Johannes Endres , 01.12.2022

Feminisierung und Medialität: Das Beispiel des Briefwechsels Friedrich Schlegels und Friedrich von Hardenbergs (Novalis)

Der Briefwechsel Friedrich Schlegels und Friedrich von Hardenbergs, zwischen 1793 und 1800 entstanden und in 62 Briefen überliefert, nimmt in der Geschichte des Privatbriefs eine besondere Stellung ein. Um sie soll es im Folgenden gehen. Das Interesse, das meine thesenhaften Überlegungen leitet, ist also vergleichsweise spezifisch. Unter allen Gesichtspunkten, aus denen sich Schlegels und Hardenbergs Briefe betrachten lassen, steht hier allein ihre gattungs- und mediengeschichtliche Bedeutung im Vordergrund, und auch sie nur im Hinblick auf eine ganz bestimmte Fragestellung. Dabei sind meine Beobachtungen nicht immer neu. Im Sinne einer Theorie der Konsilienz, wie sie von Edward O. Wilson und anderen vertreten wurde, macht sie das aber nicht unbedingt schwächer. [1] Vielmehr sehen sie sich durch ähnliche Beschreibungen ähnlicher oder identischer Phänomene aus anderer Perspektive eher bestätigt. Wenn überhaupt, dann basiert ihr Evidenzcharakter also, außer auf einem Vergleich mit den Phänomenen selbst, auf einer interdisziplinären Plausibilitätskontrolle. So wenig wie dabei Neuheit den Ausschlag gibt, so wenig geht es um die Vermeidung kontroverser Feststellungen um jeden Preis. Allerdings sollen im Interesse einer möglichsten Zuspitzung denkbare Einwände hier nicht weiter diskutiert werden.

Der gattungs- und mediengeschichtlichen Signifikanz von Schlegels und Hardenbergs Briefen nähert man sich am besten geschichtlich. Dann werden traditionelle Momente des Briefwechsels ebenso wie dessen Neuartigkeit im Kontrast umso deutlicher. Tatsächlich stellen Schlegels und Hardenbergs Briefe briefgeschichtliche Palimpseste dar, in denen sich unterschiedliche Abschnitte der Literaturgeschichte der Gattung horizontal überlagern. Deren Spuren lassen sich also nicht im Sinne eines entwicklungsgeschichtlichen Nacheinanders eindeutig unterscheiden, sondern kommen in verschiedenen Stadien der Korrespondenz vor. Die Einmaligkeit der Briefe ist darum auch nicht das Ergebnis einer schlichten Verabschiedung oder Überwindung älterer Muster, sondern der Art und Weise ihrer Benutzung. Als besonders prominentes Muster erweist sich dabei das des empfindsamen Briefs und seiner nicht nur briefliterarisch einschlägigen Sprache der Innigkeit und Intimität.

Gerade Schlegels Briefe tun sich in dieser Hinsicht hervor. Die entsprechenden Formulierungen umkreisen immer wieder das „Herz“ [2], das „tiefre Selbst“ [3] oder das innere „Daseyn“ [4], in das sich die Schreibenden wechselseitig hineinzuversetzen versuchen. Solche Vorstellungen kulminieren frühzeitig in Schlegels Wort vom „Heiligthum seines Herzens“ [5], mit dem das Herz des Freundes angesprochen wird und das Goethes rückblickende Charakterisierung der empfindsamen Briefepoche im 13. Buch von Dichtung und Wahrheit: „Man spähte sein eigen Herz aus und das Herz der andern“ [6], geradezu zu imitieren scheint. Das geht soweit, dass Schlegel die „Wollust […] in Deinem [Hardenbergs; J. E.] Herzen zu wohnen“ [7], beschwört. Daneben aber verraten Formulierungen wie die von der „Divinationsgabe“ [8], mit der das Herz des Freundes ausgekundschaftet werden soll, wie frühromantische Konzepte der Text- und Seelen-Hermeneutik die überlieferten Vorstellungen überformen und eine neue Position markieren. Eine solche Position ist aber vor allem in Richtung einer Poetisierung von Briefinhalt und -stil zu suchen, für die das aus der Sprache magischer Prognostik übernommene und auf die Philologie übertragene Konzept der Divination hier ebenfalls steht.

