Die Romantik wird besichtigt
I
Wenn in Oscar Wildes Erzählung das Gespenst von Canterville nach einem weiteren gescheiterten Versuch, die amerikanische Familie Otis durch sein Auftreten in Schrecken zu versetzen, sich desillusioniert in seine Kammer zurückzieht und erschöpft an einen Mondstrahl lehnt, zeigt es eine unerwartete literarische Bildung:
„He had hoped that even modern Americans would be thrilled by the sight of a Spectre In Armour, if for no more sensible reason, at least out of respect for their national poet Longfellow, over whose graceful and attractive poetry he himself had whiled away many a weary hour when the Cantervilles were up in town.“ [1]
Das Gespenst bezieht sich auf Henry Wadsworth Longfellows Ballade The Skeleton in Armour, die mit den Versen beginnt: „Speak! speak! thou fearful guest! / Who, with thy hollow breast / Still in rude armour drest, / Comest to daunt me!“ [2] Die Dichtungen dieses Autors gehören für das Gespenst ganz selbstverständlich zum Bildungskanon. Es befindet sich damit in guter Gesellschaft: Karl Mays Winnetou hält bei einer der ersten Begegnungen mit Old Shatterhand ein Buch von Longfellow in Händen und veranlasst seinen „weißen Bruder“ dadurch zu dem entzückten Ausruf: „Longfellows berühmtes Gedicht in der Hand eines Apache-Indianers! Das hätte ich mir nie träumen lassen!“ [3] Für Old Shatterhand ist diese Lektüre ein Zeichen dafür, dass Winnetou „Sinn und Geschmack für das Höhere“ hat; auch bei Wildes Gespenst soll sie vorführen, wie viel intellektueller und sensibler es im Gegensatz zu seinen amerikanischen Mitbewohnern ist. Dass sowohl Oscar Wilde im Jahr 1887 als auch Karl May sechs Jahre später ein Werk Longfellows zu diesem Zweck verwenden, lässt erkennen, wie populär der amerikanische Schriftsteller zu dieser Zeit ist.
Longfellow (1807–1882) zählt im 19. Jahrhundert auf beiden Seiten des Atlantiks zu den meistgelesenen amerikanischen Schriftstellern. In seinen Tätigkeiten als Übersetzer und als Professor für moderne Sprachen in Harvard wird er zudem einer der wichtigsten Vermittler zwischen der amerikanischen und der europäischen Kultur. Dort ist er der Erste, der Goethe an einer amerikanischen Universität zum Forschungsgegenstand macht; seine Faust-Vorlesungen finden ganz besonderen Anklang – einer der Hörer ist im Jahr 1837 der zwanzigjährige Henry David Thoreau. Motiviert zu dieser Vermittlerrolle wird Longfellow auch durch vier lange Europareisen – er verbringt im Laufe seines Lebens insgesamt mehr als sechs Jahre in Europa. Als einer der Fireside Poets trägt er zur Begründung einer neuen amerikanischen Nationalliteratur bei, immer im Rückgriff auf literarische Traditionen aus Europa, insbesondere aus Deutschland. So weist sein Versepos Evangeline (1847) Parallelen zu Goethes Hermann und Dorothea auf; in seinem Drama The Golden Legend (1851) verarbeitet er Hartmanns von Aue Der arme Heinrich mit Bezügen auf Goethes Faust. [4]
Besonders augenfällig ist Longfellows Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur in seinem Reiseroman Hyperion (1839), einem Produkt seiner Europareise in den Jahren 1835/36. Seine autobiografischen Erlebnisse als Schablone verwendend, lässt er den fiktiven Protagonisten Paul Flemming in seinen eigenen Fußstapfen eine Reise durch Deutschland, die Schweiz und Österreich unternehmen und dabei Landschaft und Kultur besichtigen. Es ist nicht allein die Beschreibung einer Reise durch geografisch fassbare, sondern in mindestens demselben Grade durch literarische Landschaften – namentlich der romantischen Literatur. In einer zeitgenössischen Rezension wird das Werk selbst als ein genuin romantisches eingeordnet: „It belongs, preeminently, to the Romantic School. The scene is laid in the very centre of all that is romantic in the land of recollections and ruins of the Middle Ages. It is steeped in the romantic spirit.“ [5] Ausgerichtet ist dieser „romantic spirit“ an der deutschen Romantik. Er ist das einerseits im Sprechen über Werke und literarische Persönlichkeiten dieser Zeit und andererseits im Sprechen mit diesen Werken – indem sich Longfellow mit Hyperion konzeptionell an ihnen orientiert, sozusagen im Gleichklang mit ihnen erzählt.
