Annette Wolf , 23.11.2021

Rezeption als Emanzipation

Romantikdeutungen als weiblich-jüdische Emanzipationsgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Als sich am 7. März 1933 der Todestag Rahel Varnhagens zum 100. Mal jährte, erschienen drei Nachrufe, die unterschiedlicher kaum hätten ausfallen können. Wenige Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und angesichts der „judenfeindlichen Hochflut“, die den „deutschen Juden“ wieder in einen Konflikt „zwischen seinem Judentum und seinem deutschen Lebens- und Kulturraum“ stürze, betonte Käte Hamburger das Vorbildhafte Varnhagens, die deutsches Bildungsideal und jüdisches Menschentum vereint habe. [1] Hannah Arendt konstatierte dagegen den „Bankrott“ der jüdischen Assimilation in Deutschland. Ihr „Nachwort“ zu Varnhagen, „die aus dem Judentum herauswoll[te]“ [2], liest sich wie ein Nachruf auf die Emanzipationshoffnungen der deutschen Juden. [3] Margarete Susman wiederum würdigte Varnhagen als große Persönlichkeit, die trotz äußerer Disharmonie und dem Wissen um ihr Verstoßen-Sein eine innere Gewissheit und Wahrheit kannte, die den „heutigen, von der Wirklichkeit bestürmten und aufgezehrten Menschen“ fremd erscheinen müsse. [4]

Hamburger, Arendt und Susman waren nicht die einzigen Autorinnen, die in dieser Zeit gerade aus einer jüdischen Perspektive über Varnhagen und andere Frauen der Romantik schrieben. Zu nennen wären etwa auch Emma Graf, Auguste Weldler-Steinberg, Auguste Hauschner, Bertha Badt-Strauss und Lore Feist. Doch ging die Beschäftigung mit der Romantik darüber hinaus: Die Philosophin Anna Tumarkin legte 1920 mit Die romantische Weltanschauung ein viel beachtetes Werk der frühen Romantikforschung vor. Bei der ersten habilitierten Frau der Universität Bern besuchte auch Walter Benjamin 1917/18 Vorlesungen, dessen Deutung der Frühromantik erst spät, dann aber nachhaltige Beachtung fand. Betty Heimann, ebenfalls Philosophin, beschäftigte sich in Bezug auf Hegel und Schleiermacher mit Fragen der Romantik. Von der Sprachwissenschaftlerin und Etruskologin Eva Fiesel stammt die 1927 erschienene Studie Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, die von Benjamin als „typische Frauenarbeit“ verrissen, Jahrzehnte später dagegen von Hans Magnus Enzensberger als wesentlich für das Verständnis romantischer Sprachvorstellung hervorgehoben wurde. [5] Die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Käte Friedemann, die mit ihrer Promotion bei Oskar Walzel zur Rolle des Erzählers in der Epik (1910) einen frühen Grundstein zur Erzähltheorie legte, verfasste vor 1935 zahlreiche Aufsätze zu verschiedensten Aspekten der Romantikforschung. Sie widmete sich der Romantik als eine gerade nicht dem Rationalismus entgegengesetzte Bewegung. Helene Herrmann gab die Werke Heines mit heraus; Hilde Cohn und Margot Kuttner promovierten über E.T.A. Hoffmann und Fragen von Individualität und Wirklichkeit in der Romantik.

