Fluchtgeschichte(n)
Die Epoche der Revolutionen (ca. 1770–1820), die mit Sklavenaufständen, Bürger- und Unabhängigkeitskriegen in Europa sowie den europäischen Kolonien Nord‑, Zentral- und Südamerikas verknüpft ist und sich nachhaltig auf das politische Selbstverständnis, die sozialen Konfigurationen, philosophischen Ideale und künstlerischen Arbeiten in und jenseits von Europa auswirkte, wurde bis ins 20. Jahrhundert vornehmlich als ‚heroisch‘ sowie ex post, u.a. mit Blick auf republikanische Verfassungsänderungen und humanitäre Innovationen, als progressiv wahrgenommen. Allerdings besitzt das Zeitalter der Revolutionen auch kontingente und gewaltförmige Kehrseiten, die mit den ca. 350.000 Menschen in Verbindung stehen, die angesichts der soziopolitischen Umbruchsgeschehen zu emigrieren genötigt waren oder als vermeintliche ‚Jakobiner‘ verfolgt wurden. Diese Zusammenhänge werden in den Geschichtswissenschaften erst seit kurzem systematisch aufeinander bezogen und im Horizont eines neuen Forschungsparadigmas untersucht, das die Epoche der Revolutionen als transatlantisches Zeitalter der Flucht und der Emigrationen beleuchtet (vgl. u.a. Diaz 2021; Pestel 2019; Jansen 2018; Jasanoff 2010).
Das Desiderat einer systematischen Erforschung der Revolutions- als Fluchtgeschichte wirft Fragen bezüglich der theoretischen Grundlagen, methodischen Ansätze und einzubeziehenden Quellen auf. Der Workshop möchte sich diesen Fragen annähern, indem er geschichtswissenschaftliche Perspektiven auf die Motive, Ausprägungen und Konsequenzen von Verbannung und Vertreibung im Zeitalter der Flucht mit einer kulturwissenschaftlich reflektierten literatur- und kunstgeschichtlichen Forschung ins Gespräch bringt. In den Literaturwissenschaften wurden bereits wichtige Studien zu den ästhetischen Darstellungsverfahren von Revolutionsflüchtlingen um 1800 sowie den Formen und Funktionen der literarischen Reflexion politischer Exilierungen im deutsch-, französisch-, englisch- und spanischsprachigen Raum vorgelegt (vgl. u.a. Eppers 2018; Stabler 2013; Estelmann/Müller 2011; Benis 2009; Mauizio 2009; Wiley 2008; Köthe 1997; Zimmermann 1984). Auch kunsthistorische Untersuchungen haben sich der Inszenierung von Flucht und Vertreibung in der Malerei sowie den Potenzialen und Grenzen der Kunst im politischen Exil um 1800 gewidmet (s. u.a. Ribbner 2022; Walczak 2019; Schnetzler 1996; Kohle 1992). Ästhetische Interferenzen und diskursgeschichtliche Parallelen zwischen Literatur und Bildender Kunst werden hinsichtlich ihrer künstlerischen Auseinandersetzungen mit Flucht und Exilierung um 1800 bislang aber eher selten in Betracht gezogen. Auch die Frage, inwiefern die mit literarischen Texten, Literaturillustrationen, Genregemälden und Porträts erzählten Geschichten von Vertreibung und Verbannung, die Geschichte der Revolutions- als Fluchtgeschichte mitbestimmten und daher in die historische Migrations- und Fluchtforschung systematisch einzubeziehen sind, ist bisher noch ungeklärt.
Der Workshop zielt darauf ab, geschichts-, literatur- und kunstwissenschaftliche Theorien, Methoden und Forschungsfragen für eine interdisziplinäre Erforschung von Flucht und Emigration um 1800 produktiv zu machen. Zentral soll es dabei um die Frage gehen, welchen Beitrag Fiktionalisierungen und Ästhetisierungen von Vertreibung und Verbannung im Zeitalter der Revolutionen spielen und welche Narrative, Bildprogramme, Topoi und Affektregime hier zu Geschichten der Flucht und Emigration verdichtet werden. Um den Dialog zwischen Literatur-, Kunst- und Geschichtswissenschaften für eine Erforschung der Revolutions- als Fluchtgeschichte zu befördern, sind exemplarische Analysen aus den genannten Disziplinen erwünscht, die ihre methodischen Zugänge reflektieren und ihr Quellenmaterial hinreichend kontextualisieren, um einen interdisziplinären Austausch zu gewährleisten. Gleichermaßen begrüßt werden Vorschläge, die theoretische und metatheoretische Annäherungen an eine interdisziplinäre Flucht- und Emigrationsforschung entwickeln. Der thematische Fokus der Vorschläge soll dabei auf ‚Verbannung‘ und ‚Vertreibung‘ im Kontext der Revolutionen im atlantischen Raum zwischen 1770 und 1820 gelegt werden, deren rechtliche, diskursive, ästhetische und affektive Dimensionen es im Rahmen des Workshops für eine Geschichte der Flucht um 1800 zu eruieren gilt.
Anmeldungen bitte bis 10. Juli 2023 an middelhoff@uni-frankfurt.de. Es sind begrenzte Teilnahmeplätze für Gäste vorhanden.
Das Programm ist unter dem unten stehenden Link einsehbar.