Die ‚Weihe des Zweifels‘
„Glaube und Zweifel sind einander entsprechend, sie gehören komplementär zu einander. Wo nie gezweifelt wird, da wird auch nicht richtig geglaubt.“ [1]
Als Hermann Hesse 1935 in Montagnola zum ersten und einzigen Mal seinem Brieffreund Christoph Schrempf begegnete, war es besonders jener Aphorismus, der ihm vom dem alten protestantischen Freigeist im Gedächtnis blieb. Ein Jahrzehnt später verstarb der 1860 geborene Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller hochbetagt am 13. Februar 1944, was den 17 Jahre jüngeren Hesse zu einem ausführlichen, den zitierten Ausspruch Schrempfs memorierenden Nachruf veranlasste. Der „schwäbische Sokrates“, als welchen Hesse den „Erwecker, Berater, Tröster, Freund, Gewissensschärfer“ [2] in Erinnerung behielt, hatte es Jahrzehnte zuvor im ‚Fall Schrempf‘ zu einiger Berühmtheit gebracht: Als der Württemberger Pfarrer in den frühen 1890er Jahren seine Anfechtungen und Vorbehalte hinsichtlich traditioneller Formeln der protestantischen Glaubenslehre immer weniger mit seinem Gewissen vereinbaren und das Apostolische Glaubensbekenntnis im Gottesdienst und bei Taufen nicht mehr sprechen zu können meinte, wurde er kurzerhand aus dem kirchlichen Dienst entlassen. In Kreisen des progressiv-liberalen Protestantismus jener Zeit galt Schrempf fortan als Märtyrer eines freisinnigen und modernen Christentums. Noch lange rang die gebildete Öffentlichkeit im sogenannten ‚Apostolikumsstreit‘ um die Frage nach der Verbindlichkeit und Wandelbarkeit traditioneller Glaubenssymbole unter den Bedingungen der Moderne. Dass sich Schrempf dabei seinen freisinnigen Optimismus und seine humanistisch-aufklärerischen Ideale nicht nehmen ließ, weckte später auch die Aufmerksamkeit seines jüngeren Württemberger Landsmanns Hesse, der den protestantischen Zweifler zunächst als Kierkegaardforscher und gelehrten Schriftsteller zur Kenntnis nahm. Bei allen Differenzen, die Hesse in seinem Nachruf nicht verschweigt, fühlt er sich dem Verstorbenen besonderes in jener eingangs zitierten Verbindung von „Glauben und Zweifeln“ verwandt.
Wenn es zutrifft, dass Hesse der „letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik“ [3] war, führt die damit angedeutete Wesensverbindung von Religion und Zweifel auf eigentümliche Weise in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts. Denn tatsächlich war die romantische Bewegung um 1800 und ihre vielfältige Verflechtungs- und Wirkungsgeschichte nicht zuletzt auch dies: ein Ereignis des Ringens um die innere Welt der Religion und um das Erbe des Christentums vor dem Horizont der Fraglichkeit seiner traditionellen Symbole. Friedrich Schleiermachers Wiederentdeckung der Religion im Gefühl und überhaupt alle großen protestantischen Akteure der Romantik waren immer auch große Zweifler – und gerade als Zweifler auf eigentümliche Weise fromm. Die große Frage, ob der Zweifel, insbesonders in Verbindung mit der Religion, zu den grundlegenden Wesenszügen der Romantik und ihrem bis in die Gegenwart ragenden Erbe zu zählen ist, kann im Folgenden natürlich nicht eingehend behandelt werden [4]; stattdessen widmen sich die Ausführungen einem in der Forschung bisher nur wenig beachteten, im 19. Jahrhundert hingegen durchaus erfolgreichen Lehrroman von 1822, der jüngst anlässlich seines 200. Jubiläums in neuer Edition erschienen ist. [5]
Theodor oder des Zweiflers Weihe
