Uwe Wittstock , 01.12.2018

Mein Freund, der Baum – eine Kontroverse im Garten

Der Literaturkritiker Uwe Wittstock und seine Birke im Gespräch

In der Großbuchhandlung unserer Stadt bestaunte ich neulich einen prächtigen Büchertisch zum Thema Bäume. Seit dem Millionenerfolg von Peter Wohllebens Das geheime Leben der Bäume lässt der Buchmarkt forstwirtschaftlich nichts mehr aus. Da wird Die geheime Sprache der Bäume entschlüsselt oder In 80 Bäumen um die Welt gereist. Wir werden wahlweise informiert über Das Wissen der Bäume, Das Gedächtnis der Bäume und den Gesang der Bäume. Es gibt Magische Bäume, Mythische Bäume, den Geist der Bäume, den Zauber der Bäume und Die Bäume und das Unsichtbare. Wohlleben selbst lehrt uns überdies noch Bäume verstehen. Was uns Bäume erzählen, wie wir sie naturgemäß pflegen. Den Kindern soll all das nicht vorenthalten bleiben, weshalb Wohlleben in zwei altersgerechten Werken fragt Hörst Du die Bäume sprechen? und Wo sind die Baumkinder?.

Erstaunt wandte ich mich in der Buchhandlung zum Nebentisch, wo Der Wald, Wilde Wälder, Das verborgene Leben des Waldes und 111 Gründe, den Wald zu lieben auf mich warteten. Dazu Sehnsucht Wald, Geheimnis Wald, Mythos Wald und Die Magie des Waldes. Versprochen wird Die wertvolle Medizin des Waldes, Die heilende Kraft des Waldes und Im Wald baden. Der Heilpfad zu Glück und Gesundheit.

Ich war sofort begeistert, habe alles gekauft, und die Ausbeute der Birke in unserem Garten gezeigt. Natürlich wollte ich wissen, wie ihr geheimes Leben so aussieht, was sie zu erzählen hat, wie es um ihre Magie, ihren Geist und Gesang bestellt ist und wie das mit dem Waldbaden bei ihr ginge: „Muss ich mich dazu ausziehen?“

Birke: „Lass mich mit dem Eso-Scheiß zufrieden.“

Ich: „Wieso? Millionen Leute entdecken ihre Liebe zu den Bäumen. Der Wald ist eine tiefe spirituelle Erfahrung für sie.“

Birke: „Spirituell? Meine Fresse.“

Ich: „Warum nicht? Sie schlafen zu Füßen der Bäume und umarmen sie.“

Birke: „Füße? Siehst Du hier Füße? Wehe, du fängst an, mich zu begrapschen. Finger weg! Nimm sie weg!“

Ich: „Hab Dich nicht so. Der postmoderne Mensch braucht Nähe zur Natur. Er will die egoistische Ausbeuterhaltung der Moderne ablegen.“

Birke: „Verblödest Du allmählich? Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir Bäume haben ein geheimes Leben, erzählen, zaubern, singen – verfügen also über all den anthropromorphen Klimbim, der uns derzeit nachgesagt wird. Dann müssten diese egoistischen, emotional ausbeuterischen Baumanbeter unsere Autonomie respektieren und können uns nicht einfach umarmen, wie sie wollen. #Metoo! Oder andererseits: Wir sind schlicht nur Holz ohne alle romantischen Zutaten. Dann braucht es keinen Respekt. Dann kann man sich aber das Spiritualitäts-Gefasel sparen – und peinliche Umarmungen auch.“

Ich: „Du machst es Dir zu leicht. Die Leute unserer gnadenlos aufgeklärten Gegenwart sind emotional bedürftig. Klar, sie projizieren ihren Wunsch, in einer beseelten Welt zu leben, auf die Natur, den Wald, die Bäume, die Tiere. Aber das schadet doch keinem. Sie beerdigen ihre Lieben neuerdings nicht mehr auf Friedhöfen, sondern in Friedwäldern, weil ihnen der Wald das Gefühl gibt, wieder in den Kreislauf der Welt einzugehen, geborgen zu sein in der Ordnung der Natur. Wenn sie deshalb sanfter, schonender mit Ökosystemen umgehen, ist das ein Schritt in eine vernünftige Richtung.“

Birke: „Mein Gott, das ist so ein bescheuertes Pipi-Langstrumpf-Denken: Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt. Nur weil die Leute emotional bedürftig sind, können sie sich ihr Bild von der Natur noch lange nicht malen, wie sie es gern hätten. Das ist nicht vernünftig, sondern Wunschdenken.“

