Elisabeth Hartlieb , 08.03.2025

Dorothee Sölle und die Romantik

„Mein metaphysisch-ästhetischer Traum ist die vollkommene Poesie, die zugleich reines Gebet wäre.“ [1]

Die protestantische Theologin Dorothee Sölle und die Wiederkehr des „romantischen Syndroms“ in den Neuen Sozialen Bewegungen

Dorothee Sölle (1929–2003) zeichnet sich dadurch aus, dass sie als Konsequenz ihrer Theologie Religionskritik und Gesellschaftskritik verband und zusammendachte, aber dennoch weder auf Glauben noch auf gesellschaftlich relevantes Handeln als Christin verzichtete. [2] Sie setzte sich ohne Berührungsängste mit politisch und gesellschaftlich umstrittenen Themen auseinander und reflektierte sie in ihrem eigenen theologischen Ansatz – in ihrer „Feministischen Befreiungstheologie für die Erste Welt“.  Zugleich positionierte sie sich persönlich-existentiell und verstand sich als Teil der Neuen Sozialen Bewegungen und ihrer Anliegen: soziale Gerechtigkeit für die Armen weltweit, Kampf gegen kolonialistische Ausbeutung und Militarisierung, Einsatz für Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dorothee Sölle wurde zweimal wegen Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen gerichtlich verurteilt. Sie war Mitbegründerin der ökumenischen Gruppe „Politisches Nachtgebet Köln“ und gehörte zu deren prominentesten Mitgliedern. Ihre Vorträge und Bibelarbeiten im Rahmen der Deutschen Evangelischen Kirchentage (seit 1967, zuletzt 2001) und im Kontext der ökumenischen Bewegung, nicht zuletzt auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983, trugen maßgeblich zur Bekanntheit und zur Unterstützung der sogenannten Alternativbewegungen im Raum der deutschen Kirche bei. [3] Sie wurde zu einer der  bekanntesten und wirkmächtigsten Vertreter_innen des linken Protestantismus in Deutschland. Sie war und ist noch immer für viele Christinnen und Christen eine prophetische Stimme, die ihren religiösen Vorstellungen und Hoffnungen eine Sprache verliehen hat. Auch jetzt noch gehört sie zu den wenigen wissenschaftlichen Theologen und Theologinnen des 20. Jahrhunderts, deren Texte in Gottesdiensten verwendet werden. Dorothee Sölle war zu ihren Lebzeiten eine umstrittene und selbst streitbare Theologin, eine Autorin mit erkennbarer Lust an scharfen Zuspitzungen. Weder Irrtumsfreiheit noch dogmatische Korrektheit hat sie angestrebt – ihr ging es um die leidenschaftliche Klarheit des Denkens, die Liebe zum Leben und um die Wahrheitsfähigkeit der Sprache.  Zur Ikone des Protestantismus mag sie gemacht worden sein und hat sich möglicherweise darin auch gelegentlich gefallen ― dennoch handelt es sich dabei um eine Fremdzuschreibung.

Theologisch wird und wurde Dorothee Sölle mit den Strömungen der Politischen Theologie und der Befreiungstheologie verbunden – dies entspricht auch ihrer Selbsteinordnung. So mag es auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, nach der Verbindung von Sölle zur Romantik zu fragen. Ein zweiter Blick, der sich anleiten lässt vom kultursoziologischen Zugang, dass in den neuen sozialen Bewegungen romantische Motivbündel weiterwirken, erweist sich als lohnend.

Dafür gehe ich zuerst darauf ein, inwiefern die Protestbewegungen in der Bundesrepublik der späten 1960er bis zum Ender der 1980er Jahre an die romantische Bewegung des 19. Jahrhunderts anknüpfen.

Der Soziologe Johannes Weiß versteht die Frühromantik als „große Gegenbewegung gegen den Prozeß der Entzauberung der Welt“. Sie ziele darauf ab, durch eine umfassende Kultursynthese die in der Dialektik des aufklärerischen Rationalisierungsprozesses aufgebrochenen Gegensätze zu versöhnen. Johannes Weiß unterscheidet vom historischen Begriff der Romantik, den er auf das 19. Jahrhundert bezieht, das „Romantik-Syndrom“ als kulturell identifizierbares Bündel von Semantiken, das seither immer wieder auftaucht und sieht insbesondere in der grünen Umweltbewegung der 1980er Jahre „viele, wichtige Topoi des romantischen Bewusstseins“ wiederkehren. [4]

Diese Spur im Verständnis der Romantik und ihrer Nachwirkungen im 20. Jahrhundert hat die Philosophin Cornelia Klinger weiterverfolgt und mit zwei Fragen bearbeitet. Zum einen: Wie ist die Romantik historisch zu verstehen? Welche Bedeutung nimmt sie als Gegenbewegung zum Rationalisierungsprozess der Aufklärung ein? Sind die Romantiker_innen hoffnungslos rückwärtsgewandte Träumer, deren Projekte und Ideen zum Scheitern verurteilt waren?  Daraus ergibt sich zum anderen die Frage, wieso romantische Topoi dann nicht im Vergessen versinken. Warum kehren in der Moderne die Inhalte und Motive als „romantisches Syndrom“ mehrfach wieder?  Wieso tauchen in der Moderne des 20. Jahrhunderts hartnäckig Motivbündel und Themenstränge auf, die anschließen an die romantische Gegenbewegung zur rationalen Durchleuchtung und Zergliederung der Welt? Wie kann das Weiterwirken dieser Dynamik von rationaler Entzauberung und ästhetischer Wiederverzauberung in der Moderne verstanden werden? [5]

Cornelia Klinger betrachtet die Alternativbewegungen der frühen 1970er bis Mitte der 1980er Jahre ähnlich wie Johannes Weiß als Beispiel für „die Wiederkehr des romantischen Syndroms“ [6]. Sie stellt die These auf, dass die Friedensbewegung, die Frauenbewegung, die ökologische Bewegung als gesellschaftliche Phänomene „die Wiederholung der romantischen Konstellation“ [7]  darstellen, die in abgewandelter Weise eine zugrundeliegende modernitätstheoretische Problemkonstellationen erkennen lassen.

