Matthis Glatzel, Dafne de Vita , 13.11.2024

Ist Kants Philosophie rassistisch?

Ein Gespräch mit Matthis Glatzel und Dafne de Vita anlässlich des 300. Geburtstags des Philosophen

Matthis Glatzel: Wir feiern in diesem Jahr den 300. Geburtstag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Seine Wirkmächtigkeit für Fragen von Erkenntnistheorie und Moralphilosophie – man könnte sagen für die gesamte Philosophie überhaupt – ist unumstritten; nicht zuletzt ist auch seine Rechtsphilosophie nach wie vor für juristische Fakultäten einschlägig. Doch gegenwärtig wird auch die Frage nach den rassistischen und sexistischen Implikationen seines Werkes gestellt. So gibt es etwa Äußerungen in seiner Anthropologie oder auch in der Kritik der Urteilskraft, die Frauen und Nicht-Europäer:innen stark herabwürdigen. Im Rahmen einer Gesprächsveranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2020 wurde sich der Frage „War Kant ein Rassist?“ besonders öffentlichkeitswirksam angenommen. Die Positionen sind hier verschieden. Volker Gerhardt etwa geht davon aus, Kant könne nicht als Rassist verstanden werden, weil sein Denken wesentlich alle Menschen einschließt, Marcus Willaschek und Andreas Esser haben demgegenüber auf die Bedeutung herabwürdigender Passagen in Kants Werk insistiert. Die Frage, inwieweit diese etwas über sein philosophisches Denken insgesamt aussagen, müsse thematisiert werden.

Du, liebe Dafne, wurdest mit einer Arbeit zu Kant promoviert und hast dich jüngst selbst mit der Frage nach dem Rassismus Kants auseinandergesetzt. Würdest Du sagen, diese Frage ist zentral für die Kant-Deutung und wenn ja, warum?

Dafne De Vita: Ja, insbesondere im Kontext seiner Moralphilosophie und seiner politischen Philosophie wird die Frage nach Kants Rassismus für die gegenwärtige Kant-Deutung zentral. Gerade weil es widersprüchlich scheint, dass der Philosoph der universalen Würde des Menschen auch Schriften über „Race“ verfasst hat, kommt eine Auseinandersetzung gar nicht darum herum, diese Spannung zu thematisieren.  

Ein Beispiel für eine rassistisch ausdeutbare Überlegung findet sich in Kants Thematisierung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, stets die eigenen Talente zu fördern und auszubilden. In der Metaphysik der Sitten heißt es: „[O]bgleich der Mensch (so wie die Südsee=Einwohner) sein Talent rosten ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als ein solches in uns durch Naturinstinct gelegt sei. Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind“ [1]. Hier spricht Kant den Bewohner:innen der südlichen Länder eine intrinsische Neigung zu, faul zu sein, die auf irgendeine Art und Weise mit ihrer Herkunft aus einem warmen Land korreliere. Das Leben der „Südsee=Einwohner“ schöpft demnach nach Kant die Möglichkeiten des Menschen, sein vollständiges Potenzial, nicht aus. Bezieht man diesen Satz auf vergleichbare aus der Anthropologie oder den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhaben, stellt man fest, dass Kant davon ausging, dass, bedingt durch Herkunft, Klima, Aussehen und Geschlecht, nicht alle Menschen dieselben moralischen und geistigen Fähigkeiten ausbilden können.

M.G.: Zu was für einer Einschätzung dieser Passagen bist Du dann im Zuge deiner Dissertation gekommen?

