Hinkelbeinchen. Ein Schlüsselkind
Sie kennen ja die Geschichte von den sieben Raben, die von ihrer Schwester erlöst wurden – das war ich, Hinkelbeinchen. Ich will nicht angeben, aber ich hab’ sieben Leben gerettet. Man könnte schon sagen, ich hab was erreicht: Sieben Raben wieder in Menschen verwandelt! Den Fluch meines Vaters gebrochen! Die Brüder sind wieder da und glücklich bis an ihr Lebensende. Meine Schuld ist getilgt. Na ja, was heißt Schuld? Ich hatte eine Aufgabe und hab sie gelöst. Mit Bravour gelöst. Am Anfang war ich nur ein unbedeutendes Schlüsselkind. Aber jetzt bin ich eine Schlüsselfigur. Großartiges Gefühl, das kann ich Ihnen sagen.
Was denn? Sie schauen mich so an, als würden Sie auf etwas warten. Sie sind noch nicht zufrieden, das seh’ ich doch! Nun, wenn Sie darauf bestehen – ich meine, Sie alle wissen, wie es ausgeht, aber gut, von mir aus – ich kann gerne noch mal von vorne anfangen.
Sie müssen sich vorstellen, am Anfang wusste ich nichts und ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht sehr angenehm. Zu wissen, dass man nichts weiß, macht es nicht besser, denn man ahnt: Hier war doch was. Wenn man weiß, dass man nichts weiß, weiß man ja eben doch was. Mir ist, als hätten hier schon andere gespielt. Kinderspiele, gefährliche Kinderspiele. Oder waren es kleine Tiere? Da war doch was vor mir da. Ich bin kein Einzelfall. Ich bin kein Einzelkind. Durch das Becken meiner Mutter sind schon andere geschwommen und haben mir den Weg bereitet. Allein wie ich aussehe: Die Sachen, die ich trage, sind ausgeleiert. Ich habe schöne lange Haare, nicht wahr, also warum trage ich keine Kleider? Niedliche Kleider mit Blumenmuster und Grasflecken. Nein, nur zerrissene Hosen, und die sind nicht retro, das kann ich Ihnen sagen! Nein, das sind original verdreckte Unterhosen mit Ausbuchtungen, die ich nie füllen werde.
Manchmal rauscht‘s mir so in den Ohren – so ‚ne Art Krächzen. Mir sitzt da was im Nacken. Ist nur einen Flügelschlag entfernt. Es lässt mir keine Ruhe. Selbst nachts lässt mich mein Daunenkissen auf Reisen gehen. Ständig diese Alpträume und dieses Schluchzen von überall her. Also Alpenträume mit tiefen Schluchten. Ständig kitzeln mir Federn in der Nase. Jedes Niesen katapultiert mich zurück. Nur wohin? Und warum? Also hinein in dieses Schluchzen. Tief hinein. Einatmen. Ausatmen. Das Niesen wird immer häufiger. Eine energische, allergische Reaktion. Die Federn sammeln sich in meinem Windschatten. Aber da ist doch was drunter begraben unter diesem Kissenabfall! Aha.
Sie findet etwas und liest vor. „Ein Mann hatte sieben“ – so, hier ist was ausradiert, komische Sache, da stand mal was – „Ein Mann hatte sieben was-auch-immer und immer noch kein Töchterchen. Endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde, und wies zur Welt kam, war’s ein Mädchen.“ Na, geht doch. „Obgleich es schön war, so war’s doch auch schmächtig und klein, und sollte wegen seiner Schwäche die Nottaufe haben.“ Damit bin wohl ich gemeint, genauso soll es bei mir gewesen sein. Warum ich das weiß, wo ich doch sonst nichts weiß? Steht in den Akte: Schnappatmung, blau angelaufene Lippen, schnell her mit der Taufe, bevor es zum Teufel geht. Und dann? Da war doch was. Von der Taufe in den Regen oder so ähnlich. Da ist doch was. Es hockt dort in der Ecke, so wie Sie jetzt im Dunklen. Genau, da sitzt was im Dunklen und belauert mich!
