Schwarze Nachtunholde im Romantikerhaus Jena?
„Nun, ihr gemeinen, schwarzen Nachtunholde! Was macht ihr da?“ [1] – Mit diesen Worten wendet sich der königliche Heerführer Macbeth in William Shakespeares gleichnamiger Tragödie an die drei Hexen und ist bereit, in einer ebenso bizarren wie unheimlichen Geisterbeschwörung seine Zukunft zu erfahren. Betritt man die Ausstellung „Romantik schwarz-weiß? Französische Druckgraphik des 19. Jahrhunderts“ im Romantikerhaus Jena, mag einem die Frage Macbeths auf zweifache Weise begegnen.
Zum einen durch Eugène Delacroix’ berühmte Darstellung der Szene, die zu den wirkmächtigsten und prominentesten Exponaten der Ausstellung zählt. In ihr ist der Protagonist der Tragödie, der einer fantastischen Welt irrealer Erscheinungen gegenübersteht, mit fragend-unsicherem Blick gezeigt. Mehr noch als das bekannte Sujet, vermag den Betrachter jedoch Delacroix’ meisterhafte Bildgestaltung in den Bann ziehen. Denn die Figuren treten in einem unübersichtlichen Gewitter weißer Linien aus einem tiefschwarzen Hintergrund hervor. Wie ein flirrendes Geflecht bilden die Linien nicht nur Macbeths Gesicht und Körper, sondern auch den Dampf des brodelnden Kessels, lassen die glotzenden Fratzen der zaubernden Hexen erscheinen und betonen doch immer auch ihre eigenen bildkünstlerischen Qualitäten als Linien, mit denen sie sich über die Dunkelheit legen. Gerade durch dieses Spiel von Form und Inhalt führt der Künstler aber nicht nur die genannte Szene vor Augen, sondern vermittelt auch ihren unheimlichen Charakter: Es entsteht eine zwielichtige Finsternis voller gespenstiger Orientierungslosigkeit, mit Blitzen und Zischen in unsicherem Chaos; eine vibrierende Geisterwelt in Schwarz und Weiß, die der Romantiker virtuos im Medium der Lithographie zu gestalten versteht.
Zum anderen mag man die Frage Macbeths keck auf die Ausstellung selbst übertragen, denn die Präsentation der über 50 schwarz-weißen Druckgraphiken im Romantikerhaus Jena ist nicht selbstverständlich. Schließlich ist das Museum der Jenaer Frühromantik verpflichtet, die nur wenige Jahre von 1796 bis 1803 umfasst und deren Protagonisten Gedichte, Essays, philosophische Schriften und Übersetzungen hervorbringen, nicht jedoch Gemälde oder Druckgraphiken. Und sie sind natürlich auch keine Franzosen. Was also machen die Bilder hier?
Die Ausstellung „Romantik schwarz-weiß?“ ist aus einer Kooperation des Romantikerhauses mit der „Forschungsstelle Europäische Romantik“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena hervorgegangen. Die Zusammenarbeit hat ein für Kunstausstellungen ungewöhnliches Ziel. Nicht nur soll die Wechselausstellung einen Blick über die Jenaer Frühromantik hinauswerfen und die Perspektive des Museums auf die französische und damit europäische Romantik weiten, sondern auch die seit Jahren rege Romantik-Forschung in Jena widerspiegeln. Das Romantikerhaus wurde 1981 als Gedenkstätte der deutschen Frühromantik eröffnet und bildet in der städtischen Kulturlandschaft spätestens mit seiner Umgestaltung 1999 einen festen Ort der Erinnerung. In jüngerer und jüngster Vergangenheit kann Jena insbesondere durch die universitäre Forschung am Graduiertenkolleg „Modell Romantik“ und an der „Forschungsstelle Europäische Romantik“ als ein Zentrum der interdisziplinären Beschäftigung mit der Romantik gelten. Die Romantik ist in Jena also auf erfrischende Weise präsent und diese Präsenz im Museum widerzuspiegeln, ging der Ausstellung als Motivation voraus. In diesem Sinne geht die Ausstellung auch weniger einer These nach, sondern verfolgt zwei an der Forschungsstelle diskutierte und offene Fragen. Zum einen, inwiefern sich Einflüsse der französischen Romantik auch in der französischen Kunst des späteren 19. Jahrhunderts finden lassen, und zum anderen, ob sich das Medium der Druckgraphik und damit des Schwarz-Weiß als eigentlich romantische Kunstform erweisen könnte. Die letzte Frage – so ein eröffnender Wandtext innerhalb der Ausstellung – stellt sich insbesondere deshalb, da man die Romantik in Frankreich für gewöhnlich mit Künstlern wie Eugène Delacroix oder Théodore Géricault verbindet, deren Bilder sich durch ein energisches Freiwerden der Farbe auszeichnen. Zwar werden am Ende die beiden Fragen nicht final beantwortet, aber die gezeigten Bilder in eine lebendige Auseinandersetzung eingeordnet. Gleichzeitig erhält man indirekt eine Vorstellung davon, mit welchen Perspektiven über die europäische Romantik nachgedacht wird.