Die Liste ließe sich fortführen und sie muss im Zusammenhang mit der jüdischen Romantikrezeption im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesehen werden. Diese fand – komplementär zur zentralen Rolle von Lessing, Goethe und Schiller für das deutsch-jüdische Bürgertum und die Vorstellung von „Assimilation“ [6] – häufig im Kontext der Jüdischen Renaissance und selbstbewusst formulierten jüdischen Positionen statt. Neben der Rolle für die zionistische Bewegung [7] ist in der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte gerade das Interesse der Generation der Jüdischen Renaissance vor und nach dem Ersten Weltkrieg für Mystik und Romantik herausgearbeitet worden. [8] Eine systematische Untersuchung jüdischer Romantikrezeption – insbesondere einer Rezeption, die sich gerade nicht für Mystik und Gemeinschaft, sondern für den Zusammenhang von Romantik und Aufklärung interessierte – steht allerdings noch aus. Die im Zuge der sich seit den 1910er-Jahren neu ausrichtenden akademischen Romantikforschung entstandenen Arbeiten jüdischer Autorinnen müssen in diesem Kontext gelesen werden. Sie lassen sich auch als Teil eines Selbstverständigungs-prozesses verstehen, in dem die eigene Rolle als Frau und als Jüdin in der Wissenschaft ausgelotet wird. Die Fachgeschichte seit den 1980er-Jahren hat sich allerdings vor allem auf die „Rahel-Philologie“ aus den späten 1920er- und beginnenden 1930ern-Jahren – insbesondere die Arbeiten Hamburgers, Susmans und Arendts, die z.T. nach dem Krieg erstmals oder neu erschienen – konzentriert. [9] Diese bildete jedoch den Schlusspunkt einer Auseinandersetzung, die in einem sehr kurzen Zeitraum von etwa 1910 bis in die späten 1920er-Jahre noch unter anderen Vorzeichen geführt wurde. Während die Beschäftigung mit Rahel Varnhagen anlässlich ihres 100. Todestages bereits vor dem Hintergrund der gescheiterten Emanzipationshoffnungen der deutschen Juden und der Krise des aufklärerischen Humanismus stattfand, zeigt sich in dem ‚langen‘ Jahrzehnt davor eine produktive Romantikrezeption, die Aufklärung und Romantik gerade in Bezug auf ihre Bedeutung für die Frauen- und Judenemanzipation zusammendachte. Der Blick auf dieses emanzipative Projekt wird auch dadurch verstellt, dass seine historischen Grundlagen bereits zerfielen, bevor die Autorinnen es überhaupt konsolidieren konnten. Geplante größere Arbeiten wurden häufig nicht mehr umgesetzt, es blieb bei kürzeren Aufsätzen und Artikeln, die später auch noch vielfach umgearbeitet und meist in den späteren Versionen tradiert worden sind. [10] Im Folgenden wird also der Versuch einer Spurenlese unternommen.

Frauen der Romantik, Frauen in der Romantikforschung

Die Romantik fungierte nicht zufällig als Projektionsfläche, denn in der historischen Konstellation der Romantik selbst lässt sich eine Verschränkung der Emanzipationshoffnungen von Frauen und Juden erkennen. Wenn man also fragt, warum gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Arbeiten von jüdischen Autorinnen zur Romantik entstanden, lässt sich dies nicht nur fachgeschichtlich mit der Dominanz der Romantikforschung in der akademischen Forschung dieser Zeit oder wissenschaftshistorisch mit den Anfängen des Frauenstudiums, den ersten Zulassungen für Frauen zur Promotion und dem hohen Anteil jüdischer Hörerinnen in den ersten Jahrgängen erklären. [11] Diese historischen Entwicklungen bilden zwar die notwendigen Voraussetzungen, darüber hinaus ist jedoch die Verschränkung mit dem Gegenstand selbst zentral, also die „paradigmatische Konstellation“, die sich bzgl. Frauen- und Judenemanzipation in der Romantik zeigte, und die in der Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen wird. [12] Hamburger betonte etwa mit Bezug auf Rahel Varnhagen, dass diese am deutlichsten das Emanzipatorische des neuen romantischen Frauentyps repräsentiere. Ihre Bedeutung ergebe sich gerade daraus, dass zu ihrer Zeit „die Emanzipation der Juden zusammentraf mit [dem] Beginn der Emanzipation der Frau“, die allerdings, „wie so manche revolutionäre Theorie der Frühromantiker,“ erst „unsere Zeit“ verwirklicht habe. [13]