Ich bin nicht durchgeknallt, sicher nicht. Gehen Sie runter in den Keller, schauen Sie hinter den verwaschenen Vorhang. Da stehen sie auf der Akte zu meiner Geburt: Grau vom Staub und zerfressen: sieben Zahnbürsten. Gedacht für kleine Milchzähne und ein spitzbübisches Lächeln. Abgenutzt vom täglichen Gebrauch. Das reicht Ihnen nicht? Dann gehen Sie nach oben: Unterm Bett liegen kleine blinde Glaskugeln, die waren lange vor mir da und murmeln leise im Schlaf, wenn ich nicht hinhöre. Die hätten Sie glatt übersehen, nicht wahr? Aber ich nicht!
Also fliehe ich ins Bad, nachts überkommt mich ja immer dieser Drang, aber wenn ich dann die Spülung drücke, gurgelt wieder so’nen Kinderlachen im Klo. Es ist zum Schreien. Mein Vater kommt ins Bad gestürmt und trägt mich ins Bett zurück. Warum kann es nicht still geben? Was hat es bloß, das arme Kind? Na, was wohl! Sie haben sich versprochen, zu oft versprochen, die Eltern und die Murmeln unter’m Bett. Es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Jetzt lesen wir Märchen zum Einschlafen. Wozu frage ich mich, das macht die Alpträume nur schlimmer. Denkt er wirklich, ich würde nicht bemerken, dass in jedem Märchen das Es-war-einmal durchgestrichen ist? Es war einmal – was für einen Klang das hat. Es war einmal, heißt das, es ist nicht mehr? Wer könnte das beantworten und über diese Frage schlafe ich ein.
Morgens hämmert es leise gegen meinen Kopf. Vater ist in der Werkstatt. Er baut wieder ein Vogelhaus. Sein neunundvierzigstes. Im Garten hängen die anderen an den Bäumen, schwingen hin und her wie die Gehenkten. Kein Vogel zieht dort ein. Also versucht Mutter, die Vögel mit Brotsamen zu locken. Aber kein Vogel kommt, um ein Korn zu finden.
Geh ich also zum Nachbarn, der hat eine Mühle. Ich gebe ihm den nutzlosen Samen meiner Eltern und er so: „Siehste das Viech da oben glucken? Der hat dich genau im Blick mit seinen kohleschwarzen Augen. Solln ja intelligente Vögel sein, so Raben. Aber nicht hinterher gehen, nee, meine Hübsche, die reisen nämlich mit den Wölfen, das ist mal bewiesen. Die fressen dann, was das Wolfspack übrig lässt. Das ist nichts für kleine Kinder, nee.“ Und ich so: Was geht mich das an? Da guckt er komisch und wir spielen ’ne Runde backe, backe Kuchen und ich lauf den Krümeln hinterher. Kriege ich aber nur wunde Füße von.
Geh ich also zum Schuster. Der ist immer blau und riecht nach Korn, so wie der Müller, nur anders, daher mag ich ihn genauso. Ich geb’ ihm den Kuchen und er so: „Aber hallo, da hab‘ ich lang drauf warten tun! Und sogar noch warm der Kuchen. Da will man gleich reinbeißen, wie der so süß duftet. Na, mein Kind, da sollst du die vermaledeiten Schuhe mal endlich kriegen. Stehen ewig, ach, was sag ich, seit Jahren stehen die hier rum und nehmen nur Platz weg. Aber mit dem Kuchen sind auch die Zinsen und Zinseszinsen bezahlt. Hier haste man alle. Kannste kaum tragen, was? Na, wird schon.“ Nun ich trage sieben Paar Schuhe nach Hause. Und weil sie schwer sind und die Alte am Wegesrand verrückt ist, flüstert sie mir was ins Ohr: „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, du bist ein Sternenkind, nie geboren und doch da“. Und ich sage: Jetzt habe ich sieben Paar Schuhe und alle zu groß. Da lacht sie und lacht und lacht böse! Ich höre sie noch, da liege ich schon im Bett und antworte: Und wenn schon, sie sollen meine Siebenmeilenstiefel sein.
