Der romantische Osten? Andrzej Stasiuk und das literarische Erbe der Romantik in Polen
Als Maria Janion, die Grande Dame der polnischen Literaturwissenschaft, das „Ende des romantischen Paradigmas“ in Polen nach 1989 verkündete [1], wies sie darauf hin, dass die Kultur jenes Landes seit den nationsbildenden Umbrüchen der Jahre um 1800 praktisch ununterbrochen von einem einheitlichen, dominierenden Kulturstil geprägt wurde, den sie „symbolisch-romantisch“ nannte [2]. Dieser Feststellung ging allerdings die Einteilung der „romantisch“ genannten Kulturproduktion voraus: In einen „orphischen“ (nach innen), in die eigene Selbstheit gerichteten Strang und in einen „tyrtäischen“, dessen Impetus nach außen gehe, der vorwiegend in der Exploration der Vergangenheit bestünde und die Welt verändern wolle [3].
Die beiden Abwandlungen derselben geistigen Haltung, die Janion beschrieb, traten sowohl in Polen als auch in Deutschland auf, allerdings verlief ihre Rezeption, Deutung und Bewertung meist auf verschiedenen Wegen, was bis heute ein unterschiedliches Begriffsverständnis in den in beiden Sprachen und Kulturen verankerten Literatur- und Kulturwissenschaften zur Folge hat. In der polnischen Tradition wurde „das romantische System“ [4] über viele Jahre oder Jahrzehnte hinweg in erster Linie als eine Sammlung von einzuhaltenden Werten und Handlungsnormen verstanden, die auf die Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit ausgerichtet waren. Die besondere Aufgabe eines Kulturschaffenden innerhalb dieses Systems bestand darin, einen Beitrag zum Vollzug dieser Aufgabe zu leisten. Diese Bedeutung lebt noch heute in der polnischen Sprache fort und kommt in solchen Wortgruppen wie „postawa romantyczna“ [romantische Grundhaltung] oder „bohater romantyczny“ [romantischer Held] zum Ausdruck.
Gegen diese Ordnung sind Künstler, die in der Zeit der polnischen Umwälzungen um das Jahr 1989 in Polen debütierten, massiv eingetreten – unter ihnen auch Andrzej Stasiuk, Jahrgang 1960, dem dieser Beitrag gewidmet ist. Lässt man aber dieses spezifische Verständnis von Romantik einmal beiseite und betrachtet diese kulturelle Strömung (etwa im Sinne des Jenaer Modells) in einem breiteren, übernationalen Kontext, kann eine ganz neue Beziehung des Autors zum literarischen Erbe der Romantik entdeckt werden.
Der Begriff „historische Romantik“ wird hier für Erscheinungsformen der menschlichen Kulturtätigkeit angewendet, die sich – sowohl in Deutschland als auch in Polen – vorwiegend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingespielt haben. „Romantik“ und „romantisch“ sollen hier besondere Merkmale der breit verstandenen Kulturproduktion beschreiben, die um das Jahr 1800 in Deutschland und einige Jahre später in Polen hervortraten. In beiden Ländern bedeutete die so bezeichnete Kunstbewegung in erster Linie ein Aufbegehren gegen die etablierten Wertvorstellungen und Normen, eine Art jugendliche Gegenkultur, die in den Köpfen einiger Weniger entstand, sich unterschiedlich schnell ausbreitete und zur Entfaltung neuer Qualitäten führte. Die empirisch erfahrbare Welt hörte auf, die einzige Bezugsgröße für die Kunstproduktion zu sein, sie wurde vielmehr um die nicht sinnlich fassbaren Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte erweitert. Auf diese Art und Weise wurde die Ideenwelt diskursiv zum festen Bestandteil der uns umgebenden Wirklichkeit erhoben. Dabei ist dieses „romantische“ Phänomen keineswegs aus dem Nichts entstanden und hat auch nicht am Ende der Epoche abrupt aufgehört zu existieren. Als Modell wirkt es weiter fort. „Das Erbe der Romantik in den gegenwärtigen Kulturtexten ist nicht selbstverständlich, es funktioniert eher subkutan“, stellen heute junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Polen fest [5].
