Clara Blomeyer, Katharina Hoins und Andrea Weniger , 11.09.2024

Gestern Friedrich Heute

Ein Gespräch zur Kunstvermittlung in der Gegenwart

Clara Blomeyer ist wissenschaftliche Koordinatorin des Webportals cdfriedrich.de, Katharina Hoins verantwortet an der Hamburger Kunsthalle als Projektleiterin den Datenraum Kultur – Webportal, Andrea Weniger ist dort Leiterin des Bereichs Bildung & Vermittlung

 

Katharina Hoins: Um den 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs zu feiern, arbeiten die Hamburger Kunsthalle, die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) zusammen. Die drei Häuser verfügen über die umfangreichsten Bestände an Werken Friedrichs weltweit. Ihre drei Jubiläumsausstellungen zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich in Hamburg, Berlin und Dresden stehen unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Mit umfangreichen gegenseitigen Leihgaben ermöglichen die drei Partner*innen einzigartige Präsentationen unterschiedlicher Aspekte des Werks von Friedrich. 
Alle wichtigen Gemälde und Zeichnungen Caspar David Friedrichs aus Hamburg, Berlin und Dresden an einem Ort zu versammeln, ist im realen Raum nicht möglich: Manche Gemälde sind zu fragil, um sie zu transportieren. Die Zeichnungen werden selten ausgestellt, weil sie sehr lichtempfindlich sind. Der Anspruch des Webportals cdfriedrich.de (Abb. 1) war deshalb, das zu tun, was in den Ausstellungen nicht möglich ist: sie im Digitalen zusammenzubringen.

Clara Blomeyer: Ausgangsmaterial für die Konzeption des Portals waren die digitalen Daten der Museen: Deren Onlinesammlungen sind ja durch die Digitalisierungsprojekte der letzten Dekade zu einem immense Wissensspeicher angewachsen. Wir haben uns gefragt, wie wir diese Unmengen an Informationen, den digitalen Bildbestand Caspar David Friedrichs, für unsere digitalen Besucher*innen zusammenbringen. Das Webportal, insbesondere die Chronik, ist letztlich eine hybride Anwendung dieser musealen Onlinesammlungen. In der Chronik haben wir die Werke aus den Museen ergänzt um Kontextinformationen zu Friedrich, Audioguide-Nummern und von Hanns Zischler eingesprochene Zitate Friedrichs, die individuell mit Filtern durchsucht werden können. Weitere multimediale Inhalte, z. B. von den SKD aufwendig produzierte Clips zu den Orten, an denen Friedrich seine Motive fand, werden noch hinzukommen. Hier zeigt sich, welch Synergien sich ergeben, wenn die vielfältigen, in den Museen individuell angefertigten Angebote miteinander kombiniert werden.

Das Portal ist damit informative Website über die Jubiläumsausstellungen und Vermittlungstool in einem. Drei Werke stehen besonders im Fokus: Die Digital Stories nähern sich drei Ikonen aus Friedrichs Bildwelt (Wanderer über dem Nebelmeer, Der einsame Baum und Das Große Gehege bei Dresden [1]) mit unserem heutigen Blick (Abb. 2). Sie knüpfen an Reiseerfahrungen, Sehgewohnheiten und aktuelle Herausforderungen unserer Zeit an – ganz nebenbei erfährt man da etwas über Friedrichs komplexe Bildstrukturen, Entstehungskontexte und die Rezeption der Bilder.

KH: Egal ob Selfies in der Natur, fantastische Gamingwelten oder Krisenbilder in der Presse – unser Bilderkosmos nimmt immer wieder Bezug auf ikonische Werke Caspar David Friedrichs. Fantastik und Strenge, Trauer und Hoffnung, Subjektivität und Allgemeingültigkeit, Präzision und Offenheit sind in ihnen vereint. Friedrichs Kunstwerke bieten keine Antworten, sie bieten Raum für Fragen. Wie habt ihr diese Fragen für die Vermittlung entwickelt? Welche Themen erschienen euch besonders wichtig?