Nachts hackt mir ein Rabe auf den Augen herum und spricht: „Es schickte der Vater einen der Knaben eilends Taufwasser holen, und die andern sechs liefen mit. Jeder wollte aber der erste beim Schöpfen sein – darüber fiel ihnen der Krug in den Brunnen und das Kind im Grunde gleich mit. Da standen sie und wussten nicht, was sie tun sollten, und keiner getraute sich heim. Dem Vater ward angst das Mädchen müsste ungetauft sterben, und wusste gar nicht, warum die Jungen so lange ausblieben, gewiss haben sie’s über ein Spiel vergessen! Als sie nicht zurückkamen, fluchte der Vater im Ärger.“ Ein mieses Niesen katapultiert mich in die Höhe, der Rabe erschrickt und fliegt einfach weg. Es ist morgens um sieben, mir tränen die Augen, das hört gar nicht mehr auf. Das verdammte Kissen ist pitschnass. Ich schreie.
Meine Mutter, mit Haaren, die so glänzen wie die Sonne, schaut nach mir und sieht mich nicht. Sie sieht durch mich hindurch. Und mein Vater, der Mann hinterm Mond, verblasst schon wieder in seiner Werkstatt. Verbirgt sich in Wolken aus Sägemehl, zimmert Vogelhäuser ohne Eingang, klebt sie zusammen mit Spucke und Schweiß. Immer weiter nimmt er ab. Wir sind eine Familie von Vogelscheuchen. Die Eltern hager und verdorrt. Und ich? Na, schauen Sie mich an: Alle Türen musst’ ich selbst öffnen, nie macht mir einer auf und lädt mich ein ins Warme. Sie haben mich gleich zum Schlüsselkind erzogen. Ich konnt’ noch nicht laufen, da habe ich schon gewusst, wie man ein Schloss öffnet. Zur Geburt schenkten sie mir ein Schlüsselband, das sitzt mir seitdem schwer im Nacken. Statt Puppen spielte ich mit Schlüsseln. Der große für die Haustür, schwer zu bändigen. Der silberne für die Speisekammer. Ja, meinen Kakao mach ich mir morgens selbst. Den angelaufenen fürs Badezimmer – seit der Taufe wasch’ ich mich besser ohne fremde Hilfe. Überhaupt: Man geht mir lieber aus dem Weg. Es ist nicht so, dass ich nicht alleine kann, aber warum eigentlich?
Ein federndes Niesen lässt mich aus dem Bett springen. Sieh mal einer an: Jetzt passen die Schuhe. Die kleinsten, die roten Stiefel. Ich gehe ein paar Schritte zurück. Erst zur verrückten Alten: „Du bist wohl schön mit deinen feinen Stiefelchen“, nuschelt sie, „aber du bist schuldig und die Schuhe gehören dir nicht“. „Schuldig?“, frage ich. Und da lacht sie und lacht und lacht böse. Bloß weg hier! Weiter zurück! Und der Schuster ext den Doppelkorn und spuckt mir süßen Kuchen ins Gesicht und sagt dabei so nebenbei: „Ich warne Neugierige. Deine Eltern sagen, es sei des Himmels Verhängnis gewesen und deine Geburt nur der unschuldige Anlass.“ Habe ich denn Brüder gehabt und wo sind sie hingeraten? „Ich weeß es nich, ich weeß es nich, ich kann es dir nich sagen. Frag deinen Vater.“ Das geht natürlich nicht. Ich trage die salzigen Worte also geschwind zur Mühle und der Müller backt mir Sätze draus: „Weißt du es denn immer noch nicht? Dein Vater sprach bei deiner Taufe: ‚Ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden. Kaum waren die Worte raus, so hörte er ein Geschwirr in der Luft, blickte auf und sah sieben kohlschwarze Raben auf und davon fliegen.“
Habt ihr das gehört? Ich hätte sieben Brüder haben können! Ich hätte das Nesthäkchen sein können. Nicht einen, zwei, drei oder vier, nein sieben große Brüder, die mich beschützen. Immer wenn’s Ärger gab, und den gab’s oft, hätt’ ich sagen können: Ich hol jetzt meine Brüder! Große starke Jungs wären das geworden und ich Prinzessin im Blumenkleid. Sie hätten mich auf ihren Schultern getragen, mir von ihrem Kakao abgegeben und die Eltern auf Trapp gehalten. Sieben waren da und jetzt ist keiner mehr. Das siebte Kind ist das Glückskind, das weiß jeder, ich aber bin das achte. Das konnte ja nur schief gehen.