Wenngleich die Frauenemanzipation in der Romantik das Phänomen einiger weniger bürgerlicher Frauen war, die keineswegs auf Breitenwirksamkeit zielten, lässt sich doch unterscheiden zwischen den Ideen der Frühromantiker, die ihr Ideal von Geselligkeit gerade mit Bezug auf die ‚Frauenfrage‘ sowie in Auseinandersetzung mit aufklärerischen Positionen entwickelten, und der Spätromantik, die mit ihrem Kult von „Mütterlichkeit, Tugend, Schönheit und Häuslichkeit“ hinter die emanzipatorischen Ideen zurückfiel. [14] Silvia Bovenschen, die in ihrer nach wie vor eindrücklichen Studie Die imaginierte Weiblichkeit auf die Tendenz seit Mitte des 18. Jahrhunderts hingewiesen hat, „Frauen unter Berufung auf ihren ‚Geschlechtscharakter‘ aus dem Status der Autorenschaft wieder zu verdrängen und sie allenfalls als Demonstrationsobjekte sensitiv-femininer Qualitäten und als dankbares Lesepublikum gelten zu lassen“ [15], grenzt davon gerade die Romantikerinnen und die Vertreter der Frühromantik als unorthodoxe Positionen ab. [16]

Es mag die Nicht-Einlösung der um 1800 theoretisch ausgeloteten emanzipatorischen Ideen gewesen sein, die dazu führte, dass sie den Wissenschaftlerinnen mehr als 100 Jahre später noch als aktuelle Utopie erscheinen und sie sich auffällig gut mit den gebildeten Frauen der Romantik identifizieren konnten. Da auch ihnen zumeist noch eine akademische Laufbahn versperrt wurde, suchten sie sich häufig andere Wege. Ricarda Huchs zwischen Literatur und Wissenschaft angesiedeltes Werk ist ein bekanntes Beispiel, wie diese aufgezwungene Freiheit für neue Formen genutzt werden konnte. [17] Dabei ist es ein schmaler Grat, die den gesellschaftlichen Beschränkungen und materiellen Gegebenheiten abgetrotzten Textformen in ihrer Spezifik zu erkennen, ohne den realen Ausschluss und die Randexistenz zu einer spezifisch weiblichen Produktivität zu verklären. [18]

Gerade am Beispiel der Romantikforschung, die ab den 1910er-Jahren zur zentralen Teildisziplin der Germanistik aufstieg, lässt sich eine dialektische Teilhabe von Anpassung und Autonomie weiblicher Wissenschaftler erkennen, wie Daniel Fulda sie mit Blick auf jüdische Autoren innerhalb des Tragödiendiskurses im 20. Jahrhundert beschrieben hat. Der Anschluss an einen zentralen Diskurs im literaturwissenschaftlichen Feld habe den meist ohne akademische Positionen, marginalisierten jüdischen Intellektuellen eine gewisse Teilhabe ermöglicht, so Fulda, die genutzt worden sei, um sich mit eigenständigen Positionen vom Mainstream des Feldes abzugrenzen. [19] Das Verhältnis von Judentum, Assimilation und Emanzipation am Beispiel Rahel Varnhagens herauszuarbeiten, kann als eine solche dialektische Teilhabe an der Romantikforschung vor 1933 verstanden werden.

Aber noch ein anderes Emanzipationsprojekt steckt in der Auseinandersetzung mit der Romantik. Dabei geht es vor allem darum, wie in einer Zeit, in der die Romantik immer stärker völkisch rezipiert wurde und die Romantikforschung sich zu einem Ort der Weltanschauungskämpfe entwickelte, Anknüpfungspunkte für eine deutsch-jüdische Perspektive geschaffen oder erhalten werden konnten. Während auch im akademischen Diskurs zunehmend auf eine wesenhaft deutsche Romantik verwiesen und dagegen die Frühromantik als rationalistisch und jüdisch diffamiert wurde, [20] zeigt sich in den Lesarten etwa von Käte Hamburger, Margarete Susman und Käte Friedemann ein Versuch, die Romantik gerade im Abgleich und in der Zusammenschau mit Fragen von Vernunft, Wirklichkeit und Humanität positiv zu deuten. Insbesondere drei (zum Teil miteinander verknüpfte) thematische Bereiche stechen hier hervor: erstens Fragen der romantischen Erkenntnistheorie, wie sie insbesondere Käte Hamburger mit Bezug auf Novalis, aber auch Käte Friedemann, Eva Fiesel und Betty Heimann beschäftigten; zweitens Fragen zum Verhältnis von Romantik und Wirklichkeit, wie sie vielfach am Beispiel E.T.A. Hoffmanns erarbeitet wurden; sowie drittens Fragen zum Todesproblem in der romantischen Dichtung. Auf Letzteres soll exemplarisch in aller Kürze eingegangen werden.

