Mittwoch 02. - Sonntag 06. Oktober 2024

Märchen und Romantik

Internationaler Kongress der Europäischen Märchengesellschaft e.V.

Märchen und Romantik – der Jahreskongress 2024 der Europäischen Märchengesellschaft betrachtet den Zusammenhang der literarischen Gattung Märchen und der Romantik genannten Bewegung. Offenkundig ist ein zeitlicher Zusammenhang, entdeckten doch die Vordenker der Romantik den Wert der schlichten Volksmärchen. Und das erfolgreichste Buch, das aus einem romantischen Impuls heraus verfasst wurde, sind die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Aber über diesen historischen Zusammenhang hinaus wurzeln romantische Bewegung und Volksmärchen in einem verwandten Lebensgefühl.


Dieses Lebensgefühl hat allerdings kaum mit dem zu tun, was heute oft romantisch genannt wird: Kerzenschein, Sentimentalität, verträumter Nostalgie. Märchen sind wenig gemütlich, keine harmlose Wunschphantasien von einer heilen Welt. Und die Romantik ist fasziniert von der „Dämmerung“, der Zeit der langen Schatten, vom Unbegreiflichen und Unheimlichen. Von dem, was unsere Formen und Normen und unser Verstehen sprengt. Von dem, was tief unter der Oberfläche ist, in unserer Welt, in unserer Geschichte, in unserer Seele.
Märchen wie Romantik unterscheiden sich von jener Sicht der Welt, die man Aufklärung nennt. Aus den Märchen spricht ein eher unbewusstes Wissen, dass Leben mehr ist als das, was wir begreifen. Die Romantik ist keine dumpfe Gegen-Aufklärung, aber doch eine sehr reflektierte und mitunter bewusst rebellierende Erinnerung daran, dass es nicht nur um die menschliche Vernunft geht. Märchen wie Romantik weigern sich, das Leben zu entzaubern, es auf Nutzen und Kalkül zu reduzieren.

Märchen und Romantik – gerade ihr Protest gegen die Entzauberung der Welt führt auch zur Gefahr, missverstanden oder gar missbraucht zu werden. Aus Märchen werden dann harmlos-sinnfreie Kindereien. Und die Romantik wurde verspießert und verbogen: Aus Rebellion wurde Biedermeier. Aus dem Staunen über die Welt Deutschtümelei. Aus Rückbesinnung auf die uns verbindende Geschichte kitschig-reaktionäre Vergangenheitsverliebtheit. Aus tiefer Erfahrung der Natur eine verlogene Naturidylle in der Zeit der industriellen Revolution. Und diese Fehlentwicklung trieb der Nationalsozialismus auf die Spitze. Die Einsicht, dass Vernunft nicht alles ist, wurde missbraucht zur Propaganda der reinen Unvernunft.
Auch in unserer Lebenszeit macht sich das Spannungsverhältnis von Aufklärung und Romantik bemerkbar. Längst haben rechtspopulistische Bewegungen das Unbehagen an der durchrationalisierten Welt und einem durchmoralisierten Denken für ihre Zwecke entdeckt. Ob dagegen eine Prävention genannte Aufklärung hilft? Oder vielleicht doch eher eine Erinnerung an die „echte“ Romantik und die märchenhafte Wahrheit des Lebens. Eine „geheimnis-sensible“ Betrachtung der Welt, die unser Bemühen um einen vernünftigen Umgang mit ihr und uns nicht ersetzt, sondern ergänzt.

Schließlich haben Märchen und Romantik noch eine entscheidende Gemeinsamkeit: den Aufruf zur „Selbstwerdung“. Zum eigenen Leben. Märchen erzählen zumeist, wie die Kleinen mutig und gegen viele Widerstände ihren eigenen Weg finden. Und das Wort Romantik ist abgeleitet vom Wort Roman. Friedrich von Hardenberg, unter dem Namen Novalis einer der kreativsten Köpfe der Romantik, schrieb: „Die Welt muss romantisiert werden ..." Das Leben als poetisches Projekt, als Ver-Dichtung. Nimm die Welt nicht als Maschine, den Menschen nicht als Funktionsträger, dein Leben nicht als programmiert. Betrachte alles als Wunder. Und lebe alles als Wunder. Staunend. Da ist mehr um uns und in uns, als wir begreifen. Nicht muss so sein wie es scheint. Alles kann sich ändern – sogar du. Nicht Zahlen und Figuren, Berechnungen und Messungen zeigen die letzte Wirklichkeit. Die geht denen auf, die singen oder küssen, die ins Leben einstimmen und es lieben.

Zu einer in diesem Sinne singenden und küssenden Annäherung an das Leben laden wir Sie herzlich ein zu unserem Kongress:
 Das Märchen und die Romantik.

Dr. Heinrich Dickerhoff
, Christel und Thomas Bücksteeg