Andrea Weniger: Für uns in der Bildung & Vermittlung kristallisierte sich in der Beschäftigung mit der Biographie und dem Werk Friedrichs ziemlich schnell heraus, dass es die persönlichen und weltpolitischen Krisen sowie der Klimawandel sind, die unsere Gegenwart mit derjenigen von Friedrich verbinden: Seinerzeit die politischen und gesellschaftlichen Nachwirkungen der Französischen Revolution, der napoleonischen Kriege sowie der Zeit der Restauration – heute die Bedrohung von Demokratien durch Despoten, Kriege und fundamentalistische, religiöse Anschauungen in einer zunehmend säkularisierten und technisierten Welt. Seinerzeit das aufkommende Bewusstsein für die Folgen des menschlichen Eingriffs in die Natur – heute die Klimakrise und Initiativen wie der Weltklimarat oder Fridays / Students / Scientists / Museums for Future.

CB: Noch stärker als zu Friedrichs Zeiten, in denen die aufkommenden Panoramen das größte Spektakel darstellten, befinden wir uns mit dem Iconic Turn heute in einem visuellen Zeitalter. Bilder fluten unseren Alltag, Sehgewohnheiten verändern sich. Friedrichs Bilder entschleunigen, beeindrucken durch Leere, Einsamkeit, Stille. Sie laden dazu ein, wieder ein Bild bewusst zu sehen, statt sie massenweise zu konsumieren. Friedrichs bildnerische Mittel sind dabei durchaus vergleichbar mit unseren heutigen; vorher minutiös gezeichnete Einzelmotive kombiniert er im Sinne einer zu erzeugenden Stimmung, präzise im Detail, zart in den farblichen Übergängen, subtil im Symbolgehalt. Diese Besonderheiten galt es im Portal aufzugreifen, zu veranschaulichen und zu vermitteln. Wir wollen natürlich Lust darauf machen, ein Bild mit Weile zu betrachten – darin leiten wir z. B. im Bereich Digital Stories an.

Natürlich ist nicht jede*r mit der Thematik (wie etwa der Zeit der Romantik, dem Künstler oder seinem Werk) vertraut. Deshalb war es uns wichtig, möglichst nah an die Lebenswirklichkeit der Menschen heute anzuknüpfen. In den sogenannten Shortcuts, kurzen Stories in Social Media-Manier, verbinden wir zeitlose Fragen nach Freundschaft, Wohlsein, Identitäts- und Sinnsuche mit Friedrichs Bildwelt. Und diese Fragen sind ja ursprünglich romantische gewesen. Über die hier verlinkten Werke können die User*innen direkt in die sogenannte Chronik springen und das Einzelwerk im größeren Zusammenhang sehen. Die Chronik ist das Herzstück des Portals, wo Friedrichs Bilder auf Zitate des Künstlers sowie Kontextinformationen aus Biografie, Zeitgeschehen und Rezeption treffen. Mithilfe von Filtern kann man sich Friedrich und seine Zeit ganz individuell erschließen. Das spricht besonders diejenigen an, die tief einsteigen wollen.

KH: Für das Webportal half uns die Arbeit mit fiktiven Charakteren, die potenzielle Nutzer*innen darstellen, sogenannten Personas. Bei deren Entwicklung konnten wir uns auf Vorarbeiten aus einem früheren Projekt der Hamburger Kunsthalle stützen, in dem wir in einem Community Lab verschiedene Nutzer*innen-Typen entwickelt hatten. Zwei davon, Klaus (72 Jahre, eingefleischter Kunstfan) und Hamed (23 Jahre, sportbegeistert und sonst eher keine Berührungspunkte mit Kunst) haben wir dabei mit ihren Bedürfnissen und Vorlieben in den Fokus gerückt. 

Wenn wir von den Adressat*innen und den Themen zu den Formaten gehen – könnt ihr nochmal beschreiben, was die Vermittlung im Analogen und Digitalen umfasst? Gibt es Schnittstellen zwischen der Nutzung vor Ort und dem Angebot des Webportals oder auch klare Abgrenzungen oder unterschiedliche Funktionen?

AW: Vor Ort war es uns besonders wichtig, analoge und digitale Vermittlung gekonnt zu kombinieren, also hybrid zu agieren und die Ausstellung überdies sowohl durch Menschen als auch durch Medien zu vermitteln. So gab es im Viertelstundentakt geführte Ausstellungsrundgänge für gebuchte Gruppen, Audiospuren für Erwachsene und Kinder, Audiodeskriptionen für sehbehinderte und blinde Menschen – in Kombination mit Tastkopien – sowie Videos in Deutscher Gebärdensprache. Eine Besonderheit: Kommentare ausgewählter Personen aus der Gesellschaft erweiterten die Erwachsenen-Tour um unterschiedliche Bezüge und gesellschaftliche Themen – von der persönlichen Familiengeschichte bis zur Restaurierung. Insbesondere dieser Aspekt, also eine multiperspektivische Kommentierung der Ausstellung im Audioguide/in der App, war ein Novum für uns.