Vor genau 200 Jahren, im Sommer 1825, erschien in den Ergänzungsblättern der Allgemeinen Literaturzeitung eine lange und ausführliche Rezension über ein literarisches Ereignis, das seit 1823 die an Religion und Theologie interessierte Bildungswelt im deutschsprachigen Raum bewegte. Während – so der anonyme Rezensent – „einige sich beeiferten, dasselbe nicht nur als anziehend durch Form und treffliche Darstellung, sondern auch als reich an Belehrung über die wichtigsten Gegenstände der christlichen Glaubenslehre, allen gebildeten Lesern […] zu empfehlen“, tadelten kritische Stimmen „das Bestreben des ungenannten Vfs., unter der Hülle eines Romans seine einseitigen Ansichten und grundlosen Philosopheme, statt echter religiöser Wahrheiten, ins Publikum einzuführen“. [6] Die Rede ist vom 1822 erschienenen zweibändigen Roman Theodor oder des Zweiflers Weihe, in dessen Verfasser man schon bald den 1819 von seiner Berliner Professur suspendierten Theologen und hochanerkannten Bibelwissenschaftler Wilhelm Martin Lebrecht de Wette erkannte. [7] Der für seine progressive historisch-kritische Arbeit bekannte und als demokratieaffin-liberaler Akteur vorbelastete Autor galt schon damals als erstes prominentes Opfer der sogenannten ‚Demagogenverfolgung‘: Weil er der Mutter des hingerichteten radikalisierten Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand, dem Mörder Kotzebues, einen Trostbrief geschrieben hatte, wurde de Wette seines Berliner Lehrstuhls enthoben und musste in seine alte Heimat Weimar umsiedeln, wo er sich neben wissenschaftlichen Projekten auch an Schöngeistigem versuchte. Der besagte Theodor, ein als Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen konzipierter Lehr- und Bildungsroman, erschien dann 1822, als de Wette bereits einem Ruf an die Universität Basel (an der er zeitlebens blieb) gefolgt war. Ein Biograph schrieb später, der Autor habe darin in „poetischer Form“ sein „eigenes geistiges Ringen, den Kampf in seinem Innern zwischen Zweifel und Glauben, zur Darstellung“ bringen wollen. [8] Und tatsächlich portraitiert das Buch über „des Zweiflers Weihe“ wesentliche Stationen der europäischen Kulturepoche um 1800, durch die auch de Wette damals geprägt wurde.
Romantisch-religiöses ‚Road-Movie‘
Der Held des Romans, Theodor, ist ein junger Theologiestudent und dazu bestimmt, einst das Predigtamt des Landguts seiner Familie zu übernehmen. Doch dann kommt alles anders. Im Studium gerät er an gefährliche ‚Neuerer‘, an von der Aufklärung und Kant beeinflusste Professoren – sodann verliebt er sich auch noch in eine adlige Diplomatentochter, die ihn in die inspirierenden Kulturwelten des weltoffenen Bürgertums einführt. Und so nimmt das Unglück seinen Lauf: Theodor entfremdet sich immer mehr von seiner Berufungsbestimmung als Landgeistlicher; beschämt, aber irgendwie auch befreit, bricht er schweren Herzens sein Familienversprechen und schlägt – anders als sein einfältig-frommer Jugendfreund Johannes – eine Beamtenlaufbahn ein. Doch auch hier wird er bald von Zweifeln erfasst: Hinter der faszinierenden Fassade bürgerlichen Lebens geht es bei genauerem Hinsehen ziemlich unwahrhaftig zu: Kompromisse, Stumpfsinn, Seilschaften und Oberflächlichkeit strapazieren Theodors von hohen Idealen geprägtes Weltbild. Sein neuer Beruf macht ihn unglücklich, schließlich zerbricht dann auch die Verlobung mit der schönen und lebenslustigen Therese, die ihre Liebe zu Theodor von dessen Konformität mit ihrer aristokratischen Lebenswelt abhängig macht. Haltlos und zerrissen zieht Theodor sodann, durchaus auch getrieben von patriotisch-romantischem Eifer, als Soldat in den Befreiungskrieg gegen Napoleon, der für ihn mit einer schweren Verwundung endet. Doch dann geschieht etwas ganz Eigenartiges. Die Verzweiflung, in die sein Leben geraten war, erscheint ihm insbesondere durch den intensiven Austausch mit seinen Freunden und Weggefährten nun zunehmend vor einem neuen Horizont: „So ging unser Freund raschen Schrittes vorwärts auf der Bahn des Zweifels. Oft schwindelte ihm, wenn er von der steilen Höhe, aus welcher er fort wandelte, hinabschaute in das enge, stille Thal des einfältigen Jugendglaubens, in welchem er so ruhig und so glücklich gelebt hatte. Aber es zog ihn eine geheime Gewalt unwiderstehlich fort, und ein kühner Muth hob sein Herz.