Im Krieg verlieren die Mütter im Schnitt drei Kinder, das habe ich irgendwo gelesen. Nein, das hat mir jemand erzählt und mich so komisch angeschaut. Der hat’s gewusst! Der hat es mir angesehen: Dass auf mir sieben Leben lasten. Vor kurzem meinte jemand, dass man ab drei Opfern ein Serienmörder sei. Ich hab sieben auf einen Streich – Kain hat nur Abel erschlagen, ich aber habe Abel, Abel zwei, Abel drei, Abel vier, Abel fünf, sechs, sieben – Einatmen, ausatmen, keine Schnappatmung. Ein, Aus, ein, aus. Sie atmet aus.
Sie sind eben nicht tot, sondern Raben. Das kann man wieder richten. Ich bin ein Schlüsselkind, ich komme überall hin. Aufgaben sind auch was Schönes, finden Sie nicht? Sie dort fühlen sich ja auch ganz wohl in Ihrer Rolle als Zuhörer. Aber bestimmt wären Sie noch lieber Täter als untätiger Zuschauer geworden, denn dann hätten Sie eine Mission. Eine Lebensaufgabe! Eine Berufung! Und Sie sitzen ganz sicher nicht da im Dunklen, um einem durchschnittlichen Schicksal zuzuschauen. Diese Schuld, die hat doch auch was! Die ist groß und außergewöhnlich. Die fehlte noch an meinem Schlüsselbund und ich trag sie gerne, also schauen wir den sogenannten Tatsachen ins Auge. Was haben wir?
Mein Vater nimmt weiter ab, er wird vom bird watcher zum weight watcher, ihm ist nicht mehr zu helfen. Meine Mutter versenkt uns alle mit ihrem Schweigen. Es ist ein sehr lautes Schweigen. Ich aber, ich bin ein uneingelöstes Versprechen! Ein Versprecher meiner Eltern hat mich hervorbracht. Ein Satz meines Vaters lässt mich nicht zu Ruhe kommen. Und weil das Wünschen im Märchen noch hilft, lasten auf mir die Leben meiner sieben Brüder. Ich jedenfalls weiß jetzt, was ich zu tun habe: In dieser weiten Welt irgendwo meine Brüder aufspüren und befreien. Ich werde nichts mitnehmen als ein Ringlein von meinen Eltern zum Andenken an ihre Gebundenheit. Die Schuhe zerren schon an den Füßen und los geht’s!
Es war einmal ein arm Kind und hat ei dumm Vater und ei traurig Mutter, daheim war alles tot und nu ging es immer zu, weit, weit bis an der Welt Ende, da wo niemand mehr war. Ist es hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie ihm auf der Erd nicht mehr zu helfen war, wollt’s in Himmel geh’n, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war der gar zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind merkte, sprach er „ich rieche, rieche Menschenfleisch“. Da lief es eilig weg und ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, hatte die Mutters Kleid an, war aber zu heiß und fürchterlich und fraß auch die kleinen Kinder. Wie’s zu den Sterne kam, warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt’ es noch und ist ganz allein.
Ja, kommt Ihnen das bekannt vor? Woyzeck, nicht wahr? So war’s aber nicht! Sie brauchen gar nicht so mitleidig zu gucken. Ich bin doch Hinkelbeinchen, das Schlüsselkind, ich weiß, was zu tun ist und so in der Ecke hocken und flennen ist nicht meine Art. Nee, nee, als Sonne und Mond es nicht gut mit mir meinten, hab’ ich mich geschwind fort gemacht und ja klar, ich bin auch zu den Sternen. Die haben mich Sternenkind gleich erkannt, die sind mir ja artverwandt. Der Morgenstern verbeugt sich und gibt mir ein Hinkelbein, (das ist ein Hühnerbein, wisst ihr ne?) und spricht: „Wenn du das Beinchen nicht hast, kannst du den Glasberg nicht aufschließen, und in dem Glasberg da sind deine Brüder“. So, das Hinkelbein schnell um den Hals binden. Ein Schlüssel mehr in meinem Bund. Nun schnurstracks weiter, bis ich an den Glasberg komme, die Tür ist natürlich zu, aber mit verschlossenen Türen kenn ich mich ja aus! So, her mit dem Hinkelbein! Wo ist es denn? Ah, hier. Nee. Hier war’s! Wo ist es denn? Ich hab’s doch da reingetan! Wo isses bloß? Kann doch nicht weg sein. Stille.