In unserem Vermittlungsraum KOSMOS CASPAR (Abb. 3 und 4) haben wir dann Besuchende dazu eingeladen, mit allen Sinnen in Caspar David Friedrichs Bildwelten einzutauchen und selbst aktiv zu werden – sozusagen ein Wechsel von der passiven Ausstellungs-Rezeption hin zur interaktiven. So luden analoge und digitale Zeichenstationen dazu ein, nach Friedrichs Vorbild zu zeichnen. Naturobjekte im Raum sowie Tast- und Riechstationen sollten Assoziationen zu prägenden Naturerlebnissen wecken. Ein inklusives Tastrelief zum Werk Das Eismeer (1823/24) ermöglichte es, das Gemälde haptisch zu erfahren. Darüber hinaus schlug der KOSMOS CASPAR eine Brücke von Friedrichs Lebenszeit in die Gegenwart und zeigte in einem Zeitstrahl, wie sich das Verhältnis von Mensch und Natur bis heute entwickelt hat. Sogar die Protest-Aktion der Letzten Generation im Frühjahr 2023 in der Hamburger Kunsthalle und ihre Adaption des Wanderers (über einer brennenden Sächsischen Schweiz) thematisierten wir darin.

CB: Es gibt definitiv unterschiedliche Funktionen von digitalem und analogem Angebot. Zumal das Publikum von Ausstellung und Webportal ja nicht zwangsläufig deckungsgleich ist. Mit der Fülle an Informationen und neuen Zusammenhängen, die das Portal bereithält, eignet es sich eher zur Vertiefung, aber auch zur Vor- oder Nachbereitung eines Museumsbesuchs – in einem 360-Grad-Rundgang kann die Hamburger Ausstellung tatsächlich noch immer virtuell besucht werden. Das Portal profitiert klar davon, dass es ortsunabhängig genutzt werden kann. Für Ausstellungen erstellen Museen neben den Ausstellungskatalogen häufig mit viel Hingabe und Aufwand multimediale Inhalte: Audioguides, App-Touren, sie beauftragen Sprecher und fertigen Videomaterial an. Im Webportal führen wir all das zusammen. So entsteht ein möglichst barrierearmes digitales Gesamterlebnis.

KH: Wie werden die unterschiedlichen digitalen und analogen Angebote eurer Erfahrung nach genutzt?

AW: Die verschiedenen Spuren in der App wurden insgesamt um die 93.000 Mal heruntergeladen/angehört. Der Vermittlungsraum wurde ebenfalls sehr gut angenommen.

CB: Für das Webportal haben wir nur ungefähre Zahlen. Digitale Besuche werden ja nur in dem Umfang gemessen und analysiert, den man als User*in bei der Auswahl der Cookies gesetzt hat. Wir können uns aber freuen, dass das Portal bis Ende August über 80.000 Aufrufe hatte. Dass unser Plan, zum Verweilen auf der Seite einzuladen und sich in Friedrichs Bildwelt zu vertiefen, aufgeht, zeigt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von 3,18 Minuten.

KH: Nachdem die Tickets in Hamburg bereits einen Monat vor Ausstellungsende ausverkauft waren, bildet der 360-Grad-Rundgang die einzige Möglichkeit, die Ausstellung zu sehen. Das Angebot wurde bereits mehr als 10.000 Mal besucht. Auch hier kommen unterschiedliche Medien zusammen, die bereits im Vorfeld der Ausstellung produziert worden waren: die hochauflösenden Abbildungen der Einzelwerke, die Texte aus dem Katalog, die für den Rundgang gekürzt wurden, ein kurzes Einführungsvideo durch die Kuratoren der Ausstellung sowie Audiofiles, die durch die Highlights der Schau führen.

AW: Der Rundgang, das Webportal insgesamt und die Verknüpfung mit den Ausstellungen zu Friedrich scheinen insgesamt ein Paradebeispiel dafür, wie Daten von Museen zu Objekten, aber auch extra produzierte Inhalte zu Ausstellungen nicht nur einmalig für eine kurze Zeit genutzt, sondern weiterverwendet, neu kombiniert werden und so längerfristig Mehrwerte schaffen können – für die Institutionen genauso wie für Besucher*innen und Menschen, die mit Inhalten selbst Angebote entwickeln. Was ist der Hintergedanke?