“ [9] Durch den Sog jener „geheimen Gewalt“ entfaltet sich, was wir heute vielleicht als ‚Roadmovie‘ bezeichnen würden. Auf abenteuerlichen Reisen erschließen sich dem Zweifler Theodor die Kulturwelten seiner Zeit: die großen Werke und Debatten der Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts, herausfordernde Bildungsereignisse und Naturerlebnisse, ausgedehnte Reisen durch ganz Europa und schließlich der Halt tiefer Freundschaft und das Geheimnis vertrauensvoller Liebe zu einer ebenso frommen wie schönen Katholikin – Hildegard. Sein Bildungsweg erschließt dabei nicht nur einen geweiteten Welthorizont und ungeahnten Sinn für die tief in das Leben verwobene Vielfalt religiöser und ethischer Anschauungen und Konflikte, sondern taucht auch die Gegenstände seines Zweifels in ein neues Licht: Was er einst an seinem traditionellen Jugendglauben meinte ablehnen zu müssen, kann er nun als religionsästhetische Ausdrucksform individueller Religion aus vergangenen Zeiten oder fremden Kulturkreisen gelten lassen. Ebenso gelingt es ihm zunehmend, die verschiedenen Glaubensprofile der neu gewonnenen Freunde, die er zwar nicht unbedingt teilt, aber als Quelle für lautere Menschlichkeit und Frömmigkeit respektieren kann, in ihrer tiefen, gleichsam verborgenen Wahrheit und Bedeutung zu würdigen.
Und so wird Theodor der Zweifler am Ende des Romans doch noch Landpfarrer, wie es seine fromme Mutter sich gewünscht hatte – nicht etwa, weil er zu seinem Jugendglauben zurückfindet, sondern weil er durch seine Zweifel hindurch ein anderer geworden ist. Er heiratet die zuvor zum Protestantismus konvertierte Hildegard, die jedoch das eigentliche Wesen ihrer katholischen Marienfrömmigkeit ebenso bewahren kann, wie Theodor im Katholizismus nun tatsächlich – bei aller Kritik – „hohe innere Wahrheit“ zu erblicken vermag. [10] Beide sind nun nicht nur in der Liebe, sondern auch im Glauben vereint, den sie durch den Zweifel an den Symbolen ihrer Herkunftskonfessionen gleichsam neu gewonnen und vertieft haben und der sie zu einer Frömmigkeit höherer Ordnung finden lässt.
Religion und Lebensweg
Unschwer ist damit ein Grundmotiv des für die romantische Bewegung so wichtigen klassischen Bildungsromans zu erkennen, wie ihn Wilhelm Dilthey treffend anhand von Hölderlins Hyperion charakterisiert hat: „Eine gesetzmäßige Entwickelung wird im Leben des Individuums angeschaut, jede ihrer Stufen hat einen Eigenwert und ist zugleich Grundlage einer höheren Stufe. Die Dissonanzen und Konflikte des Lebens erscheinen als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie“ [11], indem der Romanheld „nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird“. [12] Die zeitgleich in Weimar entstandenen und von den romantischen Geniezirkeln intensiv gelesenen Wilhelm-Meister-Romane sind im Theodor deutlich als Vorbild erkennbar. Das Widerfahrnis der Krisen und Anfechtungen wird nicht als zu beseitigendes Übel, sondern als notwendige, ja geradezu heilsame Kraft erlebt. Ein Zweifel in frommer Absicht also, voller religiöser Leidenschaft und Sehnsucht nach angemessenen Ausdrucksformen für das innerlich Erlebte.