Bezeichnenderweise schlägt Schlegel einen empfindsamen Ton mit Bezug auf Hardenberg bereits an, bevor sein Briefwechsel mit ihm überhaupt noch begonnen hat, nämlich in Briefen an den Bruder August Wilhelm. Man sieht daran, wie nicht nur die Freundschaft die Briefsprache prägt, sondern ein briefliterarisches Muster auch die Erwartungen an die Freundschaft steuern kann. Dass es sich gerade um ein briefliterarisches Vorbild handelt, ist dabei kein Zufall. Denn die Auskultation des Inneren des Gegenübers steht seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts unter dem systematischen Schutz einer postgeschichtlichen Errungenschaft: derjenigen des Briefgeheimnisses. Die Emphase der Intimität verdankt sich damit ebenso sehr einem Ereignis der Mediengeschichte, 1791 von der Französischen Nationalversammlung zum ersten Mal als allgemeines Grundrecht formuliert und 1794 auch durch das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten verbrieft, wie sie ein solches Ereignis ihrerseits denk- und bewusstseinsgeschichtlich vorbereitet. Auch Goethe spricht darum davon, dass der die Epoche charakterisierende „sittliche und literarische Verkehr“ der „durchgreifenden Schnelligkeit der Taxisschen Posten, der Sicherheit des Siegels“ und „dem leidlichen Porto“ [9] geschuldet gewesen sei. Ohne diese wäre wohl nicht nur die Briefgeschichte, sondern auch die Literaturgeschichte anders verlaufen.

Daneben finden sich noch ältere Schichten der Briefgeschichte im Briefwechsel Schlegels und Hardenbergs, wenngleich auch sie wieder von typisch frühromantischen Vorstellungen überlagert werden. Das gilt zum Beispiel für Reminiszenzen an den von der Antike bis in die Neuzeit verbreiteten Kanzleibrief, auf dessen Förmlichkeit und sprachliche Umständlichkeit auch Schlegel und Hardenberg noch referieren, wenn auch vornehmlich zu karikaturistischen Zwecken. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die von Hardenberg auf die an Stelle eines Umschlags dienende Rückseite eines Briefs geschriebene Anrede Schlegels als „Hochedelgebohrn“ [10]. Ein derartiger Titel ist Personen vorbehalten, die in herausgehobener juristischer Stellung die Geschicke ihrer Gemeinde leiten – wie Goethes Vater, der als kaiserlicher Rat in Frankfurt auf eine solche Anrede Anspruch machte. Hardenbergs Freund steht sie folglich nicht zu. Hier werden überlieferte Briefkonventionen vielmehr einer romantischen Ironisierung ausgeliefert, ohne rückstandslos zu verschwinden. Sie rücken in die absichtsvoll komponierte paratextuelle Peripherie eines an einem stilisierten Mündlichkeitsideal orientierten Schriftwechsels ein, der dadurch seine eigene Brieflichkeit thematisiert.

Auch Schlegels berühmte rhetorische Selbstkostümierung als „Apostel der Griechheit bey Ihrer Majestät, der verwitweten Kritik der reinen Vernunft“ [11], mit der er einen Brief an den adligen Freund unterschreibt, zitiert den Titelbombast feudalbürokratischer Korrespondenzen. Sie poetisiert diesen aber zugleich, indem sie ihn zur fiktiven Selbstreferenz des sich in der Altertumskunde und der literarischen und philosophischen Kritik versuchenden freien Schriftstellers umformuliert. Damit wird gerade der Brief zum Medium einer Ich-Konstitution, die angestammte gesellschaftliche und literaturgeschichtliche Verhältnisse in Frage stellt und dabei auch das Medium, in dem sie sich artikuliert, sukzessive verändert.