Selbst wenn sich die polnischen Kulturschaffenden heute von der „tyrtäischen“ Tradition der Romantik abwenden und aus dem „romantischen System“ ausbrechen wollen, kappen sie nicht – so die These dieser Ausführungen – die Verbindung zu ihren Wurzeln, die durchaus noch in der Ideenwelt der Zeit um 1800 liegen. „Gegenwartsautoren und -autorinnen müssen nicht Novalis lesen“, meint Sandra Kerschbaumer, „um ‚romantisch‘ zu deuten, zu schreiben oder zu handeln“ [6]. Nach Belegen dafür wird im Essayband Wschód [Der Osten] von Andrzej Stasiuk gesucht, einem Autor, der in Polen ähnlich wie die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk inzwischen zum Kreis der „lebenden Klassiker“ [7] gezählt wird. Die beiden werden in der polnischen Literaturgeschichte als Angehörige der „bruLion“-Generation bezeichnet, benannt nach der gleichnamigen Zeitschrift, die 1986 in Krakau entstand und zu einer wichtigen Plattform der in dieser Umbruchzeit debütierenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller wurde [8].
Eine Hilfestellung für die Bestimmung von Stasiuks Verhältnis zur Romantik lieferte unlängst der Schriftsteller selbst, als er mit der ukrainischen Gruppe Haydamaky ein Album mit vertonten Gedichten von Adam Mickiewicz, dem führenden Kopf der polnischen historischen Romantik, aufnahm und somit der breiten Öffentlichkeit eine neue Les- bzw. Hörart zentraler Texte der polnischen Romantik lieferte. Auf dieser „melopoetischen Reise zwischen Ost und West“ [9] hatte er gemeinsam mit den ukrainischen Musikern eine Auswahl von Texten getroffen, die auf der CD zu einem neuen Ganzen zusammengefügt wurden. Dieses 2016 begonnene Projekt entstand aus der Begeisterung der ukrainischen Musiker, speziell des Bandleaders Oleksandr Jarmola, für Mickiewiczs Lyrik, die er – was sonst? – aus der Schule kannte. Die Bandmitglieder fuhren nach Bilhorod Dnistrowskyj, einem Ort nahe Odessa, um die Landschaft um die Festung Akkermann in Augenschein zu nehmen, die einst Mickiewicz zu seinem Sonettzyklus inspiriert hatte. Zunächst sei es nur um die Vertonung des Sonetts Stepy akermańskie [Akkermannsche Steppe] gegangen und Andrzej Stasiuk habe lediglich als Berater dienen sollen. [10] Die Zusammenarbeit mündete allerdings in einem gemeinsamen Musikalbum, in dem sechs der Titel dem als Sonety krymskie [Krim-Sonette] benannten Zyklus entstammen. [11] Auf die Sonettsammlung wird hier besonders eingegangen, weil deren Texte auf Mickiewicz‘ Erlebnissen einer Krim-Reise von 1825 basieren und damit in ähnlicher Weise auf Reiseeindrücke zurückgreifen wie das Musikalbum und Stasiuks 2014 erschienene Essaysammlung, in der mehrere undatierte Texte aus der 1990er und 2000er Jahren zu einem Ganzen verflochten wurden.
Schon das Cover dieser CD drückt eines der Gefühle aus, die wohl am meisten mit den Begriffen „Romantik“ und „romantisch“ verbunden werden: das Gefühl der Sehnsucht. Über einer offenen Landschaft, in der die wellige Steppe bestehend aus „Weißschäumend[en] Blütenwogen“ [12] in den mit Sepia unterlegten Himmel übergeht, schweben in die Ferne blickende Gesichter von sieben Männern. Hier lässt sich schon die erste „Familienähnlichkeit“ mit der Schilderung der Landschaft in der essayistischen Beschreibung von Stasiuks Reisen nach Osten feststellen. Der Raum seiner Erzählung wird immer wieder ähnlich abgesteckt bzw. nicht abgesteckt, da seine Unendlichkeit bzw. Grenzenlosigkeit unterstrichen wird: „Doch zugleich spürte ich, dass ich hier am Rande des bewohnten Landes spazierte und dass jenseits davon nur Geographie war“ [13], schreibt er in Bratsk. Und in Tschita: „Gleich hinter der Stadt begann die Steppe. Bis zum Horizont erstreckten sich grüne Hügel. Die Kiesstraße erklomm eine Erhebung nach der anderen, und auf der anderen Seite öffnete sich wieder die grasige Unendlichkeit. Das war schön und ich hätte nichts dagegen, wenn die Ewigkeit so aussehen würde“ [14].