II
Das Sprechen über literarische Werke und Persönlichkeiten ist der Antrieb für Hyperion. Von der Route der Reise legt das Werk ein so genaues Zeugnis ab, dass es auch in der Forschung als Baedeker bezeichnet [6] und tatsächlich von Zeitgenossen als eine Art Reiseführer verwendet wird. Die literarischen Landschaften werden jedoch nicht weniger ausführlich entfaltet. Ununterbrochen spielt Hyperion mit Texten, Titeln, Zitaten der deutschen, der romantischen, der Weltliteratur. Die Spanne der zitierten Autoren und (seltener) Autorinnen reicht von der unmittelbaren Gegenwart Longfellows bis zurück in die Antike, und umfasst deutsche, englische, italienische, spanische und skandinavische Werke. Oft werden diese intertextuellen Bezüge unmarkiert in den Text eingefügt, häufiger wird der Textfluss durch Verse, ganze Gedichte und Lieder unterbrochen. Den weitaus größten Teil machen hier die Werke der deutschen Romantik aus.
Präsent ist sie von Beginn an (wobei der Titel Hyperion nicht zu den Romantik-Zitaten gehört, es gibt keine Verbindung zu Friedrich Hölderlins gleichnamigem Werk [7]): Bereits das Motto des ersten Buches stammt aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, dem Buch also, das von den Jenaer Frühromantikern zum romantischen Roman schlechthin erklärt wurde. Goethe ist in Hyperion allgegenwärtig. Er ist zu diesem Zeitpunkt erst wenige Jahre tot, und fast scheint es noch im Bereich des Möglichen zu liegen, ihm in eigener Person zu begegnen: „‚Da ist der alte Herr selbst!‘ rief Flemming. ‚Wo?‘ fragte der Baron, als erwartete er in diesem Augenblick die lebende Gestalt des Dichters vor ihnen hinschreiten zu sehen. ‚Hier am Fenster, – diese Gestalt in Lebensgröße.‘“ [8] Und doch hat bereits ein solcher Wandel stattgefunden, dass man in Frankfurt in Goethes Geburtshaus Souvenirs erwerben kann – und eben das tut der Protagonist, er kauft sich ein Goethe-Souvenir. Longfellows Werk dokumentiert damit einen Umbruch in der literarischen Welt Deutschlands, das Ende der Goethe-Zeit. Er greift dazu unter anderem auch auf Heinrich Heines Die romantische Schule zurück, aus der er mit Blick auf diesen Umbruch zitiert.
Im Gefolge treten weitere Romantiker und Romantikerinnen auf, angefangen bei Novalis mit seinem Heinrich von Ofterdingen und der symbolisch gewordenen blauen Blume, über Wilhelm Müller und Clemens Brentano, Achim und Bettine von Arnim bis zu Ludwig Uhland. Besonders nachdrücklich hebt Longfellow eines der Schlüsselwerke der Hochromantik hervor, die von Arnim und Brentano herausgegebene Sammlung Des Knaben Wunderhorn – „das herrliche Buch“, wie es in Hyperion heißt. Nicht umsonst macht er Heidelberg zu einem zentralen Schauplatz seines Werkes – eben jene Stadt, in der diese Liedersammlung entstand. Ein Interesse der Heidelberger Romantik, die Suche nach mündlicher, „volkstümlicher Dichtkunst“, bewegt auch Longfellow. Er verwendet seinen Reiseroman als einen Sammelplatz für Lieder, Sagen und Märchen. Zudem werden, anschließend an die Idealisierung von Mittelalter und Renaissance durch die Romantiker und Romantikerinnen, auch diese Epochen von Longfellow zitierend erschlossen.
