Maria Safenreiter , 30.09.2021

„Gigantic“ – Thomas Ostermeier inszeniert „Das Leben des Vernon Subutex 1“ von Virginie Despentes

Am 4. Juni 2021 feierte Das Leben des Vernon Subutex I Premiere auf der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Regie führte Thomas Ostermeier, der bereits zuvor erfolgreich zeitgenössische französische Erzähltexte wie Didier Eribons Rückkehr nach Reims (2017) und Édouard Louis’ Wer hat meinen Vater getötet (2021) für die Bühne bearbeitet hat. Das aktuelle Projekt basiert auf dem gleichnamigen Buch von Virginie Despentes, die vor Erscheinen der Subutex-Trilogie vornehmlich bekannt war für ihren Skandalroman Baise-moi! (Fick mich!, 1994) und ihre zwischen autobiografischem Essay und feministischer Streitschrift oszillierende King Kong Theorie (2006). Mit Vernon Subutex (frz. Titel), so weitgehend einhellig die Kritik, habe Despentes es geschafft, eine Art gesellschaftliches Porträt des heutigen Frankreichs zu zeichnen, wofür in aller Regel Balzacs Comédie humaine als Vergleich herangezogen wird.

Genau wie der Roman beginnt das Theaterstück mit dem In-Szene-Setzen des Alltags von Vernon Subutex (überzeugend gespielt von Joachim Meyerhoff), einem auf die fünfzig zugehenden Pariser Schallplattenhändler, dessen Beruf mit der Digitalisierung von Musik zunehmend obsolet wird und der nach der Schließung seines Ladens schließlich seine Wohnung verliert. Auf der Suche nach temporärem Obdach findet Subutex zunächst Zuflucht bei Freunden und Bekannten aus der Vergangenheit – einer Vergangenheit, die hauptsächlich getragen wurde von Sound und Glücksversprechen des Independent-Rocks der 80er- und 90er-Jahre. Alle Figuren, die den Titelhelden kurzzeitig bei sich aufnehmen – was entweder im Rahmen der von diesen gehaltenen Monologen erwähnt oder spielerisch inszeniert wird – tauchen von Neuem ein in das mit der Rockmusik verbundene Freiheitsgefühl. Subutex figuriert dabei als eine Art Auslöser verdrängter Wünsche, Selbstbilder und Gefühle. Für einen Moment teilen sich die Figuren den Zuschauer*innen mit, knüpfen an Erinnerungen an das früher Erlebte (Partys, Konzerte, Drogen, Sex) und Gefühlte (Freiheit, Unschlagbarkeit, Euphorie, Glück) an, schildern jedoch auch, was es brauchte (Verluste geliebter Menschen, Krankheit, Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Angst), damit ihr Selbsterhaltungstrieb an erste Stelle rücken konnte und sie sich allmählich von den utopischen Verheißungen der Musik, die ihre Jugend so prägte, zu distanzieren vermochten.

https://www.youtube.com/watch?v=mdJ_-VUfDvk

Waren Subutex und seine Freunde einst verbunden durch den Wunsch, sich zum Klang von Sonic Youth und Iggy and the Stooges gegen den Mainstream aufzulehnen, haben diese Freunde zwanzig Jahre später eine mehr oder weniger erfolgreiche bürgerliche Existenz gegründet, mehr noch: Sie sind nun Bestandteil und Fürsprecher*innen jenes Mainstreams, den sie früher mit Leidenschaft verachteten. Einzig Subutex beschloss, weiter in der Vergangenheit zu leben, sich hierfür herauszunehmen aus dem aktiven Weltgeschehen, nicht zuletzt, weil es, um in diesem mitzumischen, Geld braucht. Als ein Fremder in seiner eigenen Welt, sucht er diejenigen auf, von denen er annimmt, sie gehörten zu den an der Gegenwart Teilnehmenden. Dass sie es letztlich sind, die in ihrem Leben immer mehr Kompromisse eingehen mussten als Subutex, stellt sich im Roman und im Theaterstück schnell heraus: Mit Ausnahme von Subutex halten alle Figuren verkrampft und ohne ein Bewusstsein dafür, was sie sich eigentlich wünschen und was sie tatsächlich sind, an dem fest, was ihnen einen Platz in der Gesellschaft sichert.