Romantische Religionsästhetik
Das dahinterstehende, die Knoten des Zweifels lösende religionsphilosophische Schlüsselkonzept wird im Roman durch „Professor A.“ verkörpert, in dem Theodor seinen entscheidenden Mentor findet – unverkennbar portraitiert de Wette hier seinen eigenen Lehrer und Freund Jakob Friedrich Fries, dessen an Kant anschließende anthropologisch-psychologische Ästhetik den hermeneutischen Fluchtpunkt seiner theologischen Werke bildet. Während die historische und dogmatische Wahrheit traditioneller kirchlicher Lehre im Zuge seiner radikalen historischen und erkenntnistheoretischen Kritik massiv unter die Räder kommt, ist es nun die ganz eigenständige Lebendigkeit der dahinterliegenden spirituellen Ausdrucksformen und Symbolwelten, in denen de Wette die eigentliche Wahrheit und Tiefe des Christentums wiederentdeckt. So fremd und fern die alten Quellen der Religions- und Frömmigkeitsgeschichte dem kritisch-aufgeklärten Ohr auch klingen mögen; so rustikal und sperrig die Begriffe der traditionellen Dogmatik auch anmuten: versteht man sie als „symbolisch eingehüllt“ [13] überlieferte Eruptionen religiöser Gefühle, als symbolische Ausdrucksformen innerlicher Bewegung, kurz: als fromme Poesie und unmittelbarer Ausdruck religiöser „Begeisterung“, vermag man sie – so die Überzeugung de Wettes – in einem neuen Licht zu sehen und mit dem eigenen religiösen Empfinden anzueignen. De Wette will sich, seinen Jugendlehrer Herder hier romantisch weiterdenkend, „der Aufgabe einer religiösen Psychologie“ stellen, „welche in die Innere Werkstätte der religiösen Ansichten eindringt, und die Entstehung derselben im Gemüth aufzeigt.“ [14] Sie soll „die Religion als etwas Werdendes und Schwebendes auffassen“, um nicht mit ihren fragwürdig gewordenen historischen Hülsen und „äußeren Erscheinungen stehen zu bleiben“. [15] Eine psychologisch-ästhetische Hermeneutik religiöser Symbole also, über die er ausführt: „[…] diese Psychologie muß aber nicht aus den Büchern, sondern aus dem innern Leben geschöpft seyn, und muß nicht engherzig Alles nach dem eigenen Leben und dem Leben unserer Zeit beurteilen, sondern in den Geist der alten Zeiten, vornehmlich der biblischen Schriftsteller einzugehen wissen. Es ist dieß die großartige Wissenschaft, welche uns das ganze, große, reiche Leben der Geschichte aufschließt, und ohne welche alle Forschung todt und unfruchtbar ist; es ist das innere, reine Auge, mit welchem wir in der Geschichte die mannichfaltige Erscheinung des menschlichen Geistes erkennen.“ [16] Der bei Fries im Kontext der Frühromantik in Jena und Heidelberg geprägte Begriff der „Ahndung“ bildet hierfür den erkenntnistheoretischen Fluchtpunkt und führt die Hauptfiguren im Theodor-Roman zu den entscheidenden Wende- oder Transformationsmomenten: Nicht in dogmatischer oder philosophischer Lehre, sondern auf den Bergen der Schweiz, in Kunstgalerien und Konzerthäusern, in der Natur und in Momenten der Freundschaft, der Hingabe und Andacht erschließt sich die eigentliche ‚Weihe des Zweifels‘, die damit nicht als die eine, alle Zweifel vom Tische wischende Wahrheit, Lebenslösung oder Glaubensrichtung in Erscheinung tritt, sondern als „Empfänglichkeit für etwas Höheres“ erlebt, durchlebt, das heißt: als Ereignis wirklich werden muss. Theodor lernt zu erkennen, dass seine Zweifel nur das „Außerwesentliche der Sache“ betrafen: „Der ästhetische Charakter des Protestantismus ist der auch im Christenthum vorherrschende der Andacht und Ergebung. Ernst, tief und erhaben ist das Gefühl, welches ihn in seinem innersten Leben bewegt; aber mit heiliger Scheu birgt er es im Heiligtum des Herzens.“ [17] Seinen romantischen Zeitgenossen verbunden ist de Wettes Roman dabei nicht zuletzt auch in seinem allgegenwärtigen Freundschaftsideal, in dem die besagte Innerlichkeitsdimension des ästhetischen Erlebens erst eigentlich erfasst und gelebt wird. Am Ende gründet Theodor mit Hildegard dann tatsächlich eine „Genossenschaft“, eine Stiftung im Geiste eines egalitären Gemeinwesens, eine Allmende der allgemeinen Teilhabe – sozusagen als realpolitisch-lebensreformerisches Pendant dieses Freundschaftsideals und als Utopie einer postfeudalen, ständelosen Gesellschaft des Gemeingeistes. [18]
