Dunkelrede. Konzeptionen esoterischen Schreibens in Aufklärung und Romantik
Das Zeitalter der Aufklärung ist, einer gängigen literaturgeschichtlichen Erzählung zufolge, durch eine Normierung des Schreibstils gekennzeichnet, die ›Verständlichkeit‹ und ›Popularität‹ einfordert. Mitteilungsweisen, die einen ›unverständlichen‹ Eindruck hinterlassen, werden zum Defizit und ›verrätselte‹ Ausdrucksweisen zur Untugend erklärt; ›Esoterik‹ wird als rück- und widerständige Praxis in Zweifel gezogen. Von einem Modernitätsbewusstsein getragen habe die aufklärerische Literatur – mit oder ohne bewusste Absicht der Profanierung – den Versuch unternommen, das Wissen von menschlichen und göttlichen Dingen zu ›enthüllen‹ und die Wahrheit ›ans Licht zu bringen‹. Nur wenigen Ausnahmegestalten, deren Zugehörigkeit zur Aufklärung fragwürdig bleibt, wie Klopstock oder Hamann, wird zugestanden, die pathetische Dunkelheit geschätzt und einen Sinn für das ›Geheimnis‹ bewahrt zu haben (vgl. Kaiser 1963, 155). Erst die Frühromantik habe den ›Zwang zur Verständlichkeit‹ überwunden und eine Literatursprache hervorgebracht, die sich dem Verständnis der ›Uneingeweihten‹ entziehe (Frühwald 1983; Stockinger 1988; von Petersdorff 1996, 9f., 201f.). Als Schlüsselfigur in der Theoriegeschichte der Dunkelheit wird Friedrich Schlegel angeführt, da er eine philosophisch-theologische Aufwertung des ›Dunklen‹ vollzogen und damit der modernen Literaturtheorie und Hermeneutik den Weg bereitet habe (Schumacher 2000, 159–255; Spoerhase 2010; Al-Taie 2022, 37–44; Christen 2023, 12f.).
Die geplante Tagung macht es sich zur Aufgabe, diese Geschichtskonstruktion, die in der germanistischen und ideengeschichtlichen Forschung zur ›Dunkelheit‹ weithin akzeptiert ist, zu überprüfen. Motivieren lässt sich dieses Vorhaben durch den Befund, dass die Forschung längst nicht mehr davon ausgeht, dass die Aufklärung das Ideal einer egalitär strukturierten Öffentlichkeit und einer restlosen Verstehbarkeit der Gesamtwirklichkeit verfolgte (vgl. z.B. Neugebauer-Wölk 1999; Simonis 2002; Melzer 2014; Smith 2024). Eine Reihe von Studien zeigt etwa, dass die (Früh-)Aufklärung– im Rückgriff etwa auf den Pythagoreismus und auf Platon – ›esoterische‹ Schreib- und Kommunikationsformen (vgl. Jaffro 1998; Zurbuchen 1998; Neumann 2008; Mulsow 2018, 291f.) entwickelt hat. Gegenaufklärerische und romantische Schriftsteller:innen konnten ihre Esoterikmodelle in Auseinandersetzung mit Autoren wie Bacon, Leibniz oder Lessing ausarbeiteten, die bereits eine Politik der Dunkelheit und entsprechende Lektürepraktiken kultiviert hatten. Solche intertextuellen Beziehungen legen nahe, die allgemein akzeptierte literaturgeschichtliche Epochenkonzeption, die eine geradlinige Entwicklung von aufklärerischen Verständlichkeitsnormen hin zu romantischen Dunkelheitspostulaten annimmt, neu zu diskutieren.
Ziel der Tagung ist es, die politischen, pädagogischen, anthropologischen und metaphysischen Aspekte dunklen Schreibens differenziert zu rekonstruieren und die adressatenbezogene Enigmatisierung von Einzelwerken in genauen Lektüren nachzuvollziehen. Untersuchungen zu esoterischen Medienpraktiken und Inszenierungsmustern literarischer Gruppen sind ebenso erwünscht wie Detailstudien zur Darstellungsstrategie und Rezeptionslenkung einzelner Autor:innen. Wir bitten um Konzeptionen für 30-minütige Vorträge in Form eines kurzen Abstracts bis zum 31. Januar 2025 an Nursan Celik (nursan.celik(at)uni-bielefeld.de) und Vincenz Pieper (vincenz.pieper(at)uni-osnabrueck.de). Wissenschaftler:innen in einer frühen Karrierephase sind besonders willkommen, Beitragsvorschläge einzureichen.
Literatur (Auswahl)
Al-Taie, Yvonne: Poetik der Unverständlichkeit. Schreibweisen der obscuritas als problematisiertes Weltverhältnis bei Johann Fischart, Johann Georg Hamann, Franz Kafka und Paul Celan. Paderborn 2022.
Christen, Felix: »ins Sprachdunkle«: Theoriegeschichte der Unverständlichkeit 1870–1970. Göttingen 2021.
Frühwald, Wolfgang: Der Zwang zur Verständlichkeit. August Wilhelm Schlegels Begründung romantischer Esoterik aus der Kritik rationalistischer Poetologie, in: Silvio Vietta (Hg.): Die literarische Frühromantik. Göttingen 1983, S. 129–148.
Jaffro, Laurent: Éthique de la communication et art d’écrire. Shaftesbury et les Lumières anglaises. Paris 1998.
Kaiser, Gerhard: Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963.
Melzer, Arthur: Philosophy Between the Lines. The Lost History of Esoteric Writing. Chicago 2014.
Mulsow, Martin: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Band 1: Moderne aus dem Untergrund. Göttingen 2018.
Neugebauer-Wölk, Monika (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999.
Neumann, Hanns-Peter: Atome, Sonnenstäubchen, Monaden. Zum Pythagoreismus im 17. und 18. Jahrhundert, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2008, S. 205–282.
Neumann, Hanns-Peter: Monaden im Diskurs. Monas, Monaden, Monadologien (1600–1770). Stuttgart 2013.
Petersdorff, Dirk von: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller. Tübingen 1996.
Schumacher, Eckhard: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M. 2000.
Simonis, Linda: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2002.
Smith, Ferdinand Suarez: Eleusis and Enlightenment: The Problem of the Mysteries in Eighteenth-century Thought. Leiden 2024.
Spoerhase, Carlos: Die ›Dunkelheit‹ der Dichtung als Herausforderung der Philologie, in: Christian Scholl, Sandra Richter u. Oliver Huck (Hg.): Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Göttingen 2010, S. 133–155.
Stockinger, Ludwig: »Tropen und Räthselsprache«. Esoterik und Öffentlichkeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis), in: Klaus-Detlef Müller u.a. (Hg.): Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag. Tübingen 1988, S. 182–206.
Thouard, Denis: Geteilte Ideen. Versuche, den Leser zum Verstehen zu bringen. Berlin 2016.
Zurbuchen, Simone: Der Philosoph des 18. Jahrhunderts zwischen Esoterik und Exoterik. Zur Strategie der radikalen Aufklärung, in: Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 271–280.