Klinger zeigt auf, dass sich „ganze Problemfelder und ihre Lösungsmuster durchhalten bzw. wiederholen“, also nicht einfach als überflüssige Vergangenheitsreste abgetan werden können wie Eierschalen, nachdem das Küken geschlüpft ist. Klinger fordert vielmehr, diese Problemfelder müssten als Teil der Moderne selbst wahrgenommen werden. [8]

Das wiederum bedeutet, dass das Problembewusstsein der Romantiker_innen modern und nicht etwa rückwärtsgerichtet gewesen sei, obwohl Klinger die ästhetischen Einheitskonzeptionen der Frühromantiker als gescheitert betrachtet. Ihr Fazit lautet: „Die ‚Crux‘ des Romantischen besteht darin, daß diese zutiefst widersprüchlichen Punkte zusammengehören [...]. Denn je mehr sich das moderne Subjekt als menschliches und das heißt als endliches, bedingtes, partiales einbekennt und damit die frühneuzeitliche Fiktion einer Substituierung des göttlichen Subjekts durch ein transzendentales aufgibt, desto unausweichlicher ist die Frage nach seiner Verortung in Kontexten gestellt. Zwar bedeutet die Aufgabe der göttlichen analog gedachten Subjektposition ohne jeden Zweifel einen wesentlichen Schritt in Richtung Modernität, aber ausgerechnet aus dieser Zuspitzung der Modernität ergeben sich Erfordernisse und Fragen, die das moderne Rationalitätsprinzip als unbearbeitbar und illegitim ausgegrenzt hat.“ [9]

Zusammengefasst weist nach Klingers These die Wiederkehr des Romantik-Syndroms also auf unbewältigte Widersprüche im Rationalitätsprinzip selbst hin, das dem modernen Verständnis von Welt und Subjekt zugrunde liegt.  Diese Widersprüche brechen immer wieder auf, und die Suche nach Lösungswegen bewegt sich auf dabei den Spuren der Romantiker_innen. Dennoch vollzieht sich die „Wiederkehr des romantischen Bewusstseins“ nicht als identische Wiederholung ― wie könnte das auch sein, wenn man ernsthaft zeitlich denkt.

So beobachtet Cornelia Klinger im Wiederaufbrechen des Romantik-Syndroms in den neuen sozialen Bewegungen der späten 1960er bis in die 1980er Jahre in Deutschland Akzentverschiebungen im Vergleich zur historischen Epoche der Romantik: So verbreitert sich der Wirkungskreis von der kleinen subkulturellen bürgerlichen Gruppe bis in weite gesellschaftliche Kreise. Und zum anderen verlagert sich die Akteursposition weg vom künstlerisch genialen Individuum hin zum „Durchschnittsmenschen“ und zum Alltagsbewusstsein – kurz: Klinger konstatiert einen Demokratisierungsprozess von der elitären und im engeren Sinn sich ästhetisch verstehenden Künstlerbewegung der Romantik hin zu einer „Lebens(reform)bewegung mit starken Tendenzen zur Psychologisierung“. [10]

Diese Sicht auf die Alternativbewegungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erscheint mir fruchtbar im Blick auf das Verständnis der Theologie Dorothee Sölles. Dabei ist für mich weniger von Interesse, dass in Sölles Werk sich romantische Motive oder Topoi finden lassen wie die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, die Themen Individualität, Natur, Sprache und die Suche nach Ganzheitskonzeptionen. Vielmehr vermute ich, dass die Art und Weise, wie Sölle romantische Motive und Problemkonstellationen als theologische Themen und Fragen bearbeitet, mit Klingers These von der Modernität des romantischen Problembewusstseins zusammengeht. Ich versuche, diese Lesart Sölles zu plausibilisieren.

So lautet meine leitende These: Schwierigkeiten der Interpretation von Dorothee Sölles Werk können als zusammengehörige Denkbewegungen interpretiert und nachvollzogen werden. Sie erscheinen in einem neuen Licht, wenn man Sölle als neo-romantische Theologin im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen liest. Und in dieser Tradition stehend, arbeitet Dorothee Sölle theologisch an einer ungelösten Problemkonstellation der Moderne.

Ich verstehe diese Charakterisierung analytisch, indem sie einen Deutungshorizont eröffnet, der die theologische Faszination Sölles für einen heterogenen Leserkreis und ihre fortbestehende Wirkmächtigkeit ungeachtet der zahlreichen zeitgebundenen Aussagen in ihren Texten erklärt. Vor allem jedoch ermöglicht diese Charakterisierung rückblickend ihre dialektische Bewegung zwischen Theologie und Literatur, zwischen theologischer Begriffssprache und Theopoesie ebenso als zusammengehörig zu verstehen wie ihren Weg von der Programmatik der Politischen Theologie zu ihrem Umgang mit der theologischen Tradition der Mystik, die als wechselseitig verschränkt und sich bedingend zu interpretieren sind. Last but not least erschließt sich mir so auch Sölles biographischer Weg, auf dem sich nicht eindeutig zwischen akademisch-universitärer Lehre und ihrer Wirksamkeit als öffentliche Theologin ohne kirchliches Amt entscheidet. Dorothee Sölle hat leidenschaftlich in beiden Bereichen gewirkt; sie hat allerdings keine wissenschaftlich-gelehrten Abhandlungen im Stil des akademischen Wissenschaftsbetriebs verfasst.

Zugleich verstärkt diese Deutung die Frage, ob Dorothee Sölles Theologisieren einen Beitrag leisten kann zur Bearbeitung der grundlegenden theologischen Aufgabe, die Cornelia Klinger in ihrer Sicht auf die Romantik indirekt angedeutet hat: die Aufgabe als Theologin in der Moderne nach dem Zerbrechen der metaphysisch-patriarchalen Ganzheitskonzeption vom Ganzen – und das meint theologisch gesprochen von Gott – zu reden.  Sölle hat meines Erachtens. als neo-romantische Theologin vielfach Hinweise gegeben und Spuren gelegt, wie sie diese Aufgabe theologisch bearbeitet; eine findet sich in dem Zitat, das ich über meine  Ausführungen gestellt habe. [11] Die Spur, die ich vorstelle, ist die Spur von den Nachtwachen, ihrer Dissertationsschrift zu ihrer Habilitationsschrift Realisation.