Für die stilistischen Vorschriften der Briefsteller-Tradition, die Karl-Philipp Moritz‘ Anleitung zum Briefschreiben von 1783 nochmals im Titel führt, ohne sie selbst fortzuschreiben, haben Schlegels und Hardenbergs Briefe damit keine Verwendung mehr. Das ist in anderen zeitgenössischen literarischen Privatbriefen nicht anders, wie im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe (1794–1805), den Schlegel und Hardenberg aber natürlich nicht kennen konnten. [12] Dennoch unterscheiden sich Schlegels und Hardenbergs Briefe von denen Schillers und Goethes trotz mancher Gemeinsamkeiten auch wieder deutlich, und zwar durch Art und Grad ihrer Literarisierung. Darin liegt denn auch ihre eigentliche gattungsgeschichtliche Neuheit begründet, was Hardenberg selbst, in einem berühmten Blüthenstaub-Fragment, auch so ausgedrückt hat: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch“ [13].

Die von Schlegels und Hardenbergs Briefen begründete Briefgattung ist folglich die des Kunstbriefs. Wenn von der Romantik die Rede ist, dann soll mit „Kunstbrief“ nicht gemeint sein, dass Briefe sich auf künstlerische Themen und Werke beziehen, zur Veröffentlichung bestimmt oder fiktive Briefe sein können. Der romantische Kunstbrief zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass das sich brieflich artikulierende Subjekt dem Brief nicht etwa vorausliegt, sondern über eine von zeitgenössischen Kunst- und Autorschafts-Modellen inspirierte briefliche Selbst-Inszenierung im Brief überhaupt erst entsteht. Davon kann im Falle von Goethes und Schillers Briefen nicht die Rede sein. Konkret äußert sich eine solche Selbst-Inszenierung unter anderem in fiktiven Rollenzuschreibungen, wie der des „Apostels der Griechheit“, sowie in ebenfalls erfundenen Autornamen, für die Hardenbergs Pseudonym „Novalis“ nur das wirkungsgeschichtlich einflussreichste Beispiel ist [14]. Sie kommt darüber hinaus in der Erprobung von Formen einer kollektiven Autorschaft zum Ausdruck, so im Gemeinschaftsbrief Carolines, Friedrichs und August Wilhelms an Hardenberg vom 8.7.1798 [15], dem Vorabend des großen Dresdner Romantikertreffens. In solchen Momenten stellt sich, was man den frühromantischen Kreis genannt hat, als plurale Autorschaft aus sympoetischem Geist her.

Zur literarischen Selbst-Inszenierung und damit zur Umkodierung des Briefs zu einem neuartigen Medium gehört aber auch – und das ist der Kern meiner These – eine von den beiden jungen Männern gezielt vorgenommene Feminisierung sowohl des Briefs als auch ihrer beider Autorschaft in statu nascendi. Unter Feminisierung wird dabei nicht die auch sonst schon so benannte Tatsache verstanden, dass im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts immer mehr Frauen als Autorinnen literarischer Werke und Briefe sowie als Vermittlerinnen im Literaturbetrieb in Erscheinung treten. [16] Ein solcher Vorgang spielt bekanntlich auch für die Romantik eine wichtige Rolle, wobei über die aktive Beteiligung von Frauen am Schreibprozess die am Leseprozess nicht zu vergessen ist. Zu denken wäre hier sowohl an den bereits erwähnten Gemeinschaftsbrief als auch an das vielfach belegte Mitlesen und Mitschreiben der Briefe der Männer durch die Frauen im Kreis, oder an die Tatsache, dass Caroline Schlegel aus ihren Briefen und denen Friedrichs, August Wilhelms und Hardenbergs literarische „Fragmente“ exzerpiert [17]. Hardenberg hat solche reziproken, netzwerkartigen Verhältnisse in einem Brief an Schlegel auf den Punkt gebracht, wenn er von der „ganze[n] poëtische[n] Familie“ spricht, womit er die weiblichen und männlichen Mitglieder und Freunde der Schlegel‘schen Familie im Umfeld des Briefwechsels der Männer meint, das seinerseits zum literarischen Feld der Briefe gehört [18].