Stasiuks lyrische Beschreibungen seiner faktischen Reisen in diesem imaginären Raum, der gleich jenseits der Weichsel beginnt, sich bis zur Mongolei erstreckt und durch die Ähnlichkeit der sinnlichen Wahrnehmungen mit seinen Kindheitserinnerungen aufs Engste verbunden ist, markieren seine Suche nach dem „Unbedingten“, bei der – wie im Blüthenstaub-Fragment von Novalis [15] – doch zufällig „Dinge“ gefunden werden. „Wer etwas sucht, das nicht zu finden ist, kann sehnsüchtig in die Ferne blicken“ [16] – wie die Männergesichter auf dem CD-Cover. Oder wie der Erzähler in Stasiuks Reiseessay, der ähnlich den Brüdern im Sonnenuntergang von Caspar David Friedrich auf seiner Wanderschaft innehält und in die Landschaft blickt: „Ich hielt auf dem Pass an und blickte herunter. In den Pferdeställen wurden die Lichter angezündet, das abendliche Ritual begann. Senkrecht stieg der Rauch aus den Schornsteinen auf. Der Himmel im Westen brannte wie ein goldener Spiegel. Wie eine Arche lag die Siedlung in der grenzenlosen Finsternis“ [17].
Die Beschreibung wirkt zunächst gewöhnlich und naturgetreu, als ob es sich um eine realistische Darstellung handeln würde. Ländliche Abendrituale werden in Ruhe verrichtet, in den Wirtschaftsgebäuden wird die Beleuchtung eingeschaltet und das Vieh versorgt. Alles geht seinen geordneten Gang – der Rauch steigt ungehindert senkrecht nach oben –, bis das skizzierte Bild von zwei Metaphern verfremdet wird. Der Himmel im Westen brennt und wird mit einem goldenen Spiegel verglichen, in dem das Dorf in zauberhaftes Licht gerückt wird. Es schwebt wie eine Arche inmitten des dunklen Ozeans. Was ins Dunkel der Abenddämmerung taucht, wird zum Märchen. Das Gewöhnliche kippt ins Wundersame. Erinnerungsarbeit und Imagination werden beflügelt und das Erzählen beginnt.
In der romantischen Philosophie wird das Unbedingte mit menschlichen Erlebnissen in Verbindung gebracht, welche noch vor der Erfahrung, vor der Erkenntnis liegen. Da jede Erfahrung und jede Erkenntnis durch die Strukturiertheit des menschlichen Verstandes bedingt werden, bleibt der wahre, der un-bedingte Kern der Dinge dem Menschen unzugänglich und kann sich ihm lediglich als eine individuell wahrgenommene Wahrheit, beispielsweise in einem Kunstwerk oder in einem Naturerlebnis, andeuten. Das Wandern oder Reisen auf der Suche nach solchen erhabenen Erlebnissen ist das Mittel, an eine Erkenntnis zu gelangen, die während der Reise jeweils von einer neuen Erkenntnis aufgehoben und ersetzt wird. „Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns?“, fragt Novalis im 16. Fragment aus dem Blüthenstaub [18]. Die Reise durch die Innenwelt ist eine Bewegung, in der ein Gefühl vom nächsten abgelöst wird.
Novalis‘ Fragmente folgen keiner logischen roten Linie, sondern sind assoziativ miteinander verbunden und zeigen so auch formal den schwer fassbaren Sinn des aus Jena stammenden romantischen Programms. Dem assoziativen Muster folgen auch die zyklische Form der Sonettreihe von Adam Mickiewicz und die CD, der diese Texte zugrunde liegen.