Ich – ich – ich hab’s wohl verloren. Was mach ich denn jetzt? Ich muss meine Brüder retten und hab keinen Schlüssel zum Glasberg! Es muss eine Lösung geben. Ich weiß sie nicht, aber so sind die Regeln und an die hat man sich verdammt noch mal zu halten. Nicht weinen jetzt. Nicht – auf gar keinen Fall – nein – Reiß dich zusammen! Einatmen, ausatmen, ein, aus –
Moment! Da gibt es doch diese andere Geschichte, dieses Märchen, das hat mein Vater mir oft vorgelesen. Wo ein Kind einen Hühnerknochen aus der verschlossenen Gittertür raus hält, um zu überleben. Und die Märchenhexe hat’s ihm abgekauft – das Hinkelbeinchen als Finger. Das könnte doch auch funktionieren! Wo ist das Messer? Ja, hier liegt ja zufällig eins. Wo kommt das plötzlich her? Egal, Hauptsache, es ist scharf genug! So der kleine Finger, den brauche ich nicht so oft. Ab damit. Sie schneidet sich den Finger ab und öffnet die Tür damit.
Ach, was haben wir denn da? Hier ist ja alles gedeckt! Sieben Tellerchen und sieben Becherchen, randvoll mit warmen Kakao – wie das duftet! Darf ich mich endlich einmal bedienen? Muss nichts selber machen! Darf einfach. Das schmeckt nach Kindheit! So wie alles nie war! So unbeschwerte Apfelstücke, mundgerecht geschnitten, warmer Grießbrei mit Zimt und hier! Fruchtzwerge und Kinderschokolade. Und hier steht ein Geburtstagskuchen! Ist der etwa für mich? Mit Kerzen zum Pusten und Wünschen, mit Zuckerkuss. Und hier! Kleine Geschenke, verpackt mit großen Schleifen. Und hier! Eine Wärmflasche im Bett.
Schluss jetzt! Das ist nicht deins, du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Finger weg! Du darfst von jedem Tellerchen nur ein Bröckchen und aus jedem Becher nur ein Schlückchen nehmen. Und hier legst du den Ring hin, den von deinen Eltern. Zum Dank. Man nimmt sich nichts ohne dafür zu bezahlen. Mann! Jetzt hast du ihn in den Becher fallen lassen! Du bist zu nichts nutze, du musst immer alles versauen. Was ist das? War da was? So ein Geschwirr und ein Geweh in der Luft! Da kommen sie! Da kommen die Raben! Bloß weg hier! Sie versteckt sich.
Psst. Hören Sie das? „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat von meinem Nesquik getrunken? Das ist eines Menschen Mund gewesen!“ Gleich werden sie mich finden. Und sehen, dass ich an allem schuld bin. Dass sie wegen mir – jetzt sind sie ganz still. Was brüten sie aus? Sie trinken Kakao! Oh nein, stopp! Jetzt hat der den Becher, wo ich! Zu spät. Da rollt schon der Ring heraus! Erkennt er ihn? Weiß er, dass es der Ring von Vater und Mutter ist? Ja, ja, ich seh’s ihm an! Er erinnert sich! Er lacht, ja, er lacht! Er freut sich! Wirklich? Was hat er gesagt? Was? „Gott gebe, unser Schwesterlein wäre da, so wären wir erlöst.“ Ich – ich – ich – einen Schritt vor, einen Schritt vor! Wag es, trau dich! Da sind sie! Die Raben! Nein – meine Brüder – sie verwandeln sich!