Dass der Theodor-Roman schließlich auch schon in seiner literarischen Gattungsform selbst ein geselliges Ereignis ist, und damit die Pointe seines Inhalts gewissermaßen schon performativ in sich trägt, erinnert natürliche ebenfalls an sein romantisches Entstehungsumfeld: das Erzählen, Imaginieren und Lesen eines Romans als ästhetischer Vorgang der Aneignung und Geselligkeit spiegelt de Wettes Idee eines ästhetischen Protestantismus in einer populären Kunstform, in der sich nicht zuletzt auch die alten Symbole des Christentums so erschließen sollen, wie sie ursprünglich einmal entstanden sind: als poetisch-ästhetische Darstellungsformen schöpferischer Geselligkeit.
Transatlantisch-transromantische Wirkung
Da de Wette anders als die meisten Romantiker an seiner letzten und längsten Lebensstation in Basel recht alt wurde und die ersten Eisenbahnen ebenso erlebte wie das Parlament in der Frankfurter Paulskirche, konnte er sich auch noch über den Erfolg der amerikanischen Übersetzung des Theodor freuen. [19] Sein Roman wurde jenseits des Atlantiks auch als große ökumenische Vision verstanden: Im Milieu des unitarischen Transzendentalismus war Theodore Or The Sceptics Conversion in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein vielgelesenes Buch und ein Schlüsselwerk der amerikanischen Rezeption europäischer Philosophie und Theologie. [20] Die Idee der Weihe des Zweifels verband man hier als christliche Freiheits- und Bildungsidee mit der Anti-Sklavereibewegung und dem Grundgedanken der Menschenwürde. Diese spannende transatlantische Kulturbrücke ist bisher erstaunlicherweise kaum erforscht worden – dabei ist sie gerade im Blick auf die globale Wirkungsgeschichte der Romantik brisant: Denn die Verbindung des reformatorischen Freiheitsgedankens mit dem ästhetischen Ideal der romantischen Kulturepoche bildete gerade in der sich damals von Europa emanzipierenden nordamerikanischen Literaturgeschichte nochmal eine ganz eigene Spur aus: Zur Naturästhetik eines Henry David Thoreau, zum ästhetischen Transzendentalismus eines Ralph Waldo Emerson oder Theodore Parker, sowie zu weiteren Protagonisten dieses Umfeldes wie James F. Clarke, Margaret Fuller, Samuel Osgood und George Ripley ergeben sich bemerkenswerte Verbindungslinien von de Wettes Theodor zum Ideal eines weltoffenen ästhetischen Protestantismus in den USA und seiner grundlegenden Bedeutung für deren politische und gesellschaftlich-kulturelle Vision. Vielleicht ist der mit de Wettes Roman kondensierte freisinnige Geist eines aufgeklärten ästhetischen Christentums auch für die gegenwärtige kulturdiagnostische und konfessionspolitische Analyse transatlantischer Wertedebatten von einer gewissen Erschließungskraft – allzumal wenn man bedenkt, dass 1823, ein Jahr nach dem Theodor-Roman, ein ‚Anti-Theodor‘ erschien, der seinen Antipoden an verlegerischem Erfolg noch übertraf: Mit seinem als „Wahre Weihe des Zweiflers“ herausgegebenem Buch Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner schrieb der junge Theologe und Orientalist August Tholuck (1799–1877) eines der meistgelesenen und erfolgreichsten Erbauungsbücher der neupietistischen Erweckungsbewegung. [21] Der dem Theodor entgegengehaltene Briefroman, dessen Protagonisten Guido und Julius das Ideal der „Höllenfahrt der Sündenerkenntnis“ und der spirituellen Wiedergeburt verkörpern, erlebte im deutschsprachigen Original zahlreiche Auflagen und gilt in seinen Übersetzungen bis heute als Klassiker evangelikaler Frömmigkeitsbewegungen, Lebensideale und Weltanschauungen.