D.D.V.: Die angeführten Textstellen haben mich ersteinmal dazu gebracht, mich auch innerhalb meiner Dissertation mit dem Thema Rassismus in Kants Werk auseinanderzusetzen. Ich bin hier zur Eischätzung gekommen, dass für Kants Ethik das Selbstdenken im Modus des Selbstzweifels eine zu große Rolle einnimmt, als dass man seine Ethik als eine grundlegend rassistisch verfasste deuten könnte. Kant verwendet etwa den Begriff des Eigendünkels zur Bezeichnung derjenigen, die behaupten, sie hätten ihren freien Willen „hineinempfunden“ [2], also diejenigen, die für sich selbst beanspruchen, schon immer im Einklang mit dem vernünftigen und freien Willen zu handeln. Den Selbstzweifler zeichnet dabei gegenüber dem moralisch Arroganten aus, dass er auch dem eigenen Urteil skeptisch gegenübersteht und damit andere Menschen diesem nicht völlig unterwirft. Man könnte hier von einer Art epistemischer Demut sprechen.

M.G.: Was bedeutet das aber für die Frage, ob der bei Kant vertretene Rassismus systematische Implikationen für seine Philosophie austrägt?

D.D.V.: Diese Frage ist in der Kant-Forschung in der Tat umstritten. Thesen, wie die Robert Loudens, Kants Rassismus sei lediglich ein Produkt seiner unaufgeklärten Vorurteile, greifen meiner Einsicht nach zu kurz. Gleichzeitig halte ich es auch für überzogen, Kant gleich als Urheber des modernen Rassismus zu verstehen. Ich habe mich letztes Jahr, gemeinsam mit meiner Kollegin Jessica Segesta, noch einmal konkret mit der Frage nach der Rolle der „Race“ in Kants Schriften auseinandergesetzt. Hierbei prüften wir vor allem eine These, wie sie in jüngerer Zeit in der Kant-Forschung – etwa bei Robert Bernasconis und Huaping Lu-Adler – vertreten wurde. Das hier vertretene Argument lautet, grob gesagt, Kant habe die einzelnen Vorstellungen über ‚Race‘ in eine systematische Ordnung aufgrund des von ihm entwickelten teleologischen Prinzips gebracht und sei damit wesentlicher Urheber eines modernen, wissenschaftlichen Rassismus.

M.G.: Mit ‚teleologisches Prinzip‘ ist ein wichtiges Stichwort gefallen. Es rekurriert ja erstmal auf eine vornehmlich geschichtsphilosophische Vorstellung, alle Prozesse, ob in Natur oder Gesellschaft, bewegten sich auf ein Ziel zu. Inwiefern steht eine solche Vorstellung bei Kant im potenziellen Zusammenhang mit Rassismus?

D.D.V.: Für Kant dient das teleologische Prinzip dazu, Verschiedenheiten innerhalb der Gattung ‚Mensch‘ anthropologisch zu begründen. Diese Verschiedenheiten lassen sich Kant zufolge als „Classenunterschiede[n]“ [3] nur dann erkennen, wenn der Gattung ‚Mensch‘ eine einheitliche Entwicklung, ein teleologisches Prinzip, unterstellt wird.

M.G.: Es geht also um eine Art entwicklungstheoretisch angelegte Stufenleiter, auf der einzelne Gruppen angesiedelt und damit in mehr oder weniger ‚entwickelt‘ unterteilt werden?

D.D.V.: Genau. Der Punkt ist jedoch, dass Kant dieses Prinzip als ein Metaphysisches definiert. In seiner Sprache bedeutet das, dass wir dieses Prinzip verwenden, um uns ein Phänomenon zu veranschaulichen – in diesem Fall etwa, um den Zusammenhang zwischen physischem Aussehen und moralischem Charakter zu erklären (als Beispiel ließe sich hier wieder auf die vermeintliche angeborene Faulheit von Menschen aus der Südsee verweisen). Dabei konstituiert dieser Zusammenhang aber gerade keine wissenschaftliche Erkenntnis, denn, wie Kant noch in der Kritik der Urteilskraft ausführen wird, kann die Teleologie kein bestimmendes, also im strengen Sinne wissenschaftliches, Urteil formulieren. Sie gilt Kant vielmehr als Heuristik. Dies hat uns zu dem Ergebnis geführt, dass Kant nicht als Begründer einer modernen Wissenschaft der ‚Race‘ gelten kann. Nichtsdestotrotz spielt die Teleologie als Vereinigung der Theorie mit der Praxis doch eine wesentliche Rolle in der Diskriminierung von Teilen der Bevölkerung (Frauen und Bewohner:innen der damaligen Kolonien) – auch in seiner Rechtslehre. Diese Gruppen können laut Kant keine aktiven Bürger:innen aus Mangel an bürgerlicher Persönlichkeit sein [4].