In der anfänglichen Stille des ersten Liedes auf dem Album schwellen unruhige Töne der Hirtenflöten an, die Klänge der vorbeiziehenden Kraniche nachahmen. Dann setzt eine tiefe männliche Stimme an, die von einer Schiffsreise über den „trockenen Ozean“ auf Polnisch erzählt. Nach der ersten Strophe ergänzen eine orientalische Stimmung erzeugende Saiteninstrumente den Klangteppich, während der Rezitator (Andrzej Stasiuk) den ersten Sinneseindruck des lyrischen Ichs beim nächtlichen Anblick des Flusses Dnestr schildert, in dem sich der Mond und die Sterne spiegeln. Die Musik schwillt an, ein wiederkehrendes Motiv der Blasinstrumente bereitet die Zuhörenden auf das eigentliche Lied vor, in dem der Sänger (Oleksandr Jarmola) die von Jurij Andruchowytsch stammenden ukrainischen Worte des Sonetts über die Steppe nahe der Festung Akkermann wiedergibt. Die beiden Terzen werden abwechselnd vom Solisten, Chor und Rezitator wiedergegeben. Danach stoppt die rockige Musik abrupt und die Zuhörenden werden von immer leiser werdenden Tönen der Hirtenflöten in die Stille hinausbegleitet, deren Zauber durch die imitierten Rufe der Kraniche heraufbeschworen wird.
Die den Reisenden umgebende Natur, die „Welt der Dinge“, wird auf der romantischen Suche nach dem Unbedingten in den beiden Terzen des Sonetts so geschildert, dass sie einen höheren Sinn erhält. Dem „Gemeinen“ wird „ein hoher Sinn“ zugeschrieben, „dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen ein unendlicher Schein“, es wird nach Kräften „romantisiert“ [19]: „Verweilen wir!...Wie still!...Ich hör den Kranich fliegen,/ So hoch, wie ihn kein Falkenauge könnt gewahren./ Ich höre Schmetterlinge sich auf Blumen wiegen/ Im Grase Schlangen rascheln… Will ein Trug mich narren?... / Ein Ruf aus Polen? Hier? Ohr, laß Dich nicht belügen! / So hör! Nein! Niemand ruft! Komm, Fuhrmann, laß uns fahren!“ [20].
Die Hyperbel scheint bei Mickiewicz im ersten Gedicht des Zyklus das Stilmittel zu sein, mit dem diese qualitative Potenzierung erreicht wird: Die Kraniche, die so schnell fliegen, dass nicht mal ein Falke imstande ist, ihren Flug wahrzunehmen, die Stille, in der man den Flügelschlag eines Schmetterlings, die Bewegung einer Schlange oder die Stimme aus einem Tausende von Kilometer entfernten Ort hört. Mit diesen Mitteln wird eine Sinneswahrnehmung umschrieben, die viele einzelne Eindrücke zu einem einzigen zusammenschmelzen lässt. Dadurch entsteht der Eindruck der absoluten Stille, den auch Andrzej Stasiuks Erzähler angesichts der Unendlichkeit der Landschaft im Osten verspürt: „Im Morgengrauen ging ich auf die Dünen, um zu lauschen. Zum Beispiel dem Klang der rieselnden Sandkörner, wenn ein Insekt an den Rand seines Insektenhorizonts kletterte. Und wenn ich stehen blieb, nichts als das Schlagen des eigenen Herzens. Die anderen waren weggefahren“ [21]. Wie bei Mickiewicz wird hier die Situation eines Menschen beschrieben, der inmitten der scheinbar völlig unbegrenzten Natur die eigene Einsamkeit und die Transzendenz der ihn umgebenden Welt entdeckt. Durch die Wiederaufnahme einiger Schlüsselwörter aus dem Gedicht von Mickiewicz („słuchać-słyszeć“ [lauschen-hören], „owad-motyl“ [Insekt-Schmetterling], „serce-ucho“ [Herz-Ohr], „stójmy-przystanęło“ [halt an!-hielt an], „odjechali-jedźmy“ [sie sind wegge-fahren-lasst uns wegfahren!]) wirkt die Passage wie ein Palimpsest eines der berührendsten Texte der polnischen historischen Romantik.