Ausblick: „Religion und Theologie als Sache des Lebens“
Die Hauptabsicht, die de Wette mit seinem Romanprojekt verfolgte, war sicherlich eine allgemeinverständliche Hinführung zu den basalen Themen der Theologie, Philosophie und Ethik seiner Epoche – auf „den Ruhm, ein Kunstwerk geliefert zu haben“, will er bei allem Erfolg, den das Werk in den gebildeten Lesekreisen und Salons seiner Zeit genoss, keinen Anspruch erheben. [22] Es ging ihm allerdings, wie er im Vorwort der zweiten Auflage von 1828 schrieb, durchaus um eine hermeneutisch brisante Idee, nämlich um den Versuch, „Religion und Theologie als Sache des Lebens“ zu betrachten und „in ihnen den Gipfelpunkt aller Welt- und Lebensansichten“ zu finden. [23] Dass er, 1780 als Sohn eines Pfarrers im Dorf Ulla bei Weimar geboren und in der Gymnasialzeit durch Herder geprägt, in Jugend und Studium durch die großen Klassiker in Weimar, die frühromantische Bewegung und die idealistische Philosophie in Jena, Heidelberg und Berlin geprägt wurde, ist dabei mit Händen zu greifen. Sein Theodor ermöglicht hierzu bemerkenswerte Einblicke in die dahinterliegenden theologischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Ideen. Neben den Idealen der Freiheit und Demokratie werden dabei auch die aus heutiger Sicht problematischen Erbstücke der Romantik deutlich, besonders in der hier und da durchbrechenden judenfeindlichen Haltung, die bei de Wettes Lehrer Fries im Kontext des Wartburgfestes von 1817 zu schroffem Antisemitismus ausartete. Bei aller ökumenischen Fortschrittlichkeit erscheint der Katholizismus immer wieder auch als abzulehnendes Zerrbild; die in romantischen Zirkeln legendäre Bedeutung und Wertschätzung von Frauen, die sich in den weiblichen Hauptfiguren des Romans spiegelt, kippt immer wieder auch in von tatsächlicher Gleichstellung himmelweit entfernte Rollenzuschreibungen und einseitige Klischees.
200 Jahre nach seinem ersten Erscheinen ist de Wettes Theodor-Roman, der zum Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in Vergessenheit geriet, auch aus diesem Grund noch immer lesenswert. Der Begleitband zur 2022 erschienenen Neuausgabe des Romans unternimmt hierzu bereits erste interdisziplinäre Erkundungen und Ausblicke auf weitere Quellen. [24]
Inwiefern die Idee eines freisinnigen ästhetischen Protestantismus und einer psychologisch-romantischen Wiederentdeckung der Religion auch heute noch weiterzuerzählen wäre, bleibt indessen offen: Hermann Hesse war als moderner Sinnsucher und spiritueller Dichter zuversichtlich, dass es diese Spur auch weiterhin zu verfolgen lohnt – bei seinem alten Freund Schrempf vermisste er bei aller Verbundenheit im frommen Zweifel eben jenen romantischen Sinn für eine ästhetische Religionshermeneutik des Lebens: „Die Gnade des Schönen, die Rechtfertigung durch die Kunst ist ein Gebiet des Erlebens, das ihm zum grössern Teil verschlossen blieb.“ [25]
[1] Vgl. Hermann Hesse: „Nachruf auf Christoph Schrempf“, in: Neue Schweizer Rundschau 11 (1944), S. 717–726, hier S. 723 (= Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 2001, S. 428–437, hier S. 434).