Tod und Leben, Diesseits und Jenseits

Im von Eduard Berend begründeten Jean-Paul-Jahrbuch erschien 1925 Margarete Susmans Beitrag zum „Problem der Unsterblichkeit bei Jean Paul“. In der Auseinandersetzung kreist Susman um die Frage, wie sich der romantische Autor in seiner Unsterblichkeitskonzeption doch stark von dem „Weltgefühl der Romantik“ unterschied. Während der Romantik ein rein geistiger Idealismus zu eigen sei, bei dem der Tod des Einzelnen hinter das „übergreifende Leben des Geistes“ zurücktrete, habe Jean Paul gerade „den empirischen persönlichen Tod des einzelnen Menschen als das tiefe religiöse Ereignis“ erlebt, aus dem die „Notwendigkeit und Gewißheit der persönlichen Unsterblichkeit quoll“ [21]. Dieses Motiv, Jean Paul gerade aufgrund seines Verständnisses des Todes zwar als romantischen Autor zu charakterisieren, ihn aber gleichzeitig von den übrigen Romantikern abzugrenzen, findet sich auch im vier Jahre später erschienenen Artikel Käte Hamburgers in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. [22] Auch Hamburger erscheint das Problem des Todes als Schlüssel zum Verständnis verschiedener Weltanschauungen. Das Wissen um die Immanenz des Todes im Leben, der Jean Paul nicht auswich, sondern sie „bis zum äußersten durchlitt“, zeige sein zutiefst romantisches Lebensgefühl, denn „[u]m die Todgeweihtheit des Menschen wissen sie alle, die romantischen Menschen, wie verschieden sie auch sonst geartet sein mögen“ [23]. Nun weist Hamburger allerdings anhand des Figurenpersonals im dichterischen Kosmos Jean Pauls darauf hin, dass er zwar eine Reihe von Romanhelden ausgeprägt habe, die er selbst „hohe oder Festtagsmenschen“ nannte, und die genau diese romantische Unsterblichkeitsvorstellung verkörperten; Menschen, die „ihren Tod nur als das verwandelnde Ereignis denken, das ihr Leben aus seiner irdischen Form überführt in eine andere (…)“ [24]. Daneben habe er aber eine Reihe anderer „hoher Menschen“ gestaltet, die das irdische Leben gerade nicht verachteten: „Sie stehen in ihm in der Fülle ihres Menschentums, handelnd und irrend, liebend und leidend, lebendig und tätig. In ihnen wird die Sehnsucht nach dem Unendlichen, die Liebe zu Gott, auf eine ethische Weise wirksam in tätiger Menschenliebe, sie erleben das Unendliche mitten in der Endlichkeit.“ Die „zweite Welt“ erscheint ihnen „an keinem anderen Orte als mitten in ihnen.“ Es scheint, dass Hamburgers besondere Sympathie bei diesen „großen Spötter[n] und Skeptiker[n]“ liegt, die „dem Glauben an die Unsterblichkeit und persönliche Fortdauer der Seele skeptisch, ja ablehnend gegenüber[stehen]“ [25].