Dorothee Sölles als neo-romantische Theologin

Die literarische Analyse des Nihilismus: Die Nachtwachen

Dorothee Sölles Dissertation von 1954 (veröffentlicht 1959) Untersuchungen zur Struktur der Nachtwachen von Bonaventura [12] stellt eine literaturwissenschaftliche Strukturanalyse des frühromantischen Romans von August Klingemann [13] dar, der 1804 pseudonym erschien. Seine pseudonyme Verfasserschaft wurde erst 1987 durch einen Bibliotheksfund eindeutig geklärt. Klingemanns Roman thematisiert satirisch-grotesk, stilistisch angelehnt an den fragmentarischen Stil der Frühromantik, in der Figur des Nachtwächters die literarische Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, ein Thema, in dem bereits die Verbindung von Literatur und Theologie evident wird, die Sölle auch in späteren Texten, insbesondere intensiv in ihrer Habilitationsschrift Realisation, weiterbearbeiten wird.

Mit der Wahl dieses Dissertationsthemas taucht Dorothee Sölle unmittelbar in die Beschäftigung mit der Romantik als literarischer Epoche ein. Sölle zeigt in ihrer sprachlichen Analyse der Nachtwachen, dass der Figur des Nachtwächters das menschliche Leben in allen Facetten als bloßes Schauspiel erscheint. In diesem Schauspiel nehme der Mensch seine Rolle ein. Dem demaskierenden Blick, der hinter diese Rolle schaue, zeige sich indes kein tieferer Sinn, keine Hoffnung. Jenseits des vordergründigen Geschehens erweise sich das menschliche Leben als leer – es finde sich weder Himmel noch Hölle, sondern allein der Abgrund des  Nichts. Dies spielt der Text an einzelnen Szenen und Begegnungen des Nachtwächters mit unterschiedlichen Personen durch. Alle Personen, ihr Leben und ihr Handeln enthüllen sich unter dem analytischen Blick des Ich-Erzählers als bedeutungslos und beliebig – ganz gleich, welche religiöse Hoffnung oder welches Sinnversprechen der Kunst und der Wissenschaft vordergründig thematisiert wird.

Sölle fragt nach der literarischen Struktur der Nachtwachen, um darüber die darin erschlossenen Möglichkeiten des Menschseins und des Weltverhältnisses zu erhellen. Methodisch will Sölle die Trennung von Form und Gehalt überwinden mit einem intentionalen Verständnis von sprachlicher Struktur, in dem sich ein Lebensgefühl ausdrücke: „In Schlagworten formuliert, richtet sich also die Untersuchung auf die Struktur als Existenzauslegung, auf die Existenzauslegung als Struktur.“ [14] Darüber erschließe sich in der Grundstruktur des Werkes das Weltverständnis des Erzählers. Mit diesem methodischen Ansatz liest Sölle die Nachtwachen als Schrift des programmatischen Nihilismus, in der die Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung aufgrund des Wechselverhältnisses zwischen Erzähler und erzählter Welt letztendlich „in der Hoffnungslosigkeit verharrt“ [15].

In Sölles Werkinterpretation lassen sich bereits Hinweise darauf finden, dass sie eine konsequent nihilistische Position kritisch sieht, weil diese zum Verlust eines lebendigen, auf Gestaltung und Zukunft angelegten Weltverhältnisses führe: die Demaskierung als zentrale Intention des Autors führe in den Nachtwachen letztlich zum Erstarren und zur Hoffnungslosigkeit. [16] Sölle merkt dagegen an, dass mit der literarischen Darstellung des programmatischen Nihilismus, wie er in den Nachtwachen vorliege, ein performativer Widerspruch gegeben sei, insofern ein literarisches Werk auf Leser_innen, auf ein Publikum ziele und damit selbst ein kommunikativer Akt sei, der auf Zukunft, Hoffnung und Leben gerichtet ist. Eine programmatisch nihilistische Position der Hoffnungslosigkeit müsse konsequenterweise in das absolute Erstarren und Verstummen führen.

Bemerkenswert erscheint mir, dass Sölle schon hier auf den aktiven Charakter des Hoffens bzw. des Glaubens als Gegenbewegung zum Nihilismus aufmerksam macht: „Doch muss solcher Glaube immer wieder neu erstritten und erobert sein, damit er nicht im aushöhlenden Spielraum der nihilistischen Phantasie verlorengeht, und nicht die trügerische Hoffnung entsteht, die Phantasie werde ihn wiederfinden und neu heraufzwingen (das ist die Hoffnung Bonaventuras), der Traum werde, mit den Worten Jean Pauls [17], nicht nur die Hölle, sondern noch einmal auch Himmel und Erde gebären, der Sinn des Grenzenlosen könne sich nur in der Unermeßlichkeit des Himmels, nicht auch in der des Abgrundes auflösen.“ [18]

Sölles erste, literaturwissenschaftlich geführte Auseinandersetzung mit der Nihilismus-Thematik, deutet bereits an, dass sie der zergliedernden Rationalität, die letztlich in den Nihilismus treibe, kritisch gegenübersteht.

Theologie nach dem Tode Gottes: Stellvertretung – Politische Theologie – Leiden

Dorothee Sölles nächste Veröffentlichungen führen im theologischen Bereich die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus weiter. Einschlägig ist der Sammelband „Atheistisch an Gott glauben“ [19], in dem Essays veröffentlicht sind, die Sölle Mitte der 1960 Jahre verfasst hat und in denen ihr theologisches Denken Profil gewinnt: eine Theologie nach dem „Tod Gottes“. Die Trias der Veröffentlichungen Stellvertretung (1965) – Politische Theologie. Eine Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann (1971) und Leiden (1973) stellen meines Erachtens die theologisch konsequente Weiterarbeit an der Nihilismus-Thematik dar, die Sölle in den Nachtwachen ästhetisch analysiert hat. Die drei Arbeiten bewegen sich im Horizont einer nach-theistischen Theologie, wie Sölle sie als Konsequenz der Religionskritik des 19. Jahrhunderts für intellektuell notwendig und redlich erachtet und in ihren Essays der 1960 Jahre skizziert hat. Ihr Programm der „Politischen Theologie“ kann unter diesem Blickwinkel als Alternative zum nihilistischen Verstummen interpretiert werden.