Wunderschönes Ende, ich weiß. In dem Moment war es vollbracht – mein Lebenswerk. Aber jetzt hab ich mich hier so fest gequatscht, ich müsste längst weg sein – ich meine, aufbrechen zu neuen Ufern, so sagt man doch. Stille. Schauen Sie mich doch nicht so an. Ich find’s ja auch schade. Na gut, ein paar Minuten kann ich Ihnen noch schenken. Kommt jetzt auch nicht drauf an.
Ich meine, ich hatte es wirklich geschafft. Egal, wie man die Geschichte erzählt, ich hab’ das perfekt gelöst. Gut, man könnte einwenden, dass ich nicht so ein Streberkind hätte sein müssen. Mal angenommen, ich hätte mehr auf die Regeln geschissen. Statt leichten Schlüsseln nur noch heavy metal. Schnell die Haare abrasieren, ’ne Lederjacke und dem Schuster seinen Korn klauen und mich besaufen. Ich hätt’ mich schon gern mal mit meinen Eltern gestritten, so ist’s ja nicht!
Aber ich sollte jetzt wirklich – die Show ist vorbei. Ich muss jetzt los und da draußen – ach, ich kann auch nicht sagen, was jetzt kommt. Streng genommen, geht das auch niemand außer mir was an. Aber ich will mal nicht so sein. Wenn sie nicht gestorben sind, und das sind wir nun mal nicht, dann – eben, Sie sind noch da und ich auch. Mehr wissen wir nicht. Nur, dass da jetzt leider kein Märchen mehr auf uns wartet. Da draußen. Mir macht’s nichts aus, ich hab‘ da so meine Methoden. Ich nenn’ es das Neun-Finger-System. Ja, ich werde da schon sehnsüchtig erwartet! Ist ja immer so: Kaum gibt man ihnen den kleinen Finger, wollen sie gleich die ganze Hand – genau wie Sie. Aber Sie muss ich jetzt leider verlassen. Was soll ich sagen? Es war mir ein Vergnügen. Sie verbeugt sich.
Ach ja, nur eine letzte Sache noch: Ich finde schon, dass meine Geschichte sehr kurz ist. Ich meine, andere Lebenswerke sind sehr viel, tja, viel Raum greifender. Ich wollt’ mich eben nicht breit machen. Ich hab‘ besseres zu tun, als irgendwen mit überflüssigen Details zu belästigen! Aber, wer weiß, vielleicht bin ich doch allzu sehr durch meine Geschichte gehetzt? Fällt Ihnen denn nichts auf an dem Satz „Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“? Genau, kurz ist der! Sehr schnell erzählt. Ein Niesen dauert länger. Und ehe man sich versieht, wird man davon auf die letzte Seite katapultiert. Auf einmal ist alles weiß, weiß wie Vogelscheiße, aber es sind sicher noch viele Fragen offen geblieben! Klar, zurückblättern ist nicht die feine Art, aber wann, wenn nicht jetzt? Stille.
Nein, nicht? Gut, dann geh ich jetzt da raus, ich werde mich nicht umdrehen, sondern – Adieu, adieu. Nur eins noch: Der letzte macht das Licht aus. Lacht. Schlechter Witz, ich weiß, aber was ich mich immer schon gefragt habe: Gibt es ein Lampenfieber vor dem Abgang? Wenn der Star des Abends einfach nicht die Bühne verlassen kann, weil er, sagen wir mal, Angst hat? Ja, kindisch, ich weiß. Ich mein’ ja nur – ist da überhaupt irgendwas? Was kann denn jetzt noch kommen, wo ich meine Geschichte zu Ende – da gibt man sich so Mühe und tut und macht, kocht sich selbst den Kakao und schneidet sich den Finger ab und dann – nichts? Gar nichts? Was schauen Sie mich so an? Weiß ich doch nicht, was nach so ’nem märchenhaften Ende kommen soll!
Niemand braucht mich. Niemand schaut mich an. Es gibt nichts zu tun. Keiner wartet mehr auf mich. Es gibt nichts mehr zu sagen. Blackout.
Wartet doch! Nur eins noch. Ganz kurz. Man könnte auch sagen – dass – wenn sie nicht gestorben sind, dann – bin ich mit mir – ich – nun – hallo? Hallo? Was denn? Was dann? Ein letztes Wort?