„Feiern, wovon wir träumen“
Lichterketten hängen kreuz und quer in der Kirche. Zwischen Sofas steht ein Kaugummiautomat. Postkarten stecken an den Heizungen – von orangenen Schlauchbooten, violetten Krokussen auf Frühlingswiesen, Rüstung. Im Altarraum macht die Band einen Soundcheck: Coldplays Fix you. Der Raum füllt sich, die Musik wird durch ein Murmeln grundiert. Die Leute nehmen in den Sitzgruppen Platz, trinken eine Limo und plaudern.
„Freie Geselligkeit“ – zweckfreier Austausch unterschiedlicher Individuen – ist für den Theologen Friedrich Schleiermacher das Medium von individueller Bildung. In seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) verdeutlicht er die bildende Dimension des Austausches mit möglichst unterschiedlichen Individuen, die im jeweils anderen Menschen Identität und Differenz zu sich selbst wahrnehmen. Schleiermacher unterscheidet jedoch besonders in seinem Text Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) zwischen dieser freien Geselligkeit und der strengen und ernsten religiösen Kommunikation. Anders Friedrich Schlegel: Mit seinem Programm der Symphilosophie und der progressiven Universalpoesie fordert er dazu auf, unter anderem durch Witz und Ironie sprachlich Fülle und damit auch eine Art Unendlichkeit hervorzubringen. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei der Fantasie zu. Religion und Fantasie sind für die Frühromantik „rotierende Signifikanten einer neuen Terminologie“ sowie „einander auffangende Medien zur Darstellung einer brüchig gewordenen Wirklichkeit“. [2] Schleiermacher formuliert: „ihr werdet wißen daß Eure Fantasie es ist, welche für Euch die Welt erschaft“. [3] Ohne Fantasie gäbe es also weder Welt noch Gott. So könnte man diese zugespitzte These des frühen Schleiermacher übersetzen. Von dieser frühromantischen Programmatik finden sich Spuren in einem Hamburger Kooperationsprojekt: Greift die Wohnzimmerkirche modellhaft frühromantische Spiritualität auf?
In der Wohnzimmerkirche geht es darum individuell Sinnhaftes ins Gespräch zu bringen, ganz im Sinne der freien Geselligkeit der Fantasie Raum zu geben, eine Welt zu erträumen, wie sie noch nicht da ist. Die erschütternde Erfahrung einer brüchig gewordenen Weltwirklichkeit teilen die Besucher:innen der Wohnzimmerkirche mit Schleiermacher, Schlegel und Freunden – auch wenn die Ursachen dieser Brüchigkeit denkbar unterschiedlich sind.
An diesem Abend in Gießen werden die Besucher:innen die Postkarten von der Heizung nehmen, auseinanderschneiden und zu neuen Bildern zusammenkleben – „ver-rückt“ ist das Thema des Abends. Das Schlauchboot gleitet in Sicherheit auf der Frühlingswiese, die Bombe wird von einem Lämmchen davongetragen. Verrückt ist die Liebe, die in der biblischen Tradition Gott ist. Verrückt ist es, Platz zu machen für diese Bilder und Hoffnungen, für diese ganz und gar fantastischen Bilder.
Spielerisch widmen sich die Besucher:innen schließlich den großen Fragen des Lebens, mit denen sie aus dem Kaugummiautomat gefüttert werden. Denn nur wo der Mensch spielt, ist er. In dieser Gemengelage aus Fantasie und Spiel erhält eine Sehnsucht Raum, die eine frühromantische Tiefendimension hat. Sie befindet sich in der Schwebe zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit. „Was willst du unbedingt mal verrücken in deiner Wohnung/ in deinem Leben/ in dieser Welt?“ So lautet eine der Fragen, welche die Teilnehmerinnen an diesem Abend aus dem Fragomaten ziehen. Die Antworten reichen von „Gemüsebeet“ bis „Partnerschaft“. Am Ende der Wohnzimmerkirche, die der Bewegung einer klassischen Liturgie folgt, steht der Segen. Er klingt nach Coldplay - „Lights will guide you home and ignite your soul….I will try, to fix you.” Wer an diesem Abend das segnende „I“ ist? Auf welcher Seite einer Kippfigur zwischen hoffendem Entwurf und frühromantischer Ironie die Antwort auf die Fragen liegt? Beides ist eine situativ zu treffende Entscheidung des antwortenden Individuums. Vielleicht liegt sie auch in der Mitte – und bleibt in der Schwebe.
Anmerkungen:
[1] Emilia Handke: „Feiern, wovon wir träumen! Das Hamburger Kooperationsprojekt ‚Wohnzimmerkirche‘“, in: https://www.feinschwarz.net/wohnzimmerkirche/, abgerufen am 15. Juli 2022. Das Hamburger Team an dem unter anderem die Pastorin Emilia Handke und die Schriftstellerin Susanne Niemeyer beteiligt sind, hat das Konzept der Wohnzimmerkirche entwickelt, das mittlerweile an unterschiedlichen Orten in Deutschland auf die ein oder andere Weise gefeiert wird. Wir sind in Gießen, wo die Verfasserin die Wohnzimmerkirche mit einem Team aus Ehrenamtlichen als Kooperationsprojekt der Jungen Kirche und der Gesamtkirchengemeinde Gießen Mitte realisiert.
[2] Christian Senkel: „Die Macht der Phantasie und der theologische Diskurs“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung-Frömmigkeit-Ästhetik, Akten des Schleiermacher-Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. von Arnulf von Scheliah und Jörg Dierken, Berlin/Boston 2017 (SchlA 26), S. 485–508, hier S. 485.
[3] Friedrich Schleiermacher: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter Ihren Verächtern (1799)“, in: KGA I/2, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, S. 185–326, hier S. 245.