Mit Feminisierung sei im Folgenden dagegen eine über solche und ähnliche Formen eines „weiblichen Schreibens“ hinaus gehende Erscheinung abgekürzt, die weniger einfach zu greifen ist. Gebildet wird der Begriff hier nämlich in Analogie zu und in teilweiser Überschneidung mit historischen Veränderungen in Europa, die man auch unter dem Namen der Modernisierung oder (vor allem im englischsprachigen Raum) der „humanitarian revolution“ [19] kennt und die zu Lebzeiten Schlegels und Hardenbergs beginnen, aber nicht zum Abschluss kommen. Zu diesen Veränderungen, die nicht nur parallel zur Feminisierung verlaufen, sondern teils auch von ihr mit angetrieben werden, zählen so unterschiedliche Entwicklungen des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts wie die Begründung eines exklusionstheoretischen Individualitätsbegriffs, die Befürwortung religiöser Toleranz, die zunehmende Entkonfessionalisierung des politischen Denkens, die Säkularisierung überlieferter Wissensbestände, die Pädagogisierung des Erziehungswesens, Gerichts- und Gefängnisreformen, Abolutionismus, die Aufwertung von Empathie, die Ächtung des Schmerzes in der Medizin und eine beginnende Liberalisierung und Demokratisierung des Gemeinschaftswesens.

Auch Schlegels und Hardenbergs Briefwechsel ist im Rahmen solcher durchgreifenden Prozesse zu sehen. Das zeigt sich ganz besonders an der neuartigen Rolle, die der Weiblichkeit für die Selbst-Konstitution männlicher Autorschaft zukommt. Die damit verbundene mehrfache Zumutung ist offensichtlich, wird doch unter anderem auf ein historisches Verständnis von „Weiblichkeit“ im Sinne der Zeit rekurriert. Auch soll mit Feminisierung weder auf den faktisch erreichten Grad der Emanzipation empirischer Frauen in der Zeit der Romantik abgestellt werden noch wird eine Negation von Geschlechterdifferenz seitens ihrer Protagonisten insinuiert. Im Gegenteil: Wie andere (männliche) Autoren der europäischen Aufklärung, des deutschen Idealismus und der Goethezeit so haben sich auch Schlegel und Hardenberg nicht vorrangig für die Überwindung eines Denkens in Geschlechtscharakteren eingesetzt. Ihnen ging es zumeist, wenn auch nicht immer, darum, als typisch geltende männliche und weibliche Geschlechtscharaktere unterscheidend zu beschreiben. Insofern haben sie sich, zumindest indirekt, an der diskursgeschichtlichen Durchsetzung entsprechender Vorstellungen beteiligt. So gesehen haben ihre Auffassungen auch nichts, oder doch eher wenig, mit dem historischen Projekt einer Befreiung der Frau zu tun, auch wenn es in eine solche Richtung zielende Vorstellungen in ihren Texten ebenso gibt wie deren Gegenteil.