Auf diese Weise wird Hyperion zu einer Zitatcollage; es entsteht ein polyphones, alle Gattungsgrenzen überschreitendes Textkonglomerat aus Reisebeschreibung, Sagen, Gedichten, Märchen und Liedern – imprägniert von Geist, Ikonografie und literarischen Werken der deutschen Romantik. Das Ergebnis erscheint auf den ersten Blick als eine wörtliche Umsetzung der von Friedrich Schlegel proklamierten progressiven Universalpoesie. Tatsächlich aber ist Longfellows Spiel mit Gattungsgrenzen und Zitaten nicht in diesem Sinne romantisch – vielmehr ist es eine gelehrte Vorführung zur Belehrung der Lesenden. Denn die in den Text eingeflochtenen Gedichte und Lieder bilden zusammen mit den Prosapassagen kein lebendiges Ganzes, sondern stehen als passive und leblose Betrachtungsobjekte darin.
„Und der Tanz ging fröhlich weiter, und unter den Tänzern fehlte es nicht an strahlenden Augen und glühenden Wangen; ‚Und sie wurden roth und sie wurden warm / Und ruhten keuchend Arm in Arm;‘ und die Walzer von Strauß klangen anmuthig in Flemming’s Ohren, der, obwohl er nie tanzte, doch, wie Heinrich von Ofterdingen in dem Roman von Novalis, auf die Musik achtete.“ [9]
Das Zitat aus Goethes Faust I und die Anspielung auf Novalis’ Heinrich von Ofterdingen werden zur Dekoration des Textes. An anderer Stelle gebraucht Longfellow die Zitate als Anlass, über den jeweiligen Dichter, die jeweilige Dichterin kurze Vorlesungen zu halten. So etwa dient die ‚romantische‘ Lokalisierung, wenn der Protagonist mit seinem Freund an einem Mühlbach entlangwandert, vor allem dafür, einige passende Texte zu assoziieren und dann über sie zu philosophieren:
„In der Dämmerung des schnell einbrechenden Sommerabends schritten der Baron und Flemming längs dem Ufer des Flusses dahin. Als sie hörten, wie er unter Steinen und verworrenen Wurzeln rauschte und die großen Räder mit ihrem beständigen Klippklapp im Fluß sich drehten, dachten sie an das treffliche einfache Lied Goethe’s: der Jüngling und der Mühlbach. Ihnen war es jetzt eine Nymphe, welche in der Stimme der Gewässer sang. […] ‚In der That, eine herrliche Ballade,‘ sagte der Baron. ‚Wie aber viele andere unserer kleinen Lieder erfordert es einen Dichter, um es zu fühlen und zu verstehen. […] Wilhelm Müller sagt in dem kleinen Liede, in welchem das Mädchen dem Mond den Abendgruß bringt:
Dies Liedchen ist ein Abendreihn,
Ein Wandrer sang’s bei Vollmondschein;
Und die es lesen bei Kerzenlicht,
Die Leute versteh’n das Liedchen nicht,
Und ist doch kinderleicht.
Er hat viele hübsche Lieder geschrieben, in welchen die momentane, unbestimmte Sehnsucht und Gefühle der Menschenseele ihren Ausdruck finden. Er nennt sie die Lieder eines wandernden Waldhornisten.‘“ [10]
Solche isolierten Gedichtpassagen fügen sich nicht – wie das etwa in Goethes Wilhelm Meister gelingt – in den Lauf der Handlung ein: Sie stehen unverbunden im Fluss der Geschichte und haben auf die Handlung keine Auswirkungen. Das vermeintlich universalpoetische Sprechen offenbart sich in dieser Hinsicht lediglich als das Sprechen über die – und nicht als – romantische Poesie. Dabei aber lässt Longfellow ein literarisches Panorama entstehen, das das romantische Deutschland kurz nach dem Ende der Goethezeit in detaillierter Tiefenschärfe zeigt – ein Bild, wie es bisher noch nicht in die Vereinigten Staaten vermittelt wurde, wo zu dieser Zeit die deutsche Sprache und damit die deutsche Literatur auch dem Großteil der gebildeten Menschen noch verschlossen sind. Indem er die zahlreichen Gedichte und Lieder – oft in eigener Übersetzung – in seinen Roman einflicht, werden den Lesenden Texte präsentiert, die sie bis dahin nicht kennen konnten. So macht er durch seine Übersetzung in Hyperion zum ersten Mal etwa Goethes Gedicht Über allen Gipfeln dem englischsprachigen Publikum zugänglich.