Im ersten Schritt bearbeitet Sölle die Frage nach Weltverhältnis und Selbstverhältnis in ihrem 1965 erschienen Buch Stellvertretung und gibt eine christologische Antwort. Dabei arbeitet sie mit der Metaphorik des theatrum mundi, mit den Begriffen Rolle und Person und verbindet sie theologisch kreativ mit Konzepten traditioneller Christologie. Der destruktiven Demaskierung wie Sölle sie in Klingemanns Nachtwachen aufzeigt, entspricht theologisch die unabgeschwächte Aufnahme der Religionskritik am metaphysischen Theismus. Die theologische „Demaskierung“ des theistischen Gottes in der Religionskritik endet indes für Sölle nicht mit dem Enthüllen des Nichts, sondern mit dem Gedanken der Stellvertretung des abwesenden Gottes durch Jesus Christus und der wechselseitigen Stellvertretung, mit der die Christen und Christinnen beauftragt sind. Darin werde das Leiden an der Welt, in der Gott abwesend ist, nicht ignoriert, sondern zum Mitleiden in der Nachfolge Christi, das aktiv gefüllt ist als Warten auf das Reich Gottes und als konkret gesellschaftliche Aufgabe der Mitarbeit an dieser Hoffnung auf Gottes Werden. Sölle verschärft dabei die philosophische Religionskritik ausdrücklich durch die zeitgeschichtlich-gesellschaftliche Verortung. War der „Tod Gottes“ im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert eine philosophisch-aufklärerische Denk-Konstellation, die einzelne Individuen umgetrieben habe, so werde diese Metapher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der Chiffre „Auschwitz“ verknüpft mit einer konkreten gesellschaftlichen und biographischen Erfahrung: Ausschwitz als Inbegriff der Gräueltaten und des unendlichen Leidens der Shoah, des Antisemitismus und der Vernichtung der europäischen Judenheit, dem die christlichen Kirchen Deutschlands in ihrer Gesamtheit nicht widerstanden haben und dem sie theologisch Vorschub leisteten. „Auschwitz“ wird zum Signet für die Erfahrung der Abwesenheit Gottes und zur Aufgabe der Auseinandersetzung mit dem eigenen Beitrag zu dieser Schuldgeschichte, die die Theologie zu bedenken hat. [20]

Die Rolle des abwesenden Gottes könne nicht unbesetzt bleiben und Sölle greift auf den christologischen Begriff der Stellvertretung zurück, um anstelle eines lückenhaften „Gottesersatzes“, wie er gesellschaftlich angeboten werde, das Konzept der Gewinnung personaler Identität in der Christusnachfolge zu entwerfen. Der mehrfach geschichtete Stellvertreterbegriff (Jesus Christus vertritt den abwesenden Gott bei uns und diejenigen, die Jesus Christus nachfolgen, vertreten Christus bei den Menschen) [21] verklammert bei Dorothee Sölle die anthropologische Frage nach der Identität des modernen Menschen in der Leistungsgesellschaft mit der Frage nach der Gegenwart Gottes angesichts der Gräuel der Shoa. [22]  

Parallel und im Anschluss zu Sölles Aktivitäten im Ökumenischen Arbeitskreis Köln, aus dem im Kontext des Vietnam-Krieges 1968 die Politischen Nachtgebete in der Kölner Antoniterkirche hervorgehen, unternimmt Sölle den nächsten theologischen Schritt. Im Horizont einer nach-theistischen Theologie stellt sich die Frage nach Gottes Handeln in neuer Weise – die hergebrachten Metaphern des allmächtigen Weltregenten sind für Sölle nicht mehr tragfähig und die Verantwortung der Menschen für die Zukunft der Welt erhält für sie größeres Gewicht.  Auf der Basis der Bultmannschen existentialen Interpretation des Evangeliums entwickelt sie in Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann (1971) ihre eigene Position weiter, in der sie die moderne, nach-theistische Theologie Bultmanns erweitern und korrigieren will. Sölle wirft Bultmann eine individualistische und bürgerliche Engführung vor. Die Nachfolge Christi und die Mitarbeit am Reich Gottes sei als konkretes gesellschaftliches Handeln für alle und nicht als individuelle Heilssuche zu verstehen. Dieser Schritt vom Individuum auf die gesellschaftlich-politische Ebene erscheint Sölle zwingend geboten. Die neo-marxistischen Gesellschaftsanalyse stellt für sie dabei das zeitgemäße soziopolitische Theorie-Instrumentarium dar, um dem Auftrag des Evangeliums gesellschaftlich gerecht zu werden und damit der globalen Verantwortung, in die das Evangelium Jesu Christi stelle. Griffig formuliert sie: „Wie kommen wir von einer Theologie, deren wichtigste Tätigkeitswörter ‚Glauben und Verstehen‘ sind, zu einer die ‚Glauben und Handeln‘ zum Thema macht?“  [23]

Diese Programmatik verlangt indes, dass ein Kategorienwechsel vollzogen werden muss – von der Reflexion in die Praxis –, dessen Problematik im Rahmen der abendländischen Denktradition nach dem Ende der klassischen ontologischen Metaphysik Sölle an dieser Stelle großzügig ignoriert. Sie bewegt sich damit in den Fußspuren von Karl Marx und seinem Diktum: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ [24]

Immerhin: Sölle versteht dabei das Verhältnis von Theologie und Politik nicht so, als ob es „spezifisch christliche Lösungen der Weltprobleme“ gäbe, „für die eine politische Theologie die Theorie zu entwickeln hätte. Politische Theologie ist vielmehr theologische Hermeneutik, die [...] einen Interpretationshorizont offen hält, in dem Politik als der umfassende und entscheidende Raum, in dem die christliche Wahrheit zur Praxis werden soll, verstanden wird.“ [25] Theologie besitzt in dieser hermeneutischen Bestimmung einen kritischen Charakter, der sich letzten Endes in der Praxis manifestieren und bewähren muss.  Der hermeneutische Zirkel vom „Verstehen zum Handeln“ verlangt im Durchlaufen desselben stets den kategorialen Wechsel, der im Übergang vom diskursiven Urteilen zum praktischen Handeln liegt. Die christliche Wahrheit bewährt sich als Wahrheit letztlich, indem sie zur Praxis wird: „Das Verifikationskriterium jedes theologischen Satzes ist die zukünftig ermöglichte Praxis.“ [26]

Allerdings kann unter den denkerischen Voraussetzungen der nachmetaphysischen Moderne nicht gleichzeitig zum Kategoriensprung selbst dessen Wahrheit gewusst werden. Vielmehr kann diese nur im Nachhinein reflexiv überprüft werden. [27] Die Konsequenz dieses Satzes hat Sölle nicht philosophisch oder fundamentaltheologisch formuliert. Sie geht einen anderen Weg. Sie vollzieht eine ästhetische Parallelbewegung in die Literaturwissenschaft. Sie versucht gewissermaßen einen anderen Zugang, der sich in der Art und Weise zeigt, wie sie dann ihre Monographie Leiden (1973) verfasst.