Die Charakterisierung dieser Romanfiguren ist eingebettet in Hamburgers Analyse der Jean Paulschen Unsterblichkeitslehre, die im Grunde auf die Vollendung von Humanität als Wiedergeburt in einer anderen Welt hinauslaufe. Und das widerspenstige Potenzial der „irdischen“ Figuren, das sie eindrücklich schildert, könnte in dieser Rahmung fast untergehen, wenn sie nicht gerade im letzten Satz darauf aufmerksam machen würde, dass „die Klassik“ die Vollendung dieser Humanität „bereits im diesseitigen Leben“ erstrebt habe. Diese Kritik an der Jenseitsfixierung nimmt Hamburger in ihrem Text über „Rahel et Goethe“ von 1934 wieder auf. Auch hier definiert sie die deutsche Romantik über deren Todessehnsucht, der sich das irdische Leben nur als eine Vorstufe, der Tod als Transfiguration darstelle. Mit dieser christlichen Metaphysik habe Varnhagen, die dem ewigen Leben „une belle vie ici-bas“ vorzöge, nichts gemein. [26]

Dieses ambivalente Verfahren, einen romantischen Autor gegen die Romantik insgesamt abzugrenzen, zeigt sich beispielsweise auch in Hilde Cohns Dissertation zu E.T.A. Hoffmann. Während bei Novalis der „illusionistische“ Charakter romantischer Kunst voll ausgeprägt sei, werde Tieck, Brentano und Arnim „der Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits“ bereits zum Problem. Am ausgeprägtesten sei diese Ausrichtung auf die Wirklichkeit jedoch bei Hoffmann zu finden, der „aktiver, gegenwärtiger und gegenständlicher ist als die übrigen ‚echten‘ Romantiker“ [27]. Weil sie Hoffmann trotzdem als romantischen Autor behandelt – ähnlich ambivalent, wie Heine dies bereits in der Romantischen Schule unternommen hatte –, scheint auch bei Hilde Cohn etwas durch, was man als zweifache Wahrnehmung der Romantik bezeichnen könnte. Dieses zweimal Vorhanden-Sein der Romantik bzw. die widersprüchlichen Bewertungsweisen scheinen in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren die Funktion zu haben, zum einen einzelne Autoren oder Aspekte als besonders tradierungswürdig hervorzuheben, indem man sie von der übrigen (dann eher im Gegensatz zur Aufklärung und Klassik gedachten) Romantik abgrenzt. Dort wo diese Autoren aber wieder in die Romantik hineingerechnet werden, wird die Romantik insgesamt aufgewertet und eher in ihren Übergängen und Überschneidungen mit Aufklärung und Klassik betrachtet. [28] Inwieweit sich diese (bei Cohn, aber auch Hamburger, Susman oder Friedemann zu beobachtende) Vorgehensweise gegen die sich in den 1930er-/40er-Jahren zunehmend radikalisierende akademische Forschung und die Diffamierung der Frühromantik als rationalistisch und jüdisch richtet, gilt es systematisch in den Blick zu nehmen. Sie wird auch für die Neujustierungen der Romantikdeutung nach dem Krieg bedeutend.

Wie weitermachen? Deutung der Deutung nach 1945

Ob, in welcher Weise und in welchen Kontexten die Wissenschaftlerinnen nach 1945 wieder zur Romantik arbeiten, mit welchen Autoren sie sich beschäftigen, wie sie sich zu ihren früheren Arbeiten verhalten – dies gilt es vergleichend herauszustellen. Hilde Cohn emigrierte wie Hannah Arendt in die USA und widmete sich noch während des Krieges vor allem dem Werk Hugo von Hofmannsthals. Käte Hamburger hielt eine ihrer ersten Vorlesungen in Stuttgart nach der Rückkehr aus dem schwedischen Exil zur Früh- und Spätromantik. Helene Herrmann wird in den Gaskammern von Auschwitz ermordet, Käte Friedemann flüchtete nach Palästina, ihr weiteres Schicksal ist unklar. Margarete Susman emigrierte 1933 in die Schweiz und lebte bis zu ihrem Tod 1966 in einer kleinen Zürcher Dachwohnung. Ihr Vorwort zur Neuausgabe der Frauen der Romantik von 1960 ist häufig als Revidierung ihrer Romantik-Interpretation bezeichnet worden. Doch was wird hier revidiert? Mit Blick auf die Todessehnsucht der Romantik schreibt Susman: „es erfaßt uns ein Schauer, wenn wir von ihnen [den Todesgesängen] aus auf unsere Geschichte blicken, wie sie seitdem sich entwickelt hat und wie sie ohne das leidenschaftlich Irrationale und das Todeswissen aller Romantik niemals möglich gewesen wäre. (…) Durch all dies, was sich zwischen das Damals und das Heute geschoben hat, ist dies Buch unter einen anderen Stern getreten.“ [29] Damit revidiert Susman ihre Arbeit nicht, sie verweist vielmehr auf deren historischen Index und veröffentlicht sie überdies ohne größere Eingriffe für eine neue Generation. Die Todesverklärung der Romantik hatte sie auch schon in ihrem Text zu Jean Paul problematisiert und dagegen seine, an der Liebe und am Trost ausgerichtete Dichtung gestellt.