KH: Das Prinzip der Nachnutzung und des Austauschs von verschiedenen Datenformaten zu erproben, die in Museen generiert und genutzt werden, war eines der zentralen Anliegen des Projekts. Das Webportal zum 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs ist als Use Case „Smarte Museumsdienste“ im Rahmen des Projekts Datenraum Kultur entstanden. Der Datenraum Kultur ist ein gemeinsames Projekt von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT sowie weiteren anwendungsfallbezogenen Partnern. Als eines von 18 Leuchtturmprojekten der Digitalstrategie der Bundesregierung wird der Datenraum Kultur mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien finanziert. Er soll die digitale Vernetzung von Kultureinrichtungen und Kreativwirtschaft erleichtern und den souveränen Austausch kulturbezogener Daten ermöglichen. Leitprinzip ist die Wahrung der Souveränität von Dateneigner*innen, Urheber*innen und Dienstanbieter*innen aus den Bereichen Kultur, Medien und Kreativwirtschaft. Der Datenraum Kultur soll perspektivisch erleichtern, vergleichbare Angebote wie das Webportal zu Caspar David Friedrich zu erstellen. Im Verlauf der Arbeit am Webportal wurden und werden wichtige Anforderungen und erste Prototypen identifiziert und beschrieben, die als Grundlage dienen, um Prozesse und Standards für den Datenraum Kultur zu entwickeln.

Die Begeisterung für Friedrichs Kunst ist seit 50 Jahren ungebrochen. Was meint ihr: Was wird uns an Caspar David Friedrich zu seinem 300. Geburtstag faszinieren – und wie werden wir dann seiner Kunst begegnen?

AW: Ich glaube und befürchte zugleich, dass das Thema Mensch und Natur, auf das wir den Fokus in unserer Ausstellung in Hamburg gelegt haben, ein immerwährendes, heikles Thema sein wird – solange es die Menschheit gibt. Von daher könnte ich mir vorstellen, dass die Themen ähnlich sind wie heute. Ganz sicher ist aber, dass sie anders vermittelt werden. Denn da sind wir zugegebenermaßen immer ein wenig Kinder unserer Zeit – so wie es Caspar David Friedrich eben auch war. Überzeitlich ist aber hoffentlich der Anspruch, möglichst viele Menschen für die Werke Friedrichs begeistern zu können.

CB: Dem kann ich mich nur anschließen. Die Technik jedenfalls entwickelt sich rasend schnell weiter. Ganz sicher werden wir in 50 Jahren keine von 4 Personen entwickelte Website mehr nutzen. Vorausgesetzt, die Länder dieser Erde schaffen es, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Wer weiß, ob es das Internet überhaupt noch geben wird! Vielleicht werden wir in die Bilder hineingehen können, live und individuell abgestimmt genau die Informationen angezeigt bekommen, die unser Algorithmus für uns bestimmt. Da die Weltbevölkerung noch weiter wachsen und der globale Norden zunehmend Klimaflüchtlinge aufnehmen wird, wir insgesamt also noch ein bisschen mehr zusammenrücken müssen, werden wir aber sicher Friedrichs Landschaften erst recht zu schätzen wissen.

 

Anmerkungen

[1] Caspar David Friedrich, „Wanderer über dem Nebelmeer“, um 1817, Öl auf Leinwand, 74,8 x 94,8 cm, Hamburger Kunsthalle; Caspar David Friedrich, „Der einsame Baum“, 1822, Öl auf Leinwand, 71 x 55 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie; Caspar David Friedrich, „Das Große Gehege bei Dresden“, 1832, Öl auf Leinwand, 103 x 73,5 cm, Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.

Abb. 1: Webportal cdfriedrich.de

Abb. 2: Digital Story „Wanderlust – Wanderer über dem Nebelmeer“, wanderer.cdfriedrich.de

Abb. 3: Der Vermittlungsraum KOSMOS CASPAR in der Ausstellung „Caspar David Friedrich – Kunst für eine Neue Zeit“, Hamburger Kunsthalle, 15. Dezember 2023 bis 1. April 2024, Foto: Fred Dott.

Abb. 4: Der Vermittlungsraum KOSMOS CASPAR in der Ausstellung „Caspar David Friedrich – Kunst für eine Neue Zeit“, Hamburger Kunsthalle, 15. Dezember 2023 bis 1. April 2024, Foto: Fred Dott.