Zwar gibt sie im Vorwort zu Leiden an: „Ich sehe meine Aufgabe als Theologe [sic!] methodisch in drei Schritten: 

  • zu übersetzen, was immer in gegenwärtige wissenschaftliche Sprache übersetzt werden kann,
  • zu eliminieren, was dem Glauben an Liebe widerspricht,
  • zu benennen und blöde zu wiederholen, was ich weder übersetzen noch als überflüssig preisgeben kann.“ [28]

Doch ebenso entscheidend ist, wie Sölle diesen Text verfasst, was sie also auf der literarischen Ebene tut. Sölle legt mit Leiden ihr erstes theologisches Buch vor, das typisch für ihr späteres theologisches Arbeiten ist, insofern sie ab jetzt für die theologische Arbeit methodisch bewusst mehrere Sprachebenen nutzt und diese weder für austauschbar noch für wechselseitig ersetzbar hält.

Sölle betrachtet die Begrenzung der Theologie auf die neuzeitlich-akademische Wissenschaftssprache als höchst problematisch. Ebenfalls im Vorwort zu Leiden schreibt sie: Die „Begrenzung unseres Redens auf wissenschaftliche Sprache führt zu einem immer größeren Verstummen [...]. Dagegen scheint es mir Aufgabe der Theologie – formal bestimmt –, die Grenzen unserer Sprache zu erweitern. Dem Meer des sprachlosen Todes Land abgewinnen, das wäre Theologie, die diesen Namen verdiente.“ [29]

Die ästhetische Möglichkeit der Gottesrede: Realisation

Ich habe Dorothee Sölle salopp eine ästhetische Parallelbewegung attestiert, die sie vollzieht, wo sie in theologisch-diskursiver Tradition einen kategorialen Sprung hätte diagnostizieren müssen. Die diskursive Reflexion dieser Parallelbewegung führt sie ästhetisch-rational in ihrer literaturwissenschaftlichen Habilitationsschrift von 1971 durch. [30] 1973 unter dem Titel Realisation veröffentlicht, nimmt sie für meine Lesart von Sölle als neo-romantischer Theologin eine zentrale Rolle ein. [31] Realisation stellt methodisch einen entscheidenden Schritt in Sölles theologischem Arbeiten dar. Sie stellt darin die These auf, dass in einer Welt, in der das, was in traditioneller religiöser Sprache mit „Gott“ innerweltlich anwesend gehalten wurde und jetzt diskursiv-theologisch wie traditionell religiös nur noch als abwesend oder gar als „verwesend“ benannt werden könne, zugleich in nicht-religiöser Sprache anwesend sei. Die Durchführung und Plausibilisierung dieser These erfolgten literaturwissenschaftlich, nicht theologisch. Sie erfolgt zudem zu einer Zeit, in der die Verbindung von moderner Literatur mit einem positiven Verständnis von Religion, gar eine affirmativ-religiöse Lesart als contradictio in adiectio erschien. Sölle schreibt 1973: „Wenn das Absolute welthaft vermittelt gedacht werden muß und unmittelbar nur magisch oder mystisch erfahren werden konnte oder kann, so ist eine seiner wesentlichen heutigen Vermittlungen die ästhetische.“ [32]

Dorothee Sölle stützt sich bei diesem Unterfangen auf die Theologie Pauls Tillichs (1886−1965). Sie rekurriert auf Tillichs Kulturtheologie und nimmt sein Interpretament vom ultimate concern auf, um die theologische Lesart eines säkularen literarischen Textes einzuführen: „Wir gehen hier von den Voraussetzungen aus, daß sich das unbedingt Angehende, ‚the ultimate concern‘, im Kunstwerk verbirgt und die Theologie die Aufgabe hat, dieses Verborgene zu entdecken.“ Leitend sind für Sölle dabei theologische Begriffe wie „Sünde, Gnade, Sterben, Auferstehung, Rechtfertigung, Verheißung“. Diese „haben in der Literatur eine nicht-religiöse Interpretation gefunden, die von einem theologisch geleiteten Interesse aufgedeckt werden kann.“ [33] Theologisch sind diese Begriffe für Sölle darin, dass sie „den Menschen auf seine theologisch gedachte Bestimmung hin ansprechen, ihn vor die unbedingte Forderung und die unbedingte Verheißung stellen und die ihn auf sein ewiges, d.h. authentisches Leben beziehen“ [34]. Nach Sölle setzen sie „das Bewußtsein einer möglichen ‚Totalität des Menschen‘ voraus“. Sölle steht hier unübersehbar in der romantischen Tradition der ästhetischen Vermittlung des Absoluten durch die Kunst, die eine religiöse Unbedingtheit vermitteln könne, die der traditionellen religiösen Sprache verloren gegangen sei. Sölles Aufgabenbestimmung der Theologie, „die Grenzen der Sprache zu erweitern“, verstünde dann diese als eine Grenzgängerin zwischen Kunst und Wissenschaft im neuzeitlichen Sinn. [35]