III
Doch nicht nur im Sprechen über sie ist die romantische Poesie in Hyperion präsent. Auch in konzeptioneller Hinsicht stellt sie einen wesentlichen Einfluss auf das Werk dar – zuerst mit Blick auf die Schauplätze. Es sind größtenteils ‚romantische‘ Szenerien: der Rhein als Inbegriff des romantischen Flusses, Burgen, Ruinen, Friedhöfe, Klöster – wie sie vor allem in der Schwarzromantik etwa bei E.T.A. Hoffmann zu finden sind. Diese Orte werden bei Longfellow jedoch keineswegs Schauplätze solcher schauerromantischen Szenen, sondern lediglich als Sehenswürdigkeiten besichtigt. So etwa lautet eine der ersten Fragen von Flemming, wenn er in Heidelberg das Schloss besucht: „‚Giebt es aber keinen Geist, kein verrufenes Gemach in dem Schlosse?‘ […] ‚Ganz gewiß,‘ entgegnete der Baron, ‚sogar zwei: den Geist der Jungfrau Maria im Thurme Ruprecht’s, und den Teufel im Burgverließ.‘“ [11] Die Beschreibung des Schlosses gleicht der in einem detaillierten Reiseführer, jeden Turm, jeden Bauherr und jede Statue erklärend. Die Burgen am Rhein (Rolandseck, Arenfels, Stolzenfels, Liebenstein und Sterrenberg) werden nacheinander besichtigt, doch tritt Flemming nicht in Interaktion mit diesen Orten: Sie werden betrachtet, er lässt sich die entsprechende Sage erzählen oder rekapituliert sie selbst und reist weiter. Wie die zitierten Lieder und Gedichte im Textfluss isoliert stehen, so sind auch die geografischen Landschaften passiv und leblos, der Protagonist in ihnen fremd. Die Schauplätze romantischer Werke sind bei Longfellow bereits zu Orten geworden, die in Reiseführern verzeichnet sind, die ihr Geheimnis verloren haben.
Auch der Protagonist selbst ist den Helden romantischer Romane nachgebildet. Er ist eine Künstlernatur und ein poetischer Tagträumer nach dem Vorbild von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, Tiecks Franz Sternbald oder Goethes Wilhelm Meister – und tatsächlich wird er in Heidelberg mit dem Spitznamen ‚Wilhelm Meister‘ bedacht. Besonders betont wird sein Wesen als das eines rast- und ruhelos Suchenden. Es ist eben das „romantische Grundgefühl […] eines existentiellen Mangels und der daraus hervorgehenden Sehnsucht“, [12] das hier immer wieder aufs Neue hervorgehoben wird: als „unbestimmte dunkle Sehnsucht“, als „glühende Sehnsucht“. [13] Das stets Unerfüllte und nicht Zielgerichtete dieses Grundgefühls unterstreicht Flemming selbst: „All dieses unbestimmte Verlangen, dieses Sehnen nach einem unbekannten Etwas habe ich in mir gefühlt und fühle es noch; aber nicht seine Erfüllung.“ [14] Sein Heidelberger Freund bestätigt ihm: „Ich kannte nie einen unruhigeren, fieberhafteren Geist, als den Ihrigen.“ [15] Durch die Wiederholungen wirkt dieser Wesenszug der Figur zunehmend konstruiert, mehr „romantisiert“ als „romantisch“.