Die Arbeiten jüdischer Literaturwissenschaftlerinnen zu den Frauen der Romantik, zu Novalis, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, zur romantischen Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie können nicht nur als Beiträge zur Romantikforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gedeutet werden. Sie lassen sich auch als ein Emanzipationsprojekt lesen, das 1933 ein jähes Ende fand. Das Historische ihrer eigenen Arbeiten aus den 1920er-/30er-Jahren, das Paradigmatische, aus der distanzierten Identifikation sich Stiftende dieser Romantikdeutungen, begutachten Hamburger, Susman und Arendt in der Nachkriegszeit neu. Dabei werden nicht die Romantikdeutungen an sich revidiert, sondern das mit den Deutungen verbundene und erhoffte Emanzipationsprojekt, wie es hier skizziert wurde, wird nach 1933 – in unterschiedlicher Weise – verabschiedet. Erst mit dieser Differenzierung lässt sich die Bedeutung der Arbeiten zur Romantik verstehen, die gerade auch weibliche Autorinnen jüdischer Herkunft zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreich vorgelegt haben.

 

Anmerkungen

[1] Käte Hamburger: „Rahel Varnhagen. Zu ihrem 100. Todestag am 7. März 1933“, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 9.5 (01.03.1933), S. 65–67.

[2] Hannah Arendt: „Originale Assimilation. ‚Ein Nachwort zu Rahel Varnhagens 100. Todestag‘“, in: Jüdische Rundschau 38, 28/29 (07.04.1933), S. 143, online unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2686549, abgerufen am 05. November 2021.

[3] So deutet es Liliane Weissberg, vgl. hierzu sowie zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte von Arendts erstmals 1957 in Deutschland erschienenen Varnhagen-Buch das ungeheuer instruktive Nachwort in der Neuausgabe bei Pieper: Liliane Weissberg: „Lebensgeschichten-Nachwort“, in: Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 2021, S. 365–411.

[4] Margarete Susman: „Rahel Varnhagen von Ense. Zu ihrem 100. Todestag“, in: Die literarische Welt 9 (10.03.1933); wiederabgedruckt in: „Das nah- und Fernsein des Fremden“. Essays und Briefe, hg. von Ingeborg Normann, Frankfurt am Main 1992, S. 169–179.

[5] Walter Benjamin: „Rezension zu: Eva Fiesel, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik“, in: Literaturblatt der Frankfurt Zeitung, 26.02.1928; wiederabgedruckt in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt am Main 1972, S. 96f.; Hans Magnus Enzensberger: Brentanos Poetik, München 1961, S. 13.

[6] Vgl. Anna-Dorothea Ludewig (Hg.): Goethe und die Juden – die Juden und Goethe. Beiträge zu einer Beziehungs- und Rezeptionsgeschichte, Berlin 2018.

[7] Vgl. Manfred Voigts: „Wir sollen alle kleine Fichtes werden!“ Johann Gottlieb Fichte als Prophet der Kultur-Zionisten, Berlin 2003.