Wichtig scheint mir, dass Sölle in der Wechselbeziehung von Literatur und Theologie, die sie in Realisation bearbeitet, zum einen aus theologischen Gründen unter Berufung auf die jüdisch-christliche Tradition des Bilderverbots jede inhaltlich-semantische Bestimmung auf bestimmte Begriffe zur Identifizierung des religiösen Gehalts literarischer Texte ablehnt. Damit wendet sie sich gegen eine Essentialisierung im Sinn der überkommenen Metaphysik. Zum anderen parallelisiert sie Theologie wie Literatur in der Zielsetzung, einen Totalitätsbezug wachzuhalten und zu ermöglichen: „So wie Frieden und Gerechtigkeit als theologische Begriffe nur Sinn haben, wenn sie auf ein Verständnis der Totalität des Reiches Gottes bezogen sind, so können diese Begriffe in ihrer Anwendung auf die Literatur auch nur dort etwas austragen, wo Literatur ‚die Wiederherstellung der menschlichen Existenz in ihrer Totalität im Leben selbst‘ als nicht notwendig formuliertes, aber unaufgebbares Ziel setzt.“ [36]

Sölle zitiert übrigens im Vorwort der Veröffentlichung ihrer Habilitationsschrift programmatisch Friedrich Gottlieb Klopstock: „‚Es giebt Gedanken, die beynahe nicht anders als poetisch ausgedrückt werden können; oder vielmehr, es ist der Natur gewisser Gegenstände so gemäß, sie poetisch zu denken, und zu sagen, daß sie zuviel verlieren würden, wenn es auf eine andere Art geschähe. Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes gehören, wie mich deucht, vornämlich hierher.‘ Von diesen Gedanken Klopstocks ist für die Theologie heute zu lernen.“ [37]

Theologisch direkter schreibt sie in den 1990er Jahren: „Es gibt ein Sprechen, das uns mit dem Grund der Tiefe des Seins in Beziehung setzt – und ohne diese Aufmerksamkeit sind wir weder schönheits- noch wahrheitsfähig. Eine solche Poesie, die zugleich Gebet ist, räumt auch mit dem Vorurteil auf, dass das Gebet etwas Privates, etwas Unveröffentlichbares sei. [...] Wenn Menschen zusammen beten, dann haben sie sich das gemeinsame Wünschen, Hoffen und Träumen wieder erlaubt, dann finden sie die verlorene Sprache wieder, um das, was sie empfinden, miteinander zu teilen.“ [38]

In diesem Zitat ist entfaltet, was in Realisation thetisch angelegt und exemplarisch material durchgeführt wird. Sölle verbindet die religiöse Praxis des Betens mit dem Gedanken der letztendlich unstillbaren menschlichen Bedürftigkeit und mit einem unbegrenzbaren Wünschen als Form innerweltlichen, zukunftsöffnenden Transzendierens. [39] Darüber hinaus – und hier zeigt sich deutlich ein Charakteristikum des romantischen Syndroms – vollzieht Sölle den Schritt vom Individuum zum Kollektiv unvermittelt durch die Ausweitung, ja durch die erklärte Aufhebung der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit. [40]

Von den Nachtwachen zur Realisation und darüber hinaus: Eine neue Sprache für Religion in der Moderne?

Soweit meine Darstellung, welche zentrale Bedeutung Sölles Habilitationsschrift für ihr theologisches Denken besitzt. Ich breche an dieser Stelle ab, weil meine Spur zum Verständnis von Sölles Theologie und ihrem Denken als Wiederaufnahme romantischer Themen, Problemstellungen und Lösungsansätzen gelegt ist. Ich halte es für fruchtbar und lohnend, für eine weitergehende Untersuchung gerade ihre späteren Texte einzubeziehen – dringend gehört dazu auch die weitere Entfaltung, welche Bedeutung und Funktion dabei die Mystik für Dorothee Sölle einnimmt. Stellt sie die Quelle ihrer Theologie dar und falls dies der Fall ist – in welchem Verhältnis stehen Mystik und Politische Theologie bei ihr? [41]

Die Suche nach einer neuen religiösen Sprache gehört in das Zentrum von Sölles theologischem Denken. [42]  Ihr Vorhaben, für die Theologie eine Sprache zu schaffen, die in anderer Weise als die theologisch-wissenschaftliche Begriffssprache das zum Ausdruck bringen kann, was in der biblischen Sprache und der traditionellen religiösen Sprache gesagt werden soll, führt ein Projekt der Romantik weiter, das Alexander Hampton in seiner Untersuchung über die Romantik folgendermaßen zusammenfasst: „Das grundliegende Anliegen der Romantik, das zu ihrer Entstehung führte, ihre Entwicklung bestimmte und ihr Ziel setzte, war das Bedürfnis, eine neue Sprache für die Religion zu schaffen.“ [43] Dorothee Sölles Theologie führt dieses Anliegen im 20. Jahrhundert fort – sowohl wissenschaftlich reflektiert in ihren Arbeiten zum Verhältnis von Theologie und Literatur wie auch in ihren theologischen Texten in der bewussten Verwendung verschiedener Sprachebenen und -formen, in der häufigen Verwendung poetischer Texte und der Gattung des Essays. Die Wirkmacht ihrer Texte erweist sich im Gebrauch:  Zwanzig Jahre nach Dorothee Sölles Tod gehört sie zu denjenigen Theolog_innen des 20. Jahrhunderts, deren Texte im Religionsunterricht, in Gottesdiensten und Predigten immer wieder zitiert und verwendet werden und die nicht zuletzt durch eine ihr gewidmete Webseite lebendig bleiben.

Doch zwanzig Jahre nach Dorothee Sölles Tod wäre meines Erachtens auch die kritische Anfrage zu bearbeiten, dass die Ästhetisierung des Alltags, die positiv als Demokratisierung wirkt, in der von einer technisch-ökonomischen Rationalität dominierten Kultur gleichzeitig von der rational-instrumentellen Vernutzung der Ästhetik erfasst und den Profitinteressen einer neo-liberalen Ökonomie dienstbar gemacht wird. Diese faktische Ambivalenz des Romantik-Projekts, die Instrumentalisierung zugunsten einer ökonomischen Verwertungslogik, darf gerade aus theologischer Sicht nicht ausgeblendet werden.

Ich beschränke mich an dieser Stelle auf eine Vermutung, dass und wie Dorothee Sölle diese Problematik gesehen und theologisch bearbeitet hat.