[2] Ebd.
[3] Vgl. Hugo Ball: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1927, 26.
[4] Im vergangenen Jahr (02.12.2024) diskutierten hierzu auch Dirk von Petersdorff und Dirk von Lowtzow:
„Die Unendlichkeit. Ist Tocotronic eine romantische Band?“ www.gestern-romantik-heute.uni-jena.de/kultur/artikel/die-unendlichkeit-ist-tocotronic-eine-romantische-band-2.
[5] Die folgenden Ausführungen stammen teilweise aus dem Vortrag „Geselligkeit als des ‚Zweifels Weihe‘. Lebensweg und allgemeines Priestertum in W. M. L. de Wettes Theodor-Roman (1822) vor dem Horizont der protestantischen Theologie und Frömmigkeit seiner Zeit“, den ich im Mai 2024 an der Leucorea in Wittenberg im Rahmen der Tagung Reformation und Romantik gehalten habe.
[6] Anon: „Rezension zu Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangl. Geistlichen“, in: Allgemeine Literaturzeitung. Ergänzungsblätter 88 (August 1825), 697–712, hier 697.
[7] Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen, 2 Bde., Berlin 1822.
[8] Zitiert nach Alfred Hartmann: „Wilhelm Martin Leberecht de Wette“, in: Gallerie berühmter Schweizer der Neuzeit. In Bildern von Friedrich und Hans Hasler. Mit biographischem Text von Alfred Hartmann, Band 1, Baden im Aargau 1868, Nr. 42.
[9] Ich zitiere den Roman im Folgenden nach der 2022 erschienenen Neuausgabe: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen. Mit Anmerkungen, Registern und Nachwort versehene Neuausgabe nach der zweiten Auflage von 1828, hg. von Peter Schüz, Baden-Baden 2022, S. 19.
[10] De Wette: Theodor, S. 444.
[11] Wilhelm Dilthey: „Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin“ (1905), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 26, hg. von Gabriele Malsch, Göttingen 2005, S. 253.
[12] Ebd., S. 252.
[13] Wilhelm Martin Leberecht de Wette: „Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie“, in: ThStKr 1 (1828), S. 125–136, hier S. 133.
[14] Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Über Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuche der Dogmatik, Berlin 21821, S. 212 (Hervorhebung im Original).
[15] Ebd.
[16] Ebd., S. 135f.
[17] Ebd., S. 141.
[18] Hierzu schrieb de Wette später in der Schweiz ebenfalls einen Roman, dessen Erfolg aber nicht an den Theodor heranreichte: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Heinrich Melchthal, oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte, Berlin 1829.
[19] Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Theodore; Or the Skeptics Conversion. History of the Culture of a Protestant Clergyman. Translated from the German by James F. Clarke, 2 Vols. (Specimens of Foreign Standard Literature, Vol. X./XI, edited by George Ripley), Boston 1841. De Wette steuerte hierzu auch ein erläuterndes Vorwort für die amerikanische Leserschaft bei.
[20] Zum Hintergrund vgl. insbes. Siegfried B. Puknat: „De Wette in New England“, in: Proceedings of the American Philosophical Society 102 (1958), S. 376–395.
[21] August Tholuck: Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers, Hamburg 1823 (21825–91871).
[22] Vgl. das Vorwort in de Wette: Theodor, S. 5.
[23] Ebd., S. 6 (= Vorrede zur 2. Auflage von 1828, S. VII).
[24] Peter Schüz (Hg.): Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert. Interdisziplinäre Erkundungen im Spiegel des Lehr-Romans „Theodor oder des Zweiflers Weihe“ von W. M. L. de Wette, Baden-Baden 2022.
[25] Hesse, Nachruf auf Christoph Schrempf, 722.