[8] Gershom Scholem betonte die Bedeutung der Romantik für die Wissenschaft vom Judentum; Gershom Scholem: „Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt“, in: Ders.: Judaica I, Frankfurt am Main 1963, S. 147–164. Michael Löwy bezeichnet Scholem selbst, aber auch Franz Rosenzweig, Martin Buber, Gustav Landauer, Franz Kafka, Georg Lukács u. a. als „jüdische Intellektuelle der ‚romantischen Generation‘“. Das Scheitern der „Assimilation“ ist für Löwy die entscheidende Erfahrung, aus der heraus sich diese Gruppe begründete; Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, Berlin 1997. Vgl. zudem Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. Brenner sieht, dass diese Romantikbegeisterung dem allgemeinen Zeitgeist in Deutschland entsprach, andererseits aber auch im Gegensatz zu Assimilationsbestrebungen das Ringen um eine neue ‚jüdische Identität‘ bezeugte.

[9] Vgl. etwa Konrad Feilchenfeldt: „Rahel-Philologie im Zeichen der antisemitischen Gefahr (Margarete Susman, Hannah Arendt, Käte Hamburger)“, in: Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin, Göttingen 1987 (= LiLi, Beiheft 14), S. 187–195. Vivian Liska bietet einen sehr interessanten Forschungsüberblick vor allem ab den 1980er-Jahren: Vivian Liska: „Vom Zentrieren der Ränder. Rahel Varnhagen im Spiegel der Gegenwart“, in: Traditionen jüdischen Denkens in Europa, hg. von Sibylle Schönberg, Berlin 2012, S. 43–63; maßgeblich zudem: Barbara Hahn: Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne, Berlin 2002; Barbara Breysach: „Antworten. Schriftstellerinnen und Kulturhistorikerinnen des 20. Jahrhunderts und die deutsche Romantik“, in: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 17 (2005), S. 137–160.

[10] Auffällig zeigt sich das etwa bei dem oben erwähnten Nachruf Hamburgers auf Varnhagen, in dem sie diese deutlich in den Kontext der Romantik stellt. Nur ein Jahr später, allerdings bereits in Frankreich, von wo aus sie nach Schweden emigrierte, verfasste sie auf Französisch – diese Verfremdung scheint nicht zufällig zu sein – einen Aufsatz, in dem sie die Nähe Rahel Varnhagens zu Goethe im Gegensatz zur Romantik betonte. Diesen zweiten Aufsatz überarbeitet und publiziert sie nach dem Krieg neu; der erste wurde dagegen auch in der Forschungsliteratur lange übersehen.

[11] In Preußen waren Frauen seit 1896 als Gasthörerinnen zugelassen, in der Schweiz, die eine Vorreiterrolle im deutschsprachigen Raum einnahm, schon seit 1840. Hier studierte etwa Ricarda Huch, deren Romantik-Deutung auch für die hier genannten Autorinnen maßgeblich war. Vgl. zur Entwicklung des Frauenstudiums allgemein: Ulrike Auga/Claudia Bruns/Levke Harders/Gabriele Jähnert (Hgg.): Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010; Miriam Kauko/Sylvia Mieszkowski/Alexandra Tischel (Hgg.): Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890–1945, Göttingen 2005; zur Bedeutung jüdischer Akademikerinnen: Luisa Hirsch: Vom Schtetl in den Hörsaal. Jüdische Frauen und Kulturtransfer, Berlin 2010.

[12] Sigrid Weigel: „Frauen und Juden in Konstellationen der Modernisierung. Vorstellungen und Verkörperungen der internen Anderen“, in: Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne, hg. von Inge Stephan/Sabine Schilling/Sigrid Weigel, Köln 1994, S. 333–348. Vgl. zudem Martin Friedrich: „Juden und Frauen – Objekte ‚bürgerlicher Verbesserung‘ im Zeitalter der Aufklärung“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 50/2 (1998), S. 156–168. Maßgeblich ist hier auch die Studie Hans Mayers über Außenseiter, in der er am Beispiel von Juden, Frauen und Homosexuellen seine These vom Scheitern der Aufklärung entwickelt; Hans Mayer: Außenseiter, Frankfurt am Main 1975.

[13] Käte Hamburger: „Rahel und Goethe“, in: Dies.: Kleine Schriften zur Literatur und Geistesgeschichte, Stuttgart 1976, S. 111–130. Dabei handelt es sich um eine überarbeitete Fassung von: Rahel et Goethe, in: Revue Germanique 1934, S. 313–329.