Wie so viele romantische Figuren wird Flemming durch diese Unruhe und fieberhafte Sehnsucht zu einem Wanderer. Das ganze Werk ist ein Reisebuch, von Beginn an ist er in Bewegung und durchmisst mit Postkutsche und auf Fußwanderungen das Land. In den Werken der Romantik ist dieses ständige Umherwandern das in Bewegung umgesetzte „romantische Grundgefühl“, die nie endende Suche nach der Erfüllung einer Sehnsucht, die nie an ein Ziel kommen kann: „‚Wohin?‘, das ist eine Grundfrage der Romantik.“ [16] Paul Flemmings Reise aber unterscheidet sich von romantischen Wanderungen in einem wesentlichen Punkt: Sie ist nicht ziellos, nicht, wie es von seiner Sehnsucht wiederholt betont wird, „unbestimmt“. Sie führt ihn weder wie Ofterdingen in ein Traumland noch wie Eichendorffs Taugenichts „so in die freie Welt hinaus“. [17] Sie geht nicht ins romantisch Unbestimmte, sondern ist bereits touristisch motiviert, eine Reise, von der man mit Souvenirs versehen zurückkehrt. Die durchwanderte Welt zeigt sich als eine, deren Sehenswürdigkeiten nicht allein in der romantischen Dichtung verzeichnet sind, sondern bereits in Reiseführern wie dem Baedeker. Wenn dieser Wanderer in den Alpen eine blaue Blume findet, ist es nicht mehr und nicht weniger als eine reale Blume: „Er blieb nur stehen, um eine glänzende blaue Blume zu pflücken, welche in der weiten Einöde allein blühte und zu ihm aufblickte, als wollte sie sagen: ‚O nimm mich mit! laß mich nicht hier ohne Gefährten!‘“ [18] Zwar erinnert ihr sprechendes Aufblicken an Novalis’ blaue Blume, doch weder bewegt sie etwas in Flemming (wie bei Novalis die lichtblaue Blume Heinrich von Ofterdingen „mit voller Macht anzieht“, ihn „berührt“ und in ihm „unnennbare Zärtlichkeit“ erweckt [19]), noch wird sie selbst zur Akteurin, wie sie es bei Novalis ist – Flemming pflückt sie und im nächsten Augenblick ist sie bereits wieder vergessen.
Einem Figurentypus, wie er aus zahlreichen romantischen Romanen bekannt ist, begegnet Flemming in Interlaken. Es ist ein fahrender Sänger, der mit seinen Liedern eine persönliche, tiefere Botschaft zu vermitteln scheint und auf diese Weise zum Unglücksboten wird. Flemming hat sich in Interlaken in die junge Mary Ashburton verliebt. Bei einem Ausflug, den er mit ihr und einigen weiteren Freunden unternimmt, begegnet ihnen der fahrende Sänger mit seiner Gitarre. Schon als er für die Gesellschaft zu singen beginnt, berührt er sie mit seiner Musik auf eine ungewohnte Weise:
„Da schien jedes Gefühl des menschlichen Herzens einen Ausdruck zu finden und in den Herzen der Hörer ein verwandtes Gefühl wachzurufen. Er sang seltsame deutsche Lieder, so voll Sehnsucht und anmuthiger Trauer, und Hoffnung, und Furcht, und leidenschaftlichen Verlangens, und herzbezwingenden Schmerzes, daß in Mary Ashburton’s Augen Thränen traten, obwohl sie die Worte, die er sang, nicht verstand.“ [20]
Noch ist die Ansprache eine allgemeine, die Musik spricht – auch ohne Verständnis für den Text – „jedes Gefühl des menschlichen Herzens“ an und ruft daher in allen ein „verwandtes Gefühl“ hervor. Doch es sind Gefühle, die zu Tränen rühren, keine, die Freude wecken. Die „seltsamen deutschen Lieder“ werden nicht wiedergegeben, dafür jedoch zwei Lieder, die er abschließend singt. Das erste ist ein Auszug aus Friedrich Rückerts Kriegsgedicht Das ruft so laut und er singt es mit einem „vor Siegesfreude“ glühenden Gesicht, als er merkt, dass Mary Ashburton von seiner Musik berührt ist. Gerade die Verse sind abgedruckt, in denen vom in der Schlacht „sterbenden Bruder“ die Rede ist. Das allein hätte bereits als schlechtes Omen genügt, doch wird die Wirkung noch einmal deutlich verstärkt, wenn er „mit einem reizenden Lächeln“ sein letztes Lied anstimmt und sich dabei direkt an Flemming wendet, „gerade in Flemming’s Gesicht blickend“:
„Ich kenn’ ein Mägdlein wunderfein,
Hüt’ Du Dich!
Sie kann so falsch und freundlich sein,
O hüte Dich!