Die Stille gehört auch zu den Elementen, die bei Stasiuk assoziativ unterschiedliche Orte miteinander verknüpfen, auf synästhetische Art und Weise Erinnerungen und zugleich auch Gefühle wecken: „Der Fahrer setzte uns in Puławy ab. Der Himmel wurde bereits hell. Wir gingen zu Fuß weiter. Bei Tagesanbruch betraten wir das Städtchen. Es war warm und still. Nur das Echo unserer Schritte auf dem Marktplatz. Aus einer Bäckerei strömte der Duft von frischem Brot. Vermischt mit dem Morgengrauen, mit der Stille. Wir gingen hin. Der Bäcker freute sich, als er uns sah, obwohl wir lange Haare hatten, abgerissen und staubig waren. Er freute sich, dass jemand so früh aufstand wie er. Er schenkte uns ein Laib Brot. (…) Danach klopften wir bei einem Bauernhof an die Tür, und die Frau erlaubte uns, im Heu zu schlafen. Wir bekamen frische Milch zu unserem frischen Brot. Wir bekamen Bettzeug. Die Sonne ging auf und wir legten uns hin. Ich war sechzehn oder siebzehn und stellte mir vor, dass genau das der Osten sei – ein Reich der Wunder. Du kommst im Morgengrauen in ein kleines Städtchen, und sie bewirten dich, wie man einen Wanderer bewirten sollte. Essen, Wohlwollen und Schlaf“ [22].
So wird eine der früheren Reisen des Erzählers nach Ostpolen, in die Gegend von Lublin, beschrieben. Als Heranwachsender kannte er noch nicht die Geschichte des Grauens und der Massenmorde an Orten wie Bełżec oder Majdanek, die wie ein Schatten über dieser Gegend hängt: „Ich wählte diese Gegend, weil sie grün und vom goldenen Licht durchtränkt war und ich den Eindruck hatte, dass die Hitze hier nie wegging. Und dass die Stille umso tiefer wurde, je weiter man in die wogende Landschaft eindrang.“ [23] Der reife, in der Jetztzeit gefangene Erzähler sehnt sich nach der verträumten Unbeschwertheit. Die Hitze der Kindheitserinnerung weicht einem eisigen Luftzug und dem kühlen Wissen über die dokumentarisch, mit wörtlichen Zitaten aus „Belzec Lagergeschichte, Beschreibung eines polnischen Arbeiters Stanislaw Kozak“ [24] festgehaltene Geschichte: „Wind aus Sobibór. Wind aus Bełżec. Deshalb kommt man nach Lublin – um in Richtung Sobibór und Bełżec zu schauen [...].“ [25] Waren das die „Dinge“, denen der Erzähler in seiner Suche nach dem Unbedingten begegnete?
Stille herrscht nicht nur in der Unendlichkeit des Raumes, sondern wird auch angesichts der Unendlichkeit der Zeit spürbar, die in der Geschichte und im Tod zum Ausdruck kommt. [26] Welche Funktion hat diese Stille? Sie regt zum Nachdenken über Zeiten und Orte an, die am Ende so miteinander verwoben werden, dass sie ein neues Muster ergeben: „Ich musste all die Bilder mitnehmen, um sie dann mit früheren zusammenzufügen, damit das eine unter dem anderen hervorscheinen würde, bis man sie nicht mehr unterscheiden könnte“ [27].
Auf diese Art und Weise, durch das Durchwirken von Erinnerung, Fantasie und gegenwärtigen Erlebnissen, wird bei Stasiuk angesichts der fragmentarischen Zersetzung der ihn umgebenden Welt eine Einheit wiederhergestellt: „Fast unwillkürlich kehre ich in Gedanken in jene Gegend zurück. Ich beginne an die fernen Orte zu denken, und sofort erscheinen die Wüste und die Steppe im Osten. Manchmal stellen sich auch andere Bilder ein, aber die muss ich herbeirufen. Die Landschaft erscheint auf so natürliche Weise, als hätte ich sie von Geburt an unter den Lidern. Vielleicht, weil es um den Raum geht, der dort in nahezu reinem Zustand auftritt. Ich wende mich jener Gegend zu und sehe, wie eine Schicht nach der anderen sich zeigt, ein Vorhang nach dem anderen aufgeht, der Wind aus dem Weltall, der seit Anbeginn wehende Wind, trägt eine durchsichtige Materie aus mit Entfernung gemischtem Licht heran, und es erscheint uns die Urgestalt der Welt. Ein Ort, wo es uns noch nicht gibt, und zugleich ein Ort, an den wir zurückkehren sollten“ [28].