Es geht hier aber auch nicht um eine gendertheoretische Perspektive, sondern um historische Autorschaftsmodelle und epistolographische Praktiken, die uns weltanschaulich nicht vorbildlich dünken mögen, die unsere heutige Sicht der Dinge literaturgeschichtlich aber erst mit auf den Weg gebracht haben. Dabei interessieren zur humanitären Revolution parallel gehende Erscheinungen auf dem Gebiet der Literatur und Kunst des achtzehnten Jahrhunderts hier mehr als jene selbst. Zu diesen gehört wiederum eine ganze Reihe von Erscheinungen, die ich weder vollständig auflisten noch weiter ausführen kann. Zu erinnern wäre unter anderem an die Emanzipation des Romans im Allgemeinen und die Erfindung des Briefromans im Besonderen, die Einführung als bürgerlich verstandener ernster und komischer Dramenformen, die Entdeckung der Erlebnislyrik, das Interesse an sogenannter Volkspoesie, das zuerst von Goethe und Friedrich Schlegel theoretisierte Konzept der Weltliteratur, die Entstehung des freien Schriftstellers, die Gründungswelle literarischer Zeitschriften sowie zu guter Letzt die Literarisierung des Mediums Brief. Zu ergänzen wäre eine solche Aufzählung aber mindestens um das, was ich hier die Feminisierung des literarischen, speziell des briefliterarischen Diskurses nenne.

Darunter ist unter anderem die Übernahme von mit Frauen assoziierten Geschlechterrollen seitens der Briefe schreibenden Männer zu verstehen. Durch sie entstehen hybride Autor-Identitäten, in denen sich männliche mit weiblichen Selbst- und Fremdzuschreibungen zu etwas Neuem verbinden. Sie kommen etwa darin zum Ausdruck, dass Schlegel das Wesen der „Freundschaft“ – zwischen Männern – als „parziale Ehe“ apostrophiert [20] oder das der eine dem anderen auf brieflichem Wege, gewollt doppeldeutig, gesteht: „Ueberhaupt fühle ich mich durch zwei Dinge nun unauflöslich an Dich gekettet – das ist die Religion und die Ehe“ [21]. Und sie gipfeln schließlich in Schlegels ominöser Erklärung an den Freund: „Ich liebe Deine Liebe“ [22].

Um zu verstehen, dass es dabei nicht um Homoerotik oder Homosozialität im eigentlichen Sinne geht, muss man sich entsprechende gattungspoetische Spekulationen vor allem Hardenbergs in Erinnerung rufen. Danach ist es nämlich die Frau, die – im Gegensatz zum lyrischen Charakter des Mannes – als „episch“ gilt [23], so dass sich die Literarisierung und Episierung des Briefs als eine Form weiblichen Schreibens seitens männlicher Autoren darstellt bzw. als Experimentieren mit einem androgynen und universalpoetischen Literaturstil. Auch der berühmte „Vorschlag einer epistolar[ischen] Symphilosophie“ [24], den Schlegel dem Freund unterbreitet, liegt auf einer solchen Linie, und zwar als männliche Kommunikations- und Sozialutopie, die – aus der Sicht des achtzehnten Jahrhunderts traditionelle – Rollenmuster einerseits fortschreibt und andererseits eskamotiert. So wenn Schlegel mit Blick auf den Freund erklärt: „Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand gegeben […]“ [25]. Damit ist nicht nur der gedankliche Hintergrund des antiken Symposiums aufgerufen, in dem ältere Männer sich mit jüngeren zu einem pädagogisch-erotischen Abhängigkeitsverhältnis verbünden (Schlegel ist knapp zwei Monate älter als Hardenberg). Die Formulierung hebt auch den dezidiert weiblichen Charakter der philosophischen Komponente einer nach-antiken, im romantischen Sinne zeitgemäßen briefliterarischen „Sympraxis“ [26] unter heterosexuellen Männern hervor, deren mutmaßliche Asymmetrie das Modell einer geschlechterkulturellen Asymmetrie zwischen Mann und Frau aufnimmt und durch dessen Übertragung auf eine Beziehung zwischen Männern zugleich als geschlechterkulturelle Konvention reflektiert.