Dorothee Sölle bleibt gerade auch darin in ihrem christlichen und protestantischen Profil erkennbar, dass sie die Frage des menschlichen und geschöpflichen Leids theologisch wie theopoetisch immer wieder aufgreift. Die wichtige Rolle des Leidens in Sölles Denken, sei es als Identitätsverlust, als gesellschaftliche Ungerechtigkeit oder als Naturzerstörung bildet meines Erachtens das Gegenwicht, das sich theologisch, politisch und biographisch vielfältig durch ihr Werk zieht als Widerstand gegen eine eingängige Vernutzung und Banalisierung von lebensweltlichen Phänomenen wie auch der Sprache. [44]   

Ebenso deutet Sölles Gesellschaftskritik unter dem Leitbegriff der Entfremdung in diese Richtung.  Zugleich sind hier große Anfragen an die Tragfähigkeit der neomarxistischen Theoriebasis zu stellen, die Sölle ihren theologischen Antwortversuchen zugrunde legt. Sölles Kritik der protestantischen Theologie und insbesondere der Theologie Bultmanns, sie habe die jesuanische Reich-Gottes-Botschaft auf die Frage nach dem individuellen Heil bzw. der individuellen Existenz enggeführt und verkürzt, erfasst meines Erachtens  klarsichtig die theologische Problemstellung. Ihre Antwortversuche unter dem Leitbegriff der „Feministischen Befreiungstheologie für die Erste Welt“ müssen aus heutiger Sicht kritisch auf den Prüfstand. Nicht nur Einseitigkeiten und offensichtliche Irrtümer, sondern auch das überholte und aus gegenwärtiger Sicht unzureichende Theorie-Instrumentarium fordern zur Kritik, noch mehr jedoch zur theologischen Weiterarbeit an den ungelösten Problemkonstellationen heraus. Was an den theologischen Aussagen Dorothee Sölles zeitverhaftet bleibt oder revidiert werden muss, mindert in meinen Augen die Bedeutung ihrer Theologie keineswegs. Sie steht auch mit diesem Ungenügen in der Tradition der Romantik.

 

Anmerkungen

[1] Dorothee Sölle: „Das Eis der Seele spalten“, in: Dies.: Gesammelte Werke, Bd. 7, hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2008, S. 98–113, hier S. 98.

[2] In diesen Text sind große Teile meines Vortrag „Von den Nachtwachen zum Nachtgebet? Romantische Motive bei Dorothee Sölle“ eingeflossen, den ich am 28.05.2024 in Wittenberg im Rahmen des Workshops „Reformation und Romantik“ gehalten habe.

[3] Zum Verhältnis von Sölles „Politischer Theologie“ zu ihrer „Feministischen Befreiungstheologie für die Erste Welt“ s. Elisabeth Hartlieb: „Mystik nach dem Tode Gottes. Zum Vermächtnis der Theologie Dorothee Sölles“, in: Die Welt nicht akzeptieren, wie sie ist. Dorothee Sölle zum 20. Todestag. Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing 10.-12. November 2023, epd-Dokumentation Nr. 16-17/2024, S. 5−13.

[4] Johannes Weiß: „Wiederverzauberung der Welt? Bemerkungen zur Wiederkehr der Romantik in der gegenwärtigen Kulturkritik“, in: Kultur-Soziologie. Klassische Texte der neueren deutschen Kultursoziologie, hg. von Stephan Moebius und Clemens Albrecht, Wiesbaden 2014, S.

[5] Vgl. Cornelia Klinger: Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München/Wien 1995, hervorgegangen aus ihrer (unveröffentlichten) Habilitationsschrift Cornelia Klinger: Ästhetische Modernität oder ‚Wiederverzauberung der Welt‘. Der Ort der Romantik im Prozeß der Moderne, Hochschulschrift Universität Tübingen 1992.

[6] Cornelia Klinger: „Romantik und neue soziale Bewegungen“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 3 (1993), S. 223−244, hier S. 235.

[7] Klinger: „Romantik“, S. 223.

[8] Ebd., S. 243f.

[9] Ebd., S. 232f.

[10] Ebd., S. 236.

[11] Ein anderer Hinweis steckt im Titel ihrer 1992 erschienenen Gotteslehre. Vgl. Dorothee Sölle: „Es muss doch mehr als alles geben. Nachdenken über Gott“, in: Dies: Gesammelte Werke, Bd. 9,  hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2009, S. 239−336.

[12] Dorothee Sölle-Nipperdey: Untersuchungen zur Struktur der Nachtwachen von Bonaventura, Göttingen 1959 (= Untersuchungen aus der deutschen und englischen Philologie und Literaturgeschichte 230).

[13] https://www.projekt-gutenberg.org/klingema/nachtwac/nachtwac.html (abgerufen am 19.02.2025 um 14:45 Uhr).

[14] Sölle: Untersuchungen, S. 11.

[15] Vgl. ebd. S. 106. Die Welt ohne Gott lasse den Menschen angstvoll und völlig vereinsamt ― „antwortlos“ ― in der Welt zurück. Am Thema des Nihilismus bzw. an der Gottesfrage nach der rationalistischen Religionskritik arbeitet Sölle mit ihrer ersten explizit theologischen Monographie „Stellvertretung“ (1965) und mit zahlreichen Essays aus den 1960er Jahren. 

[16] Ebd., S. 107.

[17] Jean Paul ist für Sölle bereits an dieser Stelle ein wesentlich interessanterer Autor und Gesprächspartner als der Verfasser der Nachtwachen. Sichtbar wird es im Jean Paul-Kapitel ihrer Habilitationsschrift und ihrem Aufgreifen des Jean Paulschen Gedanken über die maßlose Bedürftigkeit des Menschen in ihrem Religionsbegriff und Gebetsverständnis.

[18] Walther Rehm: Experimentum medietatis, München 1947: zitiert bei Sölle: Untersuchungen, S. 107.

[19] Dorothee Sölle: Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten 1968.

[20] Vgl. Dorothee Sölle: „Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“, in: Dies: Gesammelte Werke, Bd.3, hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2006, S. 9–140, hier S. 12f. u.v.a. S. 113–115.

[21] „Die ‚Chiffre Christus‘ ist die Weise, in der Jesus lebendig bleibt bis an der Welt Ende – als das Bewusstsein derer, die Gott vertreten und ihn in Anspruch nehmen füreinander.“ Ebd., S. 119.

[22] Vgl. dazu: Hartlieb: „Mystik“, S. 6f.