Diese sich auf unterschiedliche Weise manifestierende Prekarität der Romanfiguren in Szene zu setzen und den Zuschauenden zu vergegenwärtigen scheint das zu sein, was sich Ostermeier mit seinem Stück Das Leben des Vernon Subutex I zu zeigen vorgenommen hat. Es geht um die unerfüllte Hoffnung auf Freiheit und die misslungene Selbstbehauptung gegenüber der Zweckgebundenheit, die durch das In-Erscheinung-Treten einer anderen Welt, der Welt der Rockmusik, in den Figuren für kurze Zeit wiederbelebt wird. Dabei vermag ausgerechnet die Figur des Vernon Subutex in allen, die er trifft, diese lang vergessene Sehnsucht nach einem besseren, weil mit Regeln und Tabus brechenden Leben, von Neuem ans Tageslicht zu bringen.

Während der obdachlose, bald bettelnde Subutex im Alltag der anderen emergiert, um gleich im nächsten Moment wieder zu verschwinden, drängt sich der Vergleich zwischen der Bühnenbewegung und dem, was im Verlauf des Stücks über das Leben der einzelnen Figuren in Erfahrung gebracht wird, zunehmend auf: Lange schon scheinen die Leben all derjenigen, die hier zu Wort kommen, analog der sich im Kreis drehenden Bühne auf einer Stelle zu verharren; sie kommen nicht vorwärts und somit auch nicht an am Ziel, einem Punkt in ihrem Leben, an dem alles einen Sinn erhielte.

Die romantische Vorstellung vom menschlichen Dasein in einer Welt, in der wir, mit Novalis gesprochen, zwar ‚überall das Unbedingte‘ suchen, jedoch ‚immer nur die Dinge‘ bzw. das ‚Bedingte‘ finden – diese Vorstellung wird hier von Anfang an schmerzlich nachvollziehbar. Wenn es aus der Sicht der Romantiker etwas gibt, an dem es uns allen mangelt, weil es nicht ableitbar ist aus einem auf die innerweltlichen Phänomene ausgerichteten Denken und einer auf die sinnliche Erfahrung von Welt allein reduzierten Seinsweise, dann finden wir uns im Zustand einer permanenten Sehnsucht wieder, zu dem die unaufhörliche Tätigkeit des Philosophierens und Imaginierens das einzig befriedigende Pendant darstellt, und zwar genau weil kein philosophischer Gedanke, kein imaginiertes und im Werk realisiertes Bild uns vollends zufrieden stellt. Was der Mensch also auf diese Weise immer nur tut, ist sich den Mangel, und sei es immer nur vorübergehend, als Erfüllung vorzustellen.

Im Interview zum Programmheft des Stücks erzählt Despentes, dass das, was sie am meisten interessiert hat, als sie mit dem Schreiben von Vernon Subutex begann, die Einfachheit des Verschwindens von Dingen war, an denen unser Bewusstsein zwar noch weiter klebt, die aber nicht mehr existieren. Dazu zählen für sie in erster Linie Branchen wie die der Plattenindustrie, die, während sie Ende des 20. Jahrhunderts noch sehr einflussreich war, zunehmend in Vergessenheit geriet – mit ihr der Einfluss von der dazugehörenden Alternativszene, den Independent Labels und des Independent Rocks. Insbesondere der erste Band ihrer Subutex-‚Saga‘ erzählt von ebenjener Vergangenheit, die lange schon Geschichte ist, und mit ihr die individualistischen Verheißungen, Glücksversprechen und Aufbruchsbestrebungen, so stark und unwiderlegbar wie sie nur in der Zeit des Independent Rocks selbst erschienen. Mit der Aufführung scheint jedoch plötzlich die Voraussetzung dafür gegeben, dass an die besondere Bedeutung dieser Vergangenheit wieder angeknüpft werden kann, so z.B. indem die Rockmusik live gespielt wird (neben Bands wie der 1986 in Boston gegründeten Kult-Rockband Pixies oder den Dead Kennedys wird die Musik von weiteren Künstler*innen der 80er- und 90er-Jahre gespielt, darunter Gang of Four, Richard Hell oder Portishead). Ostermeiers Inszenierung von Das Leben des Vernon Subutex I ist vor allem als die Hervorbringung eines Möglichkeitsraums zu begreifen, in dem die Wiederaufnahme einer Beziehung zum Rock oder vielmehr: zu seinen Verheißungen und Glücksversprechen als sinnvoll erscheint. Und so bleibt über das Theaterstück zum Schluss zu sagen:

https://www.youtube.com/watch?v=xJncHEZ3URs&t=1s (abgerufen am 30. September 2021)

Das Leben des Vernon Subutex I ist vom 16. bis 26. Oktober 2021 wieder auf der Berliner Schaubühne zu sehen.

Bühnenbild

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