M.G.: Bekanntermaßen kann in der Wertung der Teleologie im Hinblick auf Naturprozesse eine Abgrenzung der Romantiker:innen von Kant gesehen werden. Die Teleologie wird hier als Teil der wissenschaftlichen Betrachtungsweise etabliert. Bereits der junge Schelling hielt die kantische Trennung in ein Reich der Natur und ein Reich der Freiheit für unbefriedigend. Wenn der Mensch in Kontinuität mit der Natur betrachtet werden will, dann müssen auch teleologische Prozesse in der Natur ausgemacht werden. In dieser Konsequenz folgten ihm etwa Lorenz Oken, Henrich Steffens und auch Friedrich Schleiermacher.

Diese Konsequenz erscheint ja erstmal sympathisch, weil plötzlich Tiere und Pflanzen nicht mehr in einer kategorialen Trennung vom Menschen verstanden werden, sondern ihr Verhältnis durch ein inklusives Moment angereichert wird. Dementsprechend wird sich gegenwärtig gern auf die romantische Naturphilosophie in post-anthropozentrischen Debatten bezogen. Im Unterschied zu Kant tritt in der romantischen Naturphilosophie die Teleologie tragend in den Vordergrund. Überall ist von Prozessen die Rede und der Mensch wird nicht in ontologischer Trennung, sondern in gradueller Kontinuität zur Natur gedacht. Einerseits bieten sich damit Theoriegehalte zur Deutung eines stark inklusiven Mensch-Natur-Verhältnisses. Andererseits steht die Vorstellung im Hintergrund, dass sich die Vernunft bzw. der Geist erst in einem stetigen Prozess von der Natur emanzipiert. Einige ‚Racen‘ seien hier schon weiter als andere. An der Spitze steht – wenig überraschend – die europäische ‚Race‘.  Würdest du sagen, dass Kant an dieser Stelle anschlussfähiger für nicht-rassistisches Denken ist als die Romantiker:innen?

D.D.V.: Mit Blick auf die Rezeption, könnte diese Frage durchaus bejaht werden. Die Tatsache, dass für Kant das teleologische Urteil nicht als bestimmendes, sondern bloß als reflektierendes Urteil gilt – sie ihm also nicht als streng wissenschaftlich, sondern als bloße Heuristik gilt –, hat viele Philosoph:innen in der Nachkriegszeit sowie in der Postmoderne inspiriert. Autor:innen wie Hannah Arendt und Jean-François Lyotard haben in diesem Urteil die Möglichkeit gesehen, eine Kommunikation zu gründen, die nicht ausgrenzend ist.  Das teleologische Prinzip, verstanden als reflektierendes Urteil, bietet in diesen Deutungen das Potenzial für „Übergänge“ zwischen ungleichen Sprachen. [5]