Denn es ist erneut die Frau, die den Geist der philosophischen Tätigkeit in besonderem Maße personifiziert, wie Hardenbergs berühmtes Geständnis hervorhebt: „Mein Lieblingsstudium heißt im Grunde, wie meine Braut. Sofie heißt sie – Filosofie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigensten Selbst“ [27]. Umgekehrt wird ein dergestalt effeminierter, „wechselmäieutische[r]“ Briefverkehr [28] zum stilistischen Muster romantischen Schreibens überhaupt, dann nämlich, wenn die transgenerische Gattung des Briefs nahtlos in andere romantische Literaturgattungen übergreift. So erscheint Schlegel die „Briefform […] sehr angemessen für philosoph[ische] und andre Aufsätze“ [29], oder die Korrespondenz mit dem Freund wird als „Roman“ angesehen [30]. Der Brief konstituiert sich, mit anderen Worten, als „Über-Brief“ [31], der nicht nur andere Gattungen, sondern auch deren geschlechterkulturellen Zuschreibungen auf sich vereint.

Die Feminisierung literarischen Schreibens und literarischer Autorschaft drängt im Gegenzug männliche Besetzungen des literarischen Felds zumindest teilweise zurück. Dafür müssen erneut einige wenige Hinweise genügen. So schlägt Schlegels und Hardenbergs Briefwechsel das Sinnangebot des männlichen Bildungsromans aus und verzichtet gerade auf ein entsprechendes Verlaufsnarrativ. Sowohl im Großen wie im Kleinen konterkariert er vielmehr Vorstellungen einer charakterlichen oder intellektuellen Entwicklung der beiden Männer. An ihre Stelle tritt das frühromantische Ideal der Arabeske, nach der sich auch die innere Biographie der Briefautoren zu richten scheint. Am deutlichsten wird das vielleicht in der ununterbrochenen wechselseitigen Versicherung, den anderen nicht zu verstehen, die in der berühmten Formulierung vom „Dualismus unsrer Symphilosophie“ ihren schärften Ausdruck findet [32]. Aber auch zur – geschlechterkulturell einschlägig konnotierten – Briefgattung der Pädagogik des Weibes, in der der männliche Schreibende die weibliche Lesende philosophisch erzieht, wie in Kleists berüchtigtem Briefwechsel mit Wilhelmine von Zenge, geht der Briefwechsel Schlegels und Hardenbergs auf Distanz. Vollends deutlich wird das dann in Schlegels an seine Freundin und künftige Frau gerichtetem Aufsatz Über die Philosophie (1799).

Das alles können natürlich nur punktuelle Hinweise sein, zu denen es jeweils wieder Widersprüche, Nebengeräusche und Retardationen gibt. Insgesamt aber werden doch erste wichtige Zusammenhänge von Geschlecht und Medialität erkennbar, wobei die Konstruiertheit von Geschlecht nicht einfach zur Metapher für kulturelle Phänomene wird. Stattdessen ist es eine revolutionär neue Auffassung literarischer Begriffe und Prozesse, in deren Folge sich auch ein präzedenzloses Verständnis von Geschlecht ausbildet.  Der Feminisierung kommt dabei wiederum eine herausragende Bedeutung zu, nicht weil in ihrem Gefolge das Briefeschreiben als weibliche Beschäftigung und der Brief als weibliche Gattung ansichtig würde, wie in Pietismus und Empfindsamkeit, sondern weil eine literaturgeschichtliche Erneuerung der Briefgattung mit einer historisch transformativen Sensibilisierung für die Ansprüche an und von Frauen einhergeht.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Edward O. Wilson: Consilience: The Unity of Knowledge, New York 1998.

[2] Friedrich an August Wilhelm Schlegel, Leipzig, 21.–25. November 1792, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA), Bd. 23, hg. von Ernst Behler, Paderborn [u. a.] 1987, S. 69–79, hier S. 77. Novalis and Friedrich Schlegel in Leipzig, 20. August 1793, in: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs (HKA), Bd. 4, hg. von Richard Samuel/Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz, Stuttgart 1960, S. 124–126, hier S. 124.

[3] Friedrich Schlegel an Novalis in Weissenfels, 7.4.1793, HKA IV, 351.