Spurensuche: Klare Bezüge und Überraschungen im ersten Ausstellungsraum
Das Romantikerhaus Jena verfügt über zwei kleine Wechselausstellungsräume, die an jede Sonderausstellung die Herausforderungen einer begrenzten Ausstellungsfläche stellen. Umso pointierter gestaltet sich der Rundgang, der in diesem Fall über 50 zuweilen eng gehangene Exponate aus einer Privatsammlung bereithält. Besucht man die Ausstellung, bedarf es also erst einmal eines Moments der Orientierung. Insgesamt vier Texttafeln kontextualisieren die Leitfragen und Themenfelder. Aber mit welcher davon beginnen? Die Objektschilder der Exponate lassen zwar erkennen, dass die Bilder nach Künstlern und Entstehungszeit chronologisch geordnet sind, aber eine klar ersichtliche Abfolge der Wände mit Startpunkt und Ziel zu identifizieren, fällt schwer. Diese im ersten Moment entstehende Orientierungslosigkeit ist jedoch durchaus gewollt. Denn so schwer es fallen mag, einen Beginn der Ausstellung auszumachen, so schwer ist es auch, einen Beginn oder ein Ende der Romantik in Frankreich exakt zu bestimmen. Ganz im Sinne einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer kunst- und kulturhistorischen Strömung, die sich formal und inhaltlich langsam zu konstituieren beginnt und in ihren Hoch- und Nebenphasen nicht immer leicht zu greifen ist, vermittelt die Ausstellung eben jene Orientierungslosigkeit, die sich bei der Auseinandersetzung mit der Romantik anfangs zwangsläufig einstellt. Entsprechend gilt es, der Aufforderung des begleitenden Katalogs zu folgen, sich auf jedes einzelne Bild im Sinne der Leitfragen aufs Neue einzulassen und immer wieder genau hinzusehen.
Bei aller anfänglichen Suche nach einem Beginn zeichnet sich der erste Raum aber dennoch durch einen Anziehungspunkt aus. Eine Wand ist mit einem dunklen, zurückhaltenden Blau gestrichen und zeigt Lithographien zweier Protagonisten der französischen Romantik: Eugène Delacroix und Théodore Géricault. Delacroix’ Macbeth consultant les sorcières (1825) und Méphistophélès et Faust fuyant après le duel (1827) gehören zu den bedeutendsten Exponaten und spiegeln die Leitfragen der Ausstellung exemplarisch wider. Sie zeigen nicht nur das romantische Interesse an nicht-antiken literarischen Stoffen im Allgemeinen sowie an – aus französischer Sicht – dem ‚Romantiker‘ Goethe und William Shakespeare im Besonderen, sondern auch die Lust, sich im Medium der Lithographie auszudrücken. Die 1798 erfundene Lithographie gehört zu den bevorzugten druckgraphischen Techniken des 19. Jahrhunderts und wird gerade auch bei romantischen Künstlern aufgrund ihrer produktionsästhetischen Eigenschaften geschätzt. Denn mehr noch als die Radierung ermöglicht die Lithographie dem Künstler, seine individuelle Handschrift und Subjektivität in das Werk einzuschreiben und malerische Effekte hervorzubringen, welche die Druckgraphik als Medium der Linie eigentlich nur schwer gestalten kann. Damit thematisiert die Ausstellung am Beispiel von Delacroix und an exponierter Stelle, was sie ebenfalls an zahlreichen anderen Bilder immer wieder betont: Nicht nur die Bildmotive können von der Romantik beeinflusst sein, sondern auch mediale Eigenschaften kommen dem romantischen Kunst- und Selbstverständnis der Künstler des 19. Jahrhunderts entgegen. Sei es, dass sie sich in fantastischen Bildern verstärkt als Individuen ausdrücken wollen, sei es, dass die Motive es verlangen, zwielichtige, traumhafte und irrlichternde Darstellungen zu gestalten, wofür malerische Effekte auch in der Druckgraphik genutzt werden.