Stasiuks Unbedingtes, nach dem er ständig sucht, scheint die „Urgestalt der Welt“ zu sein, die an einem Ort gefunden werden kann, der „kaum existiert“ [29], an dem wir noch nicht sind und zu dem wir zurückkehren sollen. Es ist ein mythischer Ort der Vergangenheit und der Zukunft zugleich. Es ist ein Ort, der aus Gedanken und Absichten besteht: Folgt man dem Text des letzten Liedes auf der CD, das von Andrzej Stasiuk vor dem Hintergrund der Gitarrenklänge rezitiert wird, handelt es sich bei den Gedanken und Absichten auch um die wichtigsten Bestandteile der Dicht- und Schreibkunst überhaupt: „Gedanken, Wille sind die Poesie der Welt“ [30].
Als Künstler lebt er und wirkt – um wieder auf Novalis zurückzukommen – „nur in der Idee fort, durch die Erinnerung an sein Daseyn“ [31]. Aus dieser Idee wird die Welt geformt, die von Andrzej Stasiuk geographisch Wschód oder in der Übersetzung von Renate Schmidgall Der Osten genannt wird. Sie wird kartographisch durch Geraden abgesteckt, die in Unendlichkeit enden und mit fließenden Gedanken über Gegenwärtiges und Vergangenes gefüllt sind, die philosophische Reflexion über die sinnliche Erkenntnis (Geräusche, Gerüche) sowie psychologische Problematik wie Introspektion und das Nachdenken über das Vergessen und sich Erinnern betreffen.
Auf die Parallelen in den Lebensläufen der Romantiker und der zeitgenössischen polnischen Kulturschaffenden, die um das Transformationsjahr 1989 debütierten, wurde unlängst im Rahmen eines Seminars des Instituts für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften hingewiesen. [32] Die Lehrjahre der beiden Generationen wurden von Zeiten geprägt, in denen Europa von großen politischen Umwälzungen ergriffen war, beide traten gegen eine starke rationalistische Tradition an. Es ist kein Wunder, dass sie mit einem ähnlichen Traditionsbezug in jeweils ihrer individuellen Abwandlung versuchten, das Unbedingte in der Welt der sie umgebenden Dinge zu finden. Nach der Wahrheit suchten sie im Vergangenen, Märchenhaften, Entrückten, was in ihnen selbst steckte und die zerfallende Wirklichkeit zusammenhielt.
Die Auflistung der Konvergenzen in ideologischen Denkkonstruktionen bei zwei Vertretern der historischen Romantik – Adam Mickiewicz und Georg Philipp Friedrich von Hardenberg alias Novalis – und dem polnischen Gegenwartsautor Andrzej Stasiuk lässt sich sicherlich fortsetzen; es handelt sich an dieser Stelle um eine erste Exploration auf diesem Gebiet. Dieser kurze Ausflug zeigt, dass Stasiuk einerseits die Technik des Romantisierens beherrscht und häufig einsetzt, andererseits aber auch sein Kunstverständnis demjenigen der historischen Romantiker zu ähneln scheint. Die Reflexion über die Rolle der Fantasie, der Imagination und der vergangenen Zeit war in der Kunst des angehenden 19. Jahrhunderts bereits so wichtig, wie sie bei Künstlern wie Andrzej Stasiuk noch immer ist, selbst wenn sich diese vom „romantischen Paradigma“ der polnischen Kultur abgewendet haben, das in der Auffassung von Maria Janion die kulturelle Kommunikation in Polen bis zum Transformationsjahr 1989 prägte.
Anmerkungen
[1] Maria Janion: „Zmierzch paradygmatu“, in: Maria Janion: Do Europy tak, ale z naszymi umarłymi, Warszawa 2000, S. 19–34.
[2] Vgl. ebd., S. 22.
[3] Vgl. Jerzy Kałążny: „Kiedy właściwie skończył się romantyzm? O (nie)trwałości paradygmatu romantycznego w kulturze polskiej i niemieckiej“, in: Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego, www.polska-niemcy-interakcje.pl/articles/show/-31, abgerufen am 28. März 2023.
[4] Janion: Zmierzch, S. 22.