[4] Friedrich Schlegel an Novalis in Weissenfels, Mitte Mai 1793, HKA IV, S. 353; vgl. 150. Friedrich Schlegel an Novalis in Weissenfels, 20.10.1798, HKA IV, S. 502.

[5] Friedrich an August Wilhelm Schlegel: Leipzig, Januar 1792, KFSA 23, S. 37–41, hier S. 40.

[6] Johann Wolfgang Goethe: „Dichtung und Wahrheit, 13. Buch“, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bd. 9, München 1981, S. 558.

[7] Friedrich Schlegel an Novalis in Wittenberg, Ende Mai 1793, HKA IV, S. 354.

[8] Friedrich Schlegel an Novalis in Wittenberg, 3.7.1793, HKA IV, S. 355.

[9] Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 558.

[10] Nicholas Saul/Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter, Göttingen 2022, S. 50.

[11] Friedrich Schlegel an Novalis in Weissenfels, Ende Februar 1797, HKA IV, S. 478.

[12] Der Schiller-Goethe-Briefwechsel erschien öffentlich zuerst 1828/29.

[13] Novalis: „Blüthenstaub, Nr. 56“, HKA II, S. 435.

[14] In Briefwechsel wird das Pseudonym „Novalis“ zum ersten Mal in einem Brief Friedrich Schlegels an Novalis, Dresden, 9.8.1798 erwähnt (KFSA 24, S. 159).

[15] Vgl. Die Schlegels an Novalis in Siebeneichen, HKA IV, S. 496f.

[16] Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 2000.

[17] Vgl. Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel und Auguste Böhmer, Berlin,  18.12.1797, KFSA 24, S. 67.

[18] Novalis an Friedrich Schlegel in Jena, 31.1.1800, HKA IV, S. 318.

[19] Zu Bedeutung und Umfang des Begriffs vgl. Elizabeth Warton: „The Humanitarian Movement in European History“, in: Il Politico 48/4 (1988), S. 693–726; zur Rolle der Feminisierung als Schrittmacher der humanitären Revolution vgl. Steven Pinker: The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined, New York 2011, S. 129–188.

[20] Friedrich Schlegel: „Athenaeum-Fragment Nr. 359“, in: Friedrich Schlegel: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, hg. von Johannes Endres, Stuttgart 2018, S. 144.

[21] Friedrich Schlegel an Novalis in Freiberg, Anfang März 1799, HKA IV, S. 524.

[22] Friedrich Schlegel an Novalis in Weissenfels, 26.9.1797, HKA IV, S. 490.

[23] Novalis: Poëticismen, HKA II, S. 560: 159.

[24] Friedrich Schlegel an Novalis in Freiberg, 28.5.1798, HKA IV, S. 496.

[25] Friedrich an August Wilhelm Schlegel, Leipzig, Januar 1792, KFSA 23, S. 40.

[26] Novalis an Caroline Schlegel in Dresden, 9(?).9.1798, HKA IV, S. 261.

[27] Novalis an Friedrich Schlegel in Dresden, 8.7.1796, HKA IV, S. 188.

[28] Friedrich Schlegel an Novalis in Freiberg, 28.5.1798, HKA IV, S. 495.

[29] Ebd., S. 496.

[30] Friedrich Schlegel an Novalis in Teplitz, Ende Juli 1798, HKA IV, S. 498.

[31] Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991, S 48.

[32] Friedrich Schlegel an Novalis in Freiberg, 2.12.1798, HKA IV, S. 508.

 

Der wissenschaftliche Impuls ist unter folgendem Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59605

Franz Gareis, „Novalis“, Ölgemälde um 1799.

Verpackung des Konvoluts mit 33 Briefen von Schlegel an Hardenberg, von Schlegel 1808 selbst beschriftet

Caroline Rehberg, „Friedrich Schlegel“, Bleistift und Kreide auf Papier, 1790.

Novalisring im Museum Weißenfels