Mit diesem Fokus auf formalästhetische Beobachtungen lenkt die Ausstellung den Blick auf medienspezifische Phänomene, denen man auf den ersten Blick möglicherweise keine Aufmerksamkeit schenkt; insbesondere bei Bildern, die man für gewöhnlich nicht der französischen Romantik zuordnen würde, etwa von Vertretern der sogenannten Schule von Barbizon. Die Schule von Barbizon wird in der Regel als wichtige Etappe auf dem Weg zum Impressionismus angesehen, da Künstler wie Théodore Rousseau, Charles-François Daubigny oder Narcisse Virgile Díaz de la Peña in ihren Landschaftsbildern eine Freisetzung der Farbe und Pinselführung erkennen lassen. Die Ausstellung betont, dass das Wort ‚Schule‘ mit Vorsicht zu genießen sei, denn die unscharfe Bezeichnung ‚Schule von Barbizon‘ wird erst in den 1890er Jahren geprägt und es ist umstritten, welche Künstler diesem Kreis sinnvoll zugerechnet werden können. Zudem ist die Arbeits- und Darstellungsweise der Künstler alles andere als einheitlich. Trotzdem lassen sich laut der Texttafeln Gemeinsamkeiten feststellen, die nicht zuletzt in der Tradition der Romantik stehen. Dies gilt im Falle der monochromen Druckgraphik nicht nur für das dargestellte Sujet, sondern auch für die Art der Darstellung, die Behandlung der Flächen und Linien.
Bei der Wahl der Bildmotive lassen sich eine Abwendung von der klassischen Ideallandschaft und eine Hinwendung zu vorher unbeachteten Naturansichten beobachten. Für sie wurde der Begriff ‚paysage intime‘ geprägt, da sie keine pathetischen Landschaften mit antiken oder religiösen Szenen zeigen, sondern scheinbar belanglose Ansichten. Ohne lang tradierten Kompositionsmustern zu folgen, führen die oft kleinformatigen Bilder reine Naturdarstellungen vor Augen, kommen mit wenig Personal aus oder konzentrieren sich auf weidendes Vieh. Durch den Fokus allein auf die Landschaft vermitteln die Bilder nicht selten einen emphatischen Naturbegriff und eine liebevolle Hinwendung zu Details, sodass etwa einzelne Bäume wie beseelte Individuen erscheinen können. Eine große Erzählung oder Handlung sucht man hingegen vergebens. Dafür zieht die Art der Darstellung die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, denn sie emanzipiert sich von bis dahin gültigen Mustern und Sehgewohnheiten. Sowohl die Gemälde als auch die Radierungen der Barbizonisten wirken nicht selten skizzenhaft, unvollendet und ebenso emotional wie schnell gestaltet. Auch hier nutzen die Künstler die Möglichkeiten des Cliché verre [2], der Radierung und Lithografie und laden dazu ein, sich in die hochgradig unbestimmten Landschaften zu versenken. Die Anregung zum träumerischen Nachdenken gilt insbesondere für die Bilder von Camille Corot, dessen lyrische Landschaften nicht selten flüchtig hingeworfen erscheinen. Corot ist ebenfalls mit einem Bild in der Ausstellung vertreten, die es durch die Betonung der Darstellungsart schafft, einen subtilen thematischen Bogen von den Arbeiten Delacroix’ über die Bilder der Barbizon-Schule bis in den zweiten Ausstellungsraum zu spannen.
Zweiter Ausstellungsteil: Romantische Streifzüge durch das späte 19. Jahrhundert
Der zweite Ausstellungsraum fokussiert die Entwicklungen der französischen Druckgraphik und ihrer romantischen Bezüge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwei Wände mit Karikaturen von Honoré Daumier und virtuosen Pariser Stadtansichten von u. a. Charles Meryon, Maxime Lalanne und François Pierdon verorten die Bilder des Ausstellungsraumes im Kontext der Entwicklungen und Umbrüche des modernen Frankreichs. Zu ihnen gehören die städtebauliche Umgestaltung von Paris durch Georges-Eugène Haussmann, Zerstörungen im Zuge von Revolutionen und Kriege sowie die pointierte Thematisierung des modernen Ausstellungsbetriebs im Salon und seiner Besuchermassen oder der Erfindung der Photographie.