[5] Marta Piwińska/Katarzyna Buszkowska/Olga Zakolska/Arkadiusz Doktór: „Echa i tęsknoty romantyczne w polskiej kulturze współczesnej. Opowieści galicyjskie Andrzeja Stasiuka, Prawiek Olgi Tokarczuk, Świteź Kamila Polaka w poetyce Ballad i romansów Adama Mickiewicza“, in: Pamiętnik Literacki 4 (2016), S. 63–78, hier S. 68.
[6] Sandra Kerschbaumer: Immer wieder Romantik, Heidelberg 2018, S. 54.
[7] Jarosław Fazan: „Andrzej Stasiuk, syn swego kraju“, in: WIĘŹ, 06. Juni 2021, wiez.pl/2021/06/06/stasiuk-syn-swego-kraju/, abgerufen am 20. März 2023.
[8] Mehr dazu vgl. Przemysław Czapliński: „Das Erbe der Zeitschrift ‚bruLion‘“, in: FA-art, www.fa-art.pl/dzialo-sie/item/468-das-erbe-der-zeitschrift-brulion, abgerufen am 20. März 2023.
[9] Jan Czarnecki: „A Melopoetic Struggle between East and West: Mickiewicz and the Popular Idiom“, in: Words, Music, and the Popular, hg. von Thomas Gurke/Susann Winnett, Basingstoke 2021.
[10] Hörproben und Informationen zum Hintergrund des Projekts sind einer Rundfunksendung zu entnehmen: Stasiuk i Haydamaky w hołdzie Mickiewiczowi, trojka.polskieradio.pl/-artykul/2495007,Stasiuk-i-Haydamaky-w-ho%C5%82dzie-Mickiewiczowi, abgerufen am 20. März 2023.
[11] Mickiewicz. Stasiuk. Haydamaky, Agora 2018 [CD]. Das Album umfasst noch vier weitere Titel, die nicht zu dem Sonettzyklus gehören.
[12] Die polnische Metapher „fala łąk szumiących“ wird hier in der Übersetzung von Remané wiedergegeben, vgl. Adam Mickiewicz: „‚In der Akkermannschen Steppe‘, übersetzt von Remané“, in: Mickiewicz. Dichtung und Prosa. Ein Lesebuch, hg. von Karl Dedecius, Frankfurt am Main 1994, S. 139.
[13] Andrzej Stasiuk: Der Osten, Berlin 2015, S. 21.
[14] Ebd., S. 141.
[15] „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“, vgl. Novalis: „Blüthenstaub“, in: Novalis: Dichtungen und Fragmente, hg. von Claus Träger, Leipzig 1989, S. 295–320, hier S. 296.
[16] Dirk von Petersdorff: Romantik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2020, S. 25.
[17] Stasiuk: Der Osten, S. 25f.
[18] Novalis: Blüthenstaub, S. 298.
[19] Novalis: „Vorarbeiten zu verschiedenen Sammlungen“, in: Novalis: Dichtungen und Fragmente, hg. von Claus Träger, Leipzig 1989, S. 365–482, hier S. 389.
[20] Mickiewicz: In der Akkermannschen Steppe.
[21] Stasiuk: Der Osten, S. 149.
[22] Ebd., S. 78.
[23] Ebd., S. 79.
[24] Ebd., S. 297.
[25] Ebd., S. 80.
[26] Vgl. „Im Winter wird alles leiser. Das Vergangene tritt deutlich hervor“, ebd., S. 21; „die Steppe […], die in Nichts führte, zu Knochen und Hügelgräbern“, ebd. S. 34; „Der Raum ist Vergangenheit.“, ebd., S. 56.
[27] Ebd., 113.
[28] Ebd., 236.
[29] Ebd., 20.
[30] Adam Mickiewicz: „‚Du fragst, wofür mich Gott mit dem bißchen Ruhm bedacht…‘, übersetzt von Karl Dedecius“, in: Mickiewicz. Dichtung und Prosa. Ein Lesebuch, hg. von Karl Dedecius, Frankfurt am Main 1994, S. 279.
[31] Novalis: Blüthenstaub, S. 302.
[32] Piwińska/Buszkowska/Zakolska/Doktór: Echa, S. 74.
Der wissenschaftliche Impuls ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59028