Natur nach der Mimesis. Poetologische Konzeptionen und Formideale um 1800
In der europäischen Poetik und Ästhetik um 1800 sind Naturbegriffe ebenso zentral wie komplex und vieldeutig. Wenn Kant in der Kritik der Urteilskraft von 1790 das autonome Kunstwerk als ein Produkt bestimmt, das „Natur zu sein scheint“ (KU § 45 Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint), so markiert dies nur den Beginn einer Zeit, in der Natur zum Ideal moderner Dichtung avanciert und nach der Verabschiedung des tradierten Mimesisbegriffs Kunst erneut via ihres – jetzt historisierten und kulturtheoretisch reflektierten – Verhältnisses zur Natur konzipiert wird. In der klassisch-romantischen Epoche werden nun allerorten Naturvorstellungen entworfen, die ihre Bedeutung aus der Theorie einer besonderen, ausgezeichneten Beziehung von Kunst und Natur oder Dichtung und Natur gewinnen. Von Vorläufern bei Scaliger, G. Bruno und Shaftsbury finden sich derart spezifisch ästhetische oder poetologische Naturbegriffe bei Herder, Schiller, Hardenberg, Günderrode, A.W. und F. Schlegel, Heinrich von Kleist, Schelling, Hölderlin, Goethe und vielen anderen. Dabei vereint viele poetologische Naturbezüge um 1800 eine doppelte Absetzungsbewegung: Während der Anspruch auf ästhetische Autonomie die Absetzung vom prämodernen Kunstverständnis als abbildender Nachahmung der Natur unterstreicht, führt die Absetzung schöner Künste von Kunst und Wissenschaft als verstandesbasierter techne in einem zweiten Schritt zurück zur ‘Natur‘ bzw. hin zu kunsttheoretisch oder formpoetologisch begründeten Naturbezügen, die alternative kulturelle Naturverhältnisse entwerfen.
Erstaunlicherweise haben ästhetische und poetologische Naturbegriffe in der jüngeren literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung dennoch keine besondere Beachtung erfahren. Anders als Darstellung, Leben, Kraft, Form oder Bild spielt der Naturbegriff in der transdisziplinären Forschung zur ästhetischen Moderne insgesamt keine prominente Rolle – obwohl er alle genannten, in den letzten Jahrzehnten intensiv erforschten Konzepte informiert. Während aus wissenspoetologischer Perspektive zwar intensiv untersucht wurde, wie ‚Natur-Wissen‘ bzw. ‚Natur‘ im Sinne eines ontologischen oder erkenntnistheoretischen Naturbegriffs oder im Sinne eines Gegenstands von Naturwissenschaften in Literatur und anderen Künsten vermittelt wird, gerieten viele Eigenheiten und Besonderheiten poetologischer Naturbegriffe, ohne die die emphatischen Kunst-, Gattungs-, Form- und Werkbegriffe der Goethezeit kaum verständlich sind, aus dem Sichtfeld der Forschung.
Im Kontext der Environmental Humanities wiederum werden zur Formulierung forschungsleitender Fragen meist der Begriff der Umwelt [environment] oder der Ökologie [ecology] dem Begriff der Natur vorgezogen. Auch dadurch wird häufig eine ästhetik- und poetikgeschichtliche Untersuchung von Bezugnahmen auf ‚Natur‘ verstellt, die Natur – poetologisch, kunsttheoretisch oder verfahrenslogisch – nicht nur als Inbegriff äußerer Umwelt oder als ökologischen Zusammenhang verstehen, sondern damit zunächst eine fundamentale Neubestimmung von Kunst, Dichtung und Kultur zum Ziel hatten.
Vor diesem Hintergrund möchte sich die Tagung folgenden – weiter zu ergänzenden – Fragekomplexen widmen:
- Wie setzen sich literarische, ästhetische und poetologische Konzeptionen von Natur um 1800 von anderen wissenschaftlich oder philosophisch informierten Naturbegriffen ab und/oder inwiefern sprengen sie zugleich jede – selbst analytische oder bloß heuristische – Unterscheidung ästhetischer, ontologischer und erkenntnistheoretischer Naturbegriffe?
- Wenn ästhetische oder dichtungstheoretische Naturbegriffe ein Verhältnis von Natur und Kunst bzw. ein Verhältnis Natur und Dichtung artikulieren, was heißt das für die in Frage stehenden Konzeptionen von Kunst, Dichtung oder Form? Welche Eigenschaften werden (der Dichtung, dem Kunstwerk, der Gattungsform o.a.) ästhetisch oder poetologisch via ‚Natur‘ zugesprochen oder via ‚Natur‘ idealisiert?
- Referenzen auf ‚Natur‘ sind im Kontext von Kunsttheorien und Poetiken um 1800 ebenso vielfältig wie es dasjenige sein dürfte, was dabei jeweils mit ‚Natur‘ gemeint ist. Lassen sich trotz aller Heterogenität der Rede von ‚Natur‘ gewisse häufig vorkommende Bedeutungsdimensionen ausmachen? Welche ästhetischen Desiderate oder Formideale verbinden sich besonders oft mit Natur? Gibt es neben dem dominanten organologischen Formtypus andere Naturformen, die zentral sind?
- Konzepte wie „Naturpoesie“ (beispielsweise bei Herder oder F. Schlegel), Friedrich Schillers sentimentalische Rede von einer „Natur“, deren „Bewahrer“ die Dichter seien und viele andere Bezugnahmen auf ‚Natur‘ in poetologischen Zusammenhängen der Zeit um 1800 haben anthropologische Komponenten. Die Natur der Menschen ist also in den verschiedenen ästhetischen Naturbegriffen, die hier im Spiel sind, oft mitgemeint. Insofern gehen poetologische Naturbegriffe der ersten Moderneschwelle häufig gerade nicht von einer dichotomischen Trennung zwischen Natur und Mensch aus, sondern unterlaufen eine solche Trennung von Vornherein. Welche Möglichkeiten für Anschlüsse ökologiekritischer Fragestellungen bieten sich hier?
Das Programm ist unter dem unten stehenden Link abrufbar.