Trau’ ihr nicht,
Sie spottet Dein!“ [21]
Sein „reizendes Lächeln“ wird zuletzt zu einem „spottenden Lachen“: „Die letzte Strophe sang er mit lachendem, triumphirendem Tone, welcher den lauten Klang seiner Guitarre wie das spottende Lachen Till Eulenspiegel’s übertönte.“ [22] All das ist eine unheilverkündende Vorausdeutung auf das, was im folgenden Kapitel geschehen wird: Bei ihrem nächsten gemeinsamen Ausflug erklärt Flemming Mary Ashburton seine Liebe, sie jedoch weist ihn zurück, worauf er am Boden zerstört die Stadt verlässt.
Während im veröffentlichten Buch Flemming auf die unheilverkündende Provokation des fahrenden Sängers nicht eingeht, sind im Manuskript das Unheimliche der Szene und Flemmings Reaktion darauf drastischer herausgearbeitet. Nachdem der Sänger sein letztes Lied beendet hat, bricht er in ein fast teuflisches Gelächter aus. Flemming ist davon so verunsichert, dass er ihn auf Deutsch anschreit: „‚Hole Dich der Kuckuck! […] Was meinest Du mit Deinem hönischen Lachen, Schlingel!‘ But the student answerd him never a word.“ [23] Noch in derselben Nacht klopft derselbe Unglücksbote an die Tür von Flemmings Schlafkammer – die, um die Unheimlichkeit zu steigern, in einem verlassenen Klostergebäude gelegen ist: „It was […] dark night […], there was a knock at the door of the convent cell, and in came not a monk but the German student.“ [24] Flemming rechnet mit einem Duell um Mary Ashburton. In diesem Moment aber kippt die Szene vom Unheimlichen ins Banale. Der fahrende Sänger will Flemming lediglich darum bitten, das Manuskript seiner Lebensgeschichte in Amerika zu veröffentlichen; die späte Stunde des Besuchs ist nach dieser Wendung nicht mehr gerechtfertigt. Beide Szenen sind bereits im Manuskript gestrichen.
Solche Kippunkte kommen in Hyperion immer wieder vor. In dem Moment, in dem der Text wie der eines romantischen Autors zu wirken beginnt, macht er eine Kehrtwendung. Dasselbe geschieht auch gegen Ende seiner Reise mit Flemmings ‚romantisiertem‘ Zustand. Noch einmal ist von der „unbestimmten Sehnsucht“ die Rede, doch schon im selben Satz wird sie sehr genau bestimmt: „Sein Herz war von einer unbestimmten Sehnsucht mit Reue vermischt erfüllt; Sehnsucht, etwas des Lebens Würdiges zu vollenden; Reue, daß er bis jetzt nichts vollendet, sondern nur gefühlt und geträumt hatte.“ [25] Kurz zuvor hat er den Entschluss gefasst, zurückzukehren in seine Heimat auf der anderen Seite des Atlantiks: „Dorthin will ich meine wandernden Schritte lenken, […] will ein Mensch unter Menschen, und nicht ein Träumer unter Schatten sein. Fortan sei mein Leben ein Leben der Thätigkeit und Wirklichkeit!“ [26] Indem er den Beschluss fasst, das Land der Romantik zu verlassen, lässt er auch seine Rolle als poetischer Tagträumer hinter sich, will zum arbeitsamen, braven Philister werden. Die Rückkehr an seinen Ausgangspunkt ist damit keinesfalls zu vergleichen etwa mit der von Hyazinth in Novalis’ Märchen Hyazinth und Rosenblüthchen, der nach seiner romantischen Reise gewissermaßen durch die Hintertür wieder ins – nun verklärte – Zuhause zurückkehrt. War das stete Umherwandern bereits kein zielloses romantisches Wandern, sondern ein touristisches, so wird nun auch die unbestimmte Sehnsucht zum konkreten Wunsch, das Träumen aufzugeben und einer nutzbringenden Tätigkeit nachzugehen. Flemming gibt seine Romantiker-Pose auf.