Ich: „Sei nicht kleinlich, so ein bisschen Wunschdenken tut keinem weh.“

Birke: „Keinem weh? Das ich nicht lache. Allein schon dieses abgenudelte Klischee: Geborgen in der Ordnung der Natur. Die Leute heute scheinen von Natur keinen Schimmer mehr zu haben. Darf mich mal an ein Grundgesetz dieser Ordnung erinnern, nämlich daran, dass der Starke den Schwachen ermordet und frisst? Straflos! Im Gegenteil, er wird sogar mit mehr Lebenskraft und höheren Lebenschancen belohnt. Ein Grundgedanke der Zivilisation dagegen zielt vom Neolithikum bis zur Menschenrechtserklärung darauf, die Überlebenschancen des Schwachen zu vergrößern. Okay, ich will damit nicht behaupten, in jedem verklärten Bäumeumarmer stecke ein heimlicher Sozialdarwinist, der Unterlegenen das Lebensrecht abspricht. Aber ihre verkitschte Weltsicht macht sie letztlich wehrloser gegen Tendenzen zur Rebrutalisierung der Gesellschaft, als sie es sein könnten.“

Ich: „Also jetzt übertreibst du maßlos. Muss ich wirklich die Tatsachen aufzählen, die zeigen, wer derzeit der Täter und wer das Opfer ist, der Mensch oder die Natur? Klimawandel, Artensterben, Umweltgifte, Wassermangel, Plastik in den Meeren, Feinstaub in der Städten, Genmais auf den Feldern, Atommüll in der Erde. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Zum Beispiel um zwei Einträge, die dich beunruhigen sollten: Saurer Regen, Waldsterben.“

Birke: „Du bist noch schwachsinniger als ich dachte. Du sitzt den einfachsten Denkfehlern auf. Klar, die Natur muss geschützt werden, denn sie ist gefährdet. Gut. Aber zugleich ist sie auch gefährlich. Lebensgefährlich. Hier in deinem romantischen Landliebe-Gärtchen kannst Du von der angeblich freundlichen, fröhlichen, friedlichen Natur schwärmen. Aber weißt Du, was da draußen in einem echten Wald los ist? Mord und Totschlag. „Im Wald baden. Der Heilpfad zu Glück und Gesundheit“ – wenn ich so was höre! In Jahrhunderten, in denen die Menschen gezwungen waren, ständig im Wald zu baden, weil sie noch keine Siedlungen, noch keine Zivilisation gab, lag ihre Lebenserwartung, wenn’s hoch kam, bei dreißig oder vierzig Jahren. Heilpfad zu Glück und Gesundheit, das ich nicht lache.“

Ich: „Ja, zugegeben. Aber jetzt droht unser angeblich so zivilisiertes Zeitalter mit seiner hemmungslosen Verwertungslogik die Lebensgrundlagen komplett zu zerstören. Da ist es doch nur gut, wenn eine neue Sensibilität um sich greift für die Natur, den Wald, die Bäume, die Tiere. Sicher, die neue Sensibilität ist verbunden mit einiger Sentimentalität. Der Naturschutz treibt manche esoterischen Blüten. Aber ist das so schlimm? Wir Menschen haben nun mal ein von Mythen und Magie geprägtes Seelenleben. Da geht es nicht immer ganz rational zu. Ihr Birken seid da wohl aus anderem Holz geschnitzt.“

Birke: „Selbstverständlich ist das schlimm, es ist sogar katastrophal. Mythen und magisches Denken sind nie harmlos, sondern entsetzlich unheilvoll, sobald sie überhand nehmen. Von der Begeisterung für den Wald ist es nicht weit bis zur Begeisterung für den deutschen Wald. Ich muss dir das doch nicht vorbuchstabieren, das gehört zum kleinen politischen Einmaleins. Die Romantik war nie unschuldig. Pack Deine Bücher wieder ein, bring sie zurück in die Buchhandlung und tausch sie ein gegen Elias Canettis Masse und Macht. Der hat erlebt, als was sich die blinde, oder zumindest stark kurzsichtige Verehrung für den deutschen Wald und deutschen Baum einmal entpuppte: „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: Es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, Ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen.“

Das Gespräch führte Uwe Wittstock im Dezember 2018 in seinem Garten.

Diane Cook & Len Jenshel: „Das Wissen der Bäume“, Knesebeck Verlag 2017.