Insbesondere die Photographie hatte auf die Entwicklung der Druckgraphik im 19. Jahrhundert einen entscheidenden Einfluss. Im Zuge des sogenannten Etching Revivals in England und Frankreich gründete sich etwa die Société des Aquafortistes, die sich der Wiederbelebung der Radierung als druckgraphische Technik und künstlerisches Ausdrucksmittel verschrieb. In klarer Abgrenzung zur Photographie als dezidiert modernes Ausdrucksmittel versuchte man, der Radierung neue Perspektiven zu eröffnen und sie als eigenständige Kunstform vom reproduzierenden Handwerk abzugrenzen. Den Vertretern der Société widmet der zweite Raum eine prominente Wandfläche. Betont wird erneut der Hang zur Individualität, aber auch die romantisch geprägte Vorliebe für surreale und ambivalente Motive, traumhafte Szenerien und die zunehmende Bedeutung der Phantasie als Grundlage der Bildproduktion. Gezeigt werden zwielichtige Gestalten wie Ein Schmuggler von Théodule Ribot, irritierende Motive wie ein Eichhörnchen mit Fliege von Jules Jacquemart und Félix Bracquemonds Störche, aber auch solche Bilder, deren Darstellungen gleich auf den ersten Blick an die Romantik erinnern. Zu ihnen zählt etwa die nächtliche Szenen Am Wasser von Alphonse Aufray de Roc’ Bhian und Auguste Feyen-Perrins Bucht von Kerloche.
Eine besondere Strahlkraft geht von den Druckgraphiken aus, mit denen sich der Ausstellungsrundgang schließt. Es sind phantasievolle Bilder von Félix Hilaire Buhot, Rodolphe Bresdin, Félicien Rops und Henri Fantin-Latour, die die Fragen und Themenfelder der Ausstellung hintersinnig bündeln. Die Bedeutung der ausschweifenden Phantasie und die Abgründe der menschlichen Seele in Trieb und Traum als Grundlage der Bildproduktion spiegeln sich ebenso wider wie die Inszenierung der Künstlerindividualität mithilfe der spezifischen druckgraphischen Ästhetik. Mit Fantin-Latour wird außerdem das wachsende bildkünstlerische Interesse an Literatur und Musik thematisiert sowie die Bestrebung, die Ästhetik des Musikalischen auch im Medium des Bildes ansichtig werden zu lassen. Spätestens hier kann man das zuvor Gesehene und Gelesene noch einmal lustvoll aufspüren und die eigenen Gedanken im besten romantischen Sinne schweifen lassen.
So klein die Ausstellung „Romantik schwarz-weiß?“ also auch sein mag, die pointierte Auswahl einer Vielzahl bekannter und unbekannter Vertreter der französischen Druckgraphik ermöglicht einen intensiven Besuch, der nicht nur die Einflüsse der Romantik im 19. Jahrhundert vor Augen führt, sondern auch für die Ästhetik und Schönheit der Druckgraphik sensibilisiert. Zur vertiefenden Lektüre lädt ein Katalog ein, dessen Essays von den Kuratoren der Ausstellung und Studentinnen der Forschungsstelle geschrieben wurden.
Katalog
Romantik schwarz-weiß? Französische Druckgraphik des 19. Jahrhunderts, hg. von Johannes Grave/Max Pommer, Städtische Museen Jena, Jena 2023. (10,00 €)
Anmerkungen
[1] William Shakespeare: „Macbeth“, in: Ders.: Dramen. Nach der Schlegel-Tieck-Ausgabe letzter Hand, hg. von Dietrich Klose, Stuttgart 2014, S. 997.
[2] Bei dem Cliché verre handelt es sich streng genommen um ein photographisches, nicht um ein druckgraphisches Verfahren. Zur Herstellung eines Cliché verre wird eine Glasplatte mit einer lichtundurchlässigen Deckschicht bestrichen und die Zeichnung anschließend in die Schicht eingeritzt. An den entsprechenden Stellen wird die Glasplatte lichtdurchlässig. Belichtet man die Platte nun auf ein lichtempfindliches Papier, erscheint die eingeritzte Zeichnung als positive, seitenverkehrte Zeichnung und kann beliebig oft vervielfältigt werden.