Gerade die kantische Trennung zwischen einem Reich der Freiheit und einem Reich der Natur kann jedoch, wie es etwa auch Adorno gegenüber seinen Studierenden ausführte, für anti-rassistisches Denken zentral sein. Der von Kant aufgemachte Dualismus ist eine notwendige Bedingung der Kritik, nur so kann die Wirklichkeit am Ideal der Vernunft gemessen werden. Gleichzeitig muss Kants Trennung keineswegs jede Umwelt- oder Tierethik negieren, denn gleichzeitig hat Kant in der Tugendlehre von besonderen Pflichten in Ansehung der Natur gesprochen. In den letzten Jahren haben Autoren wie Martin Seel eine Ethik der Naturästhetik auf Basis dieser Unterscheidung, also aus einem Abbruch der Kontinuität zwischen Menschen und Natur, formuliert. Demnach scheint der romantische Monismus nicht per se anschlussfähiger als der kantische Dualismus zu sein. Und doch müssen natürlich die Zusammenhänge, die Kant aus dem teleologischen Prinzip zieht, wie die Schriften über ‚Race‘, immer wieder kritisiert werden. Deshalb finde ich, dass es gegenüber Kant wie auch Autor:innen der Romantik notwendig bleibt, immer eine kritische Haltung zu behalten. 

M.G.: Dies spricht doch dafür, sich nach wie vor mit besagten Autor:innen auseinanderzusetzen und sich vor allem die Methode ihres kritischen und systematischen Denkens anzueignen. So hatte ja etwa Michel Foucault in seinem berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung als Reminiszenz an Kants gleichnamige Schrift gerade im Sinne einer solchen kritischen Haltung an Kant angeknüpft. Ein einschlägiges Zitat aus jenem Aufsatz hat Corine Pelluchon ihrem Projekt einer neuen Aufklärung vorangestellt: Aufklärung „darf man sicher nicht als eine Theorie, eine Lehre und noch nicht einmal als ein durchgängiges, in Akkumulation begriffenes Wissenskorpus ansehen; man muss sie als eine Haltung, als ein ethos, als ein philosophisches Leben begreifen […]“ [6]. Schließlich spricht Marcus Willaschek in seiner neuen Kant-Darstellung von einer „Revolution des Denkens“ [7]. Trotz aller post-kolonialistischen Interventionen scheint Kant nach wie vor ein Gewährsmann kritischen Denkens zu sein. Was meinst du: Was können wir nach 300 Jahren noch immer von ihm lernen?

D.D.V.: Meiner Meinung nach ist das wichtigste Erbe, das uns Kant gelassen hat, die moralische Pflicht zum Selbstdenken und zur Selbstkritik sowie die Einsicht, dass Freiheit und Autonomie nur möglich sind, wenn wir kritisch auch gegenüber uns selbst sind, weshalb ich Willaschek und Foucault zustimme. Zudem hat uns Kant mitgegeben, dass wir, um moralisch sein zu können, auch Freiraum und Differenzen kultivieren müssen. Deshalb – so hat es auch Heiner Klemme neulich in seinem Buch Die Selbsterhaltung der Vernunft. Kant und die Modernität seines Denkens (Frankfurt am Main 2023) erwähnt – lehrt uns Kant, ab und zu Ferien von der Vernunft zu machen, konkret sich auch mal mit Freund:innen und einem guten Wein einen schönen Abend zu machen.  

 

 

[1] Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werke. Akademie Ausgabe Bd. IV. Berlin 1900ff., S. 42

[2] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Ders.: Werke. Akademie Ausgabe. Bd. V. Berlin 1900ff., S. 86.

[3] Immanuel Kant: Über den Gebrauch telelogischer Principien in der Philosophie. In: Ders.: Werke. Akademie Ausgabe. Bd. VIII. Berlin 1900ff. S. 164.

[4] Vgl.: Immanuel Kant: Anfangsgründe der Rechtslehre. In: Ders.: Werke. Akademie Ausgabe. Bd. VI, Berlin 1900ff., S. 314.

[5] Hannah Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy, ed. & intro. Ronald Beiner, New York 2000; Jean-Francois Lyotard: The Differend. Phrases in Dispute. Ed. G. Van Den Abbeele, Manchester 1988.

[6] Michel Foucault: Was  ist Aufklärung? In: Ders.: Schriften. Bd. 4. Frankfurt/Main 2005, S. 706f.

[7] Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens. München 2023.