Gespenstische Technologie. Technik- und Medienreflexion in neoromantischen Texten um 1900
Das kulturelle Feld um 1900 ist geprägt von einer Medienrevolution (vgl. Garncarz 2006). In Alltag und Wissenskulturen schreiben sich neue Wahrnehmungsformen ein, die häufig im Wechselspiel mit naturwissenschaftlichen oder medizinischen Technologien stehen. Das Kino irritiert subjektive Wahrnehmungsmuster, Röntgenbilder und photographische Reproduktionen verschieben den Grundimpuls visueller Kultur vom ‚Abbilden des Bekannten‘ zum ‚Sichtbarmachen des Unbekannten‘. Phonographen und Fernsprecher erschließen zusätzlich neue Vermittlungstechniken, die eine vom 19. Jahrhundert geprägte Dominanz des Visuellen nachdrücklich transformieren.
Aus der Perspektive eines weiten Medienbegriffs (vgl. Maye 2010) betreffen diese Umwälzungen weitere Bereiche: Eine gesteigerte Mobilität (z.B. durch das Automobil) verlagert Sehnsuchtsorte und Fremdheitskonzepte an andere, vermeintlich abgelegenere Orte (Orient, Afrika, Weltall); und Erkenntnisse zur Physiologie menschlicher Wahrnehmung (Ernst Mach u.a.) provozieren eine Subjekt- und Sprachkrise, die sich erst auf Grundlage einer revolutionär veränderten Medialität ästhetisch entfaltet. Kurzum: Die Wahrnehmungskultur, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgebracht wurde (Crary 1996; Lauster 2007), befindet sich in den Jahrzehnten um 1900 krisenhaft auf dem Prüfstand.
Gerade in diese Zeit fällt ein kulturhistorisches Phänomen, das zumeist als epigonal verworfen wurde (vgl. Viering 2007): Die Neoromantik der Jahrhundertwende reaktiviert romantische Erzählverfahren, was sich auch in der Wiederauflage unzähliger romantischer Autorinnen und Autoren (bes. Novalis), vor allem aber in einer jungen Literatur der ‚Moderne‘ zeigt, die ausdrücklich auf romantische Topoi und Darstellungsstrategien zurückgreift (H. Bahr, M. Maeterlinck, R. Huch u.a.).
Führt man beide Diagnosen zusammen, zeigt sich eine erstaunliche Affinität dieser Neoromantik zu technologischen Innovationen: Multimediale Experimente finden um 1900 vor allem im neoromantischen Drama statt (z.B. Hofmannsthals Ballette, Vollmoellers Pantomimen); Gespenster und Doppelgänger werden im frühen Film mit neuem ontologischen Status versehen (z.B. Ewers’ Der Student von Prag); und auch in der Prosa werden Märchenprinzen mit elektrischen Bohrmaschinen bearbeitet oder unternehmen Taugenichts-Bildungsreisen mit dem Automobil (beides O.J. Bierbaum). Ob Goethes Stimme durch einen künstlichen Kehlkopf am Phonographen zurückgewonnen wird (Mynona) oder Paul Scheerbart ein unwahrscheinliches Perpetuum Mobile konstruiert: Der erzählten Handhabung von Medientechnologie wird in neoromantischen Texten stets auch die Frage nach deren anthropologischer Dimension zur Seite gestellt. Neue Möglichkeiten der Wahrnehmung provozieren eine neue Romantik, so lautet die Ausgangsbeobachtung, die in ihrer ästhetischen Strategie nicht nur technikaffin, sondern zugleich technikreflexiv auftritt.
Damit zeichnet sich eine Wendung ab, die sich bei aller Medienumwälzung im ‚Jahrhundert des Auges‘ (Becker 2010) zuvor nicht findet: Technologie und Medialität entwickeln eine eigene selbstreflexive Ebene. Zeitgleich mit neoromantischen Texten, Filmen und bildender Kunst entstehen Technikhistoriographie und Technikphilosophie (vgl. Maye/Scholz 2015). Initiativ steht dafür das erst jüngst wiederentdeckte Werk Ernst Kapps (vgl. Maye/Scholz 2019), dessen Fragestellung nach epistemologischen und anthropologischen Dimensionen technischer Medien sich Philosophie und Kulturwissenschaften um 1900 vermehrt anschließen. Als bislang unterschätztes multimediales und medienreflexives Phänomen prägt sich Neoromantik damit in Film, Buchkunst, Illustration, Theater und Literatur aus, um analog zu einer ‚Poesie der Poesie‘ (F. Schlegel) als ‚Medium des Mediums‘ aufzutreten.
Die Tagung fragt danach, inwiefern Neoromantik ästhetische Modellierungen der Romantik aktualisiert und modifiziert, um damit innovative Medientechnologien der Jahrhundertwende aufzugreifen und ästhetisch zu reflektieren. Das Ziel liegt in der Erschließung eines bisher kaum kartographierten Korpus von Texten, Filmen, Bildern und Formen, die sich nicht medienabgewandt oder medienkritisch positionieren, sondern medientechnologische Innovation als positive epistemische Öffnung auffassen und deren anthropologische Implikationen erforschen.
Organisation: Prof. Dr. Stefan Tetzlaff (Göttingen), Dr. Raphael Stübe (Frankfurt am Main)