentlich wie eine Liebesbeziehung. Dieses Trauma spukt immer noch in mir rum und kommt bei fast jeder Platte nochmal zum Tragen. Ich glaube, das Stück hat ganz viel damit zu tun, dass man jemanden gekannt hat, der vielleicht in irgendeiner anderen Sphäre noch um einen herum ist. Dann manchmal gibt es so eine Möglichkeit, durch eine Tür zu gehen, in diese andere Sphäre, und einen kurzen Moment von ihm zu erhaschen. Das sind natürlich Motive, wie man sie auch aus romantischen Märchen kennt, wie eben dem Undine-Märchen von, ich weiß nicht, ist das La Motte Fouqué? Es hat eigentlich eher mit Tod und Erinnerung zu tun als mit romantischer Liebe.
DvP: Es ist ja ein Duett, was grundsätzlich bestimmend für den Song ist. Aber war es wichtig, dass die andere Stimme von einer Frau gesungen wird? Könnte es auch eine andere Männerstimme sein, oder spielt die geschlechtliche Ordnung gar keine Rolle?
DvL: Ja, das hätte durchaus auch eine andere Männerstimme sein können. Das wäre vielleicht sogar dem ursprünglichen Anstoß oder dem ursprünglichen Gedanken des Textes, so wie ich ihn jetzt geschildert habe, nähergekommen, weil es eben eine Freundschaft und Liebe zwischen zwei Jungs war. Ich hatte aber von Anfang das Gefühl, das Lied hat auch irgendwie etwas mit Anja zu tun. Wir sind befreundet, Anja Plaschg und ich. Und ich dachte immer irgendwas daran, vielleicht die Harmonik oder eine bestimmte Art von Melancholie, ist fast so, als hätte man das Lied für sie geschrieben. Wenn wir es nicht aufgenommen hätten, hätte ich es ihr vielleicht geschenkt? Deshalb hatten wir dann in der Band gemeinsam die Idee, es als Duett zu machen, weil wir so was noch nie gemacht hatten. Solche Sachen sind sehr romantisch aufgeladen. Man denkt vielleicht, dass man gemeinsam ins Studio geht und dann gibt es eine gemeinsame Mikrofonierung. Das ist heute viel prosaischer. Man nimmt das auf schickt es rüber. Aber es war trotzdem, das weiß ich noch, ein total magischer Moment. Denn auch bei dem Stück war es so, dass ich grade unterwegs war, im Zug vielleicht, ich glaube, auf Lesetour. Dann hat sie es mir geschickt, ich habe es mit den Kopfhörern angehört, und ich dachte: Wow, das ist echt ein ganz großes Geschenk. Dieser magische Moment der Zweisamkeit kam dann, das muss man vielleicht dazu sagen, noch durch das Video, dass Timo Schierhorn gemacht hat, zusammen mit meiner Partnerin Jutta Pohlmann, der Kamerafrau. Da haben wir das Duett dann auch wirklich gestaged. Dabei hat man gemerkt, dass Anja nicht nur eine großartige Sängerin, sondern auch eine ganz tolle Schauspielerin ist. Das hat sie jetzt kürzlich auch unter Beweis gestellt, weil sie mit Preisen überhäuft wurde für einen Kinofilm, in dem sie die Hauptrolle gespielt hat.
DvP: Ich danke Dir für die Bereitschaft, der Romantik gründlich nachzuspüren, für Deine Geduld und Deine Offenheit. Die Romantik erschließt man sich vielleicht am besten im Gespräch, das allerdings kein unendliches sein kann.