IV
Longfellow lässt mit dieser Figurenentwicklung seinen Protagonisten buchstäblich das Ende der deutschen Romantik erfahren. Er tut das im Jahr 1839 zu einem Zeitpunkt, zu dem noch einige ihrer Protagonisten leben und schreiben: August Wilhelm Schlegel in Bonn, wo Longfellow ihn selbst getroffen hat, Bettine von Arnim in Berlin, ihren communistischen Ideen nachgehend, Clemens Brentano in München… Sie haben sich zerstreut, sind nicht mehr vornehmlich mit dem romantischen Projekt beschäftigt. Die meisten jedoch, die Hauptfiguren der Romantik, sind bereits verstorben: Wackenroder, Novalis, Friedrich Schlegel, Karoline von Günderrode, Achim von Arnim etc. Nur drei Jahre zuvor ist Heines Romantische Schule erschienen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Hyperion ist die Romantik sich selbst historisch geworden – die romantische Schule hat geschlossen.
Wenn nun der Rezensent in The American Review über Hyperion schreibt: „It belongs, preeminently, to the Romantic School“, [27] so ist das in Longfellows Sensibilität gegenüber diesen Umbrüchen begründet. Das ganze Werk ist geprägt von Geist, Ikonografie und literarischen Werken der deutschen Romantik: mit Schauplätzen, die Lieblingsorte und -landschaften der Romantik sind, und mit einem Helden, der die Dichtung gewissermaßen einatmet und mit jedem Nerv die Einflüsse des romantischen Zeitalters wahrnimmt – einem Helden, der im Land der Romantik selbst romantisiert wird und doch diese Romantisierung zuletzt hinter sich lässt. Longfellow lässt seinen Helden nicht nur über die deutsche Literatur der Romantik sprechen – er spielt sie nach, imitiert sie. Er versucht sich damit an einem Transfer der deutschen Romantik in die amerikanische Literatur und wird zu einem der einflussreichsten Vermittler der deutschen, der romantischen Literatur in der englischsprachigen Welt. Markiert durch Brüche und Kipppunkte zeigt sich Hyperion jedoch durchgehend nicht als ein romantischer, sondern ein romantisierter Roman: ein Buch über die Romantik, aber kein romantisches Buch – eine Besichtigung der deutschen Romantik durch einen romantisch verkleideten Fremdling.
Anmerkungen
[1] Oscar Wilde: „The Canterville Ghost“, in: Ders., Complete Short Fiction, hg. von Ian Small, London [u. a.] 1994, S. 206–234, hier S. 214f.
[2] Henry Wadsworth Longfellow: The Poetical Works, London [u. a.] 1925, S. 46.
[3] Karl May: Winnetou, Bd. 1, Zürich 1990, S. 265.
[4] Vgl. dazu James Taft Hatfield: New Light on Longfellow. With special Reference to his Relations to Germany, Boston [u. a.] 1933, S. 114–125.
[5] The American Review, Boston 1840, zitiert nach: Henry Wadsworth Longfellow: Hyperions Wanderjahre. Eine romantische Reise, hg. von Lisa Kunze, Göttingen 2023, S. 315.
[6] Vgl. Hatfield, New Light, S. 44.
[7] Vgl. Longfellow, Hyperions Wanderjahre, S. 242f.
[8] Ebd., S. 94.
[9] Ebd., S. 101.
[10] Ebd., S. 85f.
[11] Ebd., S. 37.
[12] Dirk von Petersdorff: Romantik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2020, S. 28.
[13] Longfellow, Hyperions Wanderjahre, S. 106f., 112.
[14] Ebd., S. 76.
[15] Ebd., S. 106.
[16] Petersdorff, Romantik, S. 110.
[17] Joseph von Eichendorff: „Aus dem Leben eines Taugenichts“, in: Ders., Werke, Bd. 3, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1981, S. 1061–1146, hier S. 1061.
[18] Longfellow, Hyperions Wanderjahre, S. 114.
[19] Novalis: „Heinrich von Ofterdingen“, in: Ders., Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1, hg. von Richard Samuel, München 1978, S. 237–429, hier S. 242.
[20] Longfellow, Hyperions Wanderjahre, S. 148.
[21] Ebd.
[22] Ebd., S. 149.
[23] Henry Wadsworth Longfellow: Hyperion, Bd. 2, Manuskript, in: Houghton Library, Harvard University, Henry Wadsworth Longfellow papers, AS MS Am 1340, Vol. 70, S. 153.
[24] Ebd., S. 154.
[25] Longfellow, Hyperions Wanderjahre, S. 214.
[26] Ebd., S. 209.
[27] The American Review, S. 315.
Der wissenschaftliche Impuls ist unter folgendem Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59511