[23] Dorothee Sölle: „Politische Theologie. Eine Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann“, in: Dies: Gesammelte Werke, Bd. 1. hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2006, S. 35–115, hier S. 38.

[24] Karl Marx: „Thesen über Feuerbach“, in: MEW 3, S. 7.

[25] Sölle: „Politische Theologie“, S.78.

[26]  Ebd., S. 91.

[27] Subjektivitätstheoretisch kann der Akt der Reflexion über die Wahrheit des Urteils und der Akt der Reflexion der Urteilsbildung nicht parallel bzw. gleichzeitig vollzogen werden, weil der Akt der Urteilsbildung zur Erarbeitung der Kriterien die theoretisch unabschließbare Kontextreflexion des Urteilens darstellt (Gödeltheorem). Philosophisch ist dies die Kritik Kierkegaards an Hegel.

[28] Dorothee Sölle: „Leiden“, in: Dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2006, S. 9–170, hier S. 15. Dieses Programm wäre weiter zu durchdenken. Insbesondere im Blick darauf, dass Sölle durchaus ein Kriterium benennt: „Glauben an Liebe“, das selbst einer Auslegung bedarf und damit dem hermeneutischen Zirkel der kontextuellen Iteration unterworfen ist.

[29] Ebd. Interessanterweise hat Anselm von Canterbury an einem wichtigen theologiegeschichtlichen Punkt in seinem Proslogion ebenfalls unterschiedliche Sprachebenen und ‑formen eingesetzt und das, was später als „Gottesbeweis“ bezeichnet wird, mit einem Gebet eingeführt.

[30] Dorothee Sölle: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt 1973.

[31] Ich sehe hier ab von dem sicherlich bewusst intendierten Ziel, sich mit der Habilitation akademisch vollwertig zu qualifizieren und von den damit einhergehenden biografischen Themen.

[32] Sölle: Realisation, S. 20. Sölles Aussage zeigt damit nach Klinger: „Romantik“, S. 223, dass diese Hinwendung zur ästhetisch-expressiven Rationalität, die Sölle hier vollzieht und die sie zuvor theologisch durchgearbeitet hat, sie in die Nachfolge der Romantik stellt.

[33] Sölle: Realisation, S. 21.

[34] Ebd.

[35] Dies klingt an im Titel der Veröffentlichung: Helga Kuhlmann (Hg.): Eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Resonanzen der Theologie Dorothee Sölles, Stuttgart 2007. Diese Charakterisierung der Theologie bringt sie in den Bereich der ästhetisch-expressiven Rationalität, wie dies Schleiermacher mit seiner subjekttheoretischen Fundierung der Theologie auf andere Weise ebenfalls tut.

[36] Sölle: Realisation, S. 21f. Sölle zitiert hier den neomarxistischen Philosophen und Literaturwissenschaftler Georg Lukács und setzt sich zugleich von seiner späteren Einschränkung kritisch ab.

[37] Ebd., S. 13.

[38] Dorothee Sölle: „Zum Verhältnis von Theologie und Literatur“, in: Dies: Gesammelte Werke, Bd. 7, hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2007, S. 11–128, hier S. 99.

[39] Dieser Zwischenschritt des Verständnisses von „Gebet“ findet sich entfaltet in Sölles Interpretation von Jean Paul in Realisation und wird getragen von in ihrem positiven Verständnis von Religion, wie sie es in der Hinreise darlegt. Vgl. Dorothee Sölle: „Die Hinreise“, in: Dies.: Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2006, S. 7–129, hier v.a. S. 20–29 und S. 113–127.

[40] Sölle überspringt damit die Frage nach der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft und nach der theoretischen Konstituierung beider Größen. Sie rekurriert für die Plausibilisierung ihres Arguments auf das Phänomen des gemeinschaftlichen Betens, das sie implizit qualitativ bestimmt und nicht rein funktional. Als Gegenprobe dient mir die im gegenwärtigen politischen Kontext keineswegs abwegige Frage, ob ein gemeinschaftliches Gebet rechtskonservativer Christen, das den Sieg eines autokratischen Herrschers zum Inhalt hat, in der Hoffnung gesetzliche Abtreibungsverbote zu erwirken, als wahres Gebet qualifiziert werden könnte. Vgl. dazu: „Ob ein Adressat eines Gebetes Gott ist – oder die illusionistische Projektion der eigenen Wünsche –, das entscheidet sich an den Inhalten, nicht an den Formen oder der überkommenen Sprache.“ Dorothee Sölle: „Das entprivatisierte Gebet“, in: Dies.: Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Stuttgart 2006, S.182–190, hier S. 189.

[41] Vgl. Hartlieb: „Mystik“, S.12.

[42] Das hat Ursula Baltz-Otto mit ihren Veröffentlichungen über Sölles Theopoesie schon sehr früh gezeigt, vgl. zuletzt Ursula Baltz-Otto: „Das Eis der Seele spalten. Dorothee Sölles Theopoesie“, in: Die Welt nicht akzeptieren, wie sie ist – Dorothee Sölle zum 20. Todestag. Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing 10.-12. November 2023, epd-Dokumentation Nr. 16-17/2024, S. 41–50.

[43] Alexander J. B. Hampton: Transzendenz für ein Zeitalter der Immanenz. Die romantische Neuerfindung der Religion, Berlin 2023 (Originalausgabe 2019), S. 1.

[44] Vgl. dazu den Titel ihres posthum veröffentlichten letzten Vortrags Dorothee Sölle: „Wenn du nur Glück willst, willst du nicht Gott. Vortrag im Rahmen der Tagung „Gott und das Glück“, Evangelische Akademie Bad Boll am 25. April 2003, bearbeitet und kommentiert von Wolfgang Grünberg, in: Eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Resonanzen der Theologie Dorothee Sölles, hg. von Helga Kuhlmann, Stuttgart 2007, S. 13–46. Mit der Bedeutung, die Sölle dem Leiden in der Nachfolge Jesu Christi und in der Mystik einräumt, steht sie in der theologischen Tradition der Niedrigkeitschristologie nach Phil 2,5–11.

Der wissenschaftliche Impuls ist unter folgendem Link dauerhaft abrufbar:
10.22032/dbt.65559

Dorothee Sölle beim Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf 1985.