[14] Markus Schwering: „Romantische Theorie der Gesellschaft“, in: Romantik-Handbuch, hg. von Helmut Schanze, Tübingen 1994, S. 508–534, hier S. 533.

[15] Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1979, S. 244. Vgl. auch Claudia Opitz/Ulrike Weckel/Elke Kleinau (Hgg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Berlin [u. a.] 2000.

[16] Bovenschen, Weiblichkeit, S. 259. Julius Carlebach verweist dagegen auf den Kontrast zwischen dem Ideal der weiblichen Gelehrsamkeit in der Aufklärung und der Betonung weiblicher Differenz und polarer Geschlechtscharaktere in der Romantik; Julius Carlebach: „The Forgotten Connection. Women and Jews in the Conflict between Enlightenment and Romanticism“, in: The Leo Baeck Institute Yearbook 24/1 (1979), S. 107–138. Bei einer prospektiven Untersuchung der Romantikrezeption müsste es gerade darum gehen, welche Funktionen solche Differenzierungen und Zuschreibungen haben.

[17] Diese Lesart betonen etwa Gesa Dane/ Barbara Hahn (Hgg.): Denk- und Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Über Ricarda Huch, Göttingen 2012.

[18] Vgl. auch Vivian Liskas Verweis auf die Aporien einer genderbezogenen Lektüre, die die Peripherien im Gegensatz zur etablierten Forschungslandschaft aufwerten will, damit aber entweder die Geschichte der Marginalisierung nachträglich in verspäteter Integration aufhebt, oder die Autorinnen in ihrer Position als Paria zu Vorläufern einer postmodernistischen Feier von Differenz stilisiert. Liska, Zentrieren der Ränder, S. 43ff.

[19] Daniel Fulda: „Zwischen Assimilation und Selbstbehauptung. Die jüdisch-deutsche Aneignung der Tragödie in der klassischen Moderne“, in: Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte, Kulturtheorie, Epochendiagnose, hg. von Daniel Fulda, Berlin [u. a.] 2010, S. 207–233. Damit ist weder gesagt, dass marginalisierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stets kanonische Themen forcieren – auch das Gegenteil ist möglich –, noch ist damit gemeint, dass diese Beschäftigungen unbedingt strategisch gewählt sind.

[20] Vgl. Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romanik im Dritten Reich, Paderborn 1999. Insbesondere auch das Kapitel zur Ausgrenzung jüdischer Germanisten und der Debatte um die ‚Umwertung der deutschen Romantik‘, S. 108–127.

[21] Margarete Susman: „Das Problem der Unsterblichkeit bei Jean Paul“, in: Jean-Paul-Jahrbuch 1 (1925), S. 55–77, hier S. 69f.

[22] Käte Hamburger: „Das Todesproblem bei Jean-Paul“, in: DVjs 7 (1929), S. 446–474. Vgl auch den vorhergehenden Artikel: Dies.: „Die Individuation der Gottesidee bei Jean-Paul“, in: Jean-Paul-Blätter 3 (1928), S. 8–13. Hamburger hat ihre Analyse auch als Ergänzung verstanden zu Walter Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928. In einem in ihrem Nachlass im DLA Marbach einsehbaren, unpublizierten Manuskript über „Heinrich von Kleist und das romantische Problem der Krankheit“ kehrt die Todesproblematik wieder. Vgl. auch Käte Friedmann: „Der Tod in der romantischen Weltanschauung“, in: Nord und Süd 160 (1917), S. 191–198.

[23] Hamburger, Todesproblem, S. 459. Bei der Aufzählung solcher „romantischer Menschen“ wird deutlich, dass Hamburger eine Unterscheidung kennt zwischen einer romantischen Bewegung oder Epoche und „Romantik als Modell“, wie dies in der heutigen Forschung bezeichnet worden ist; vgl. Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek: „Romantik als Modell“, in: Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, hg. von Daniel Fulda/Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek, Paderborn 2015, S. 141–156.

[24] Hamburger, Todesproblem, S. 472.

[25] Ebd., S. 473.

[26] Käte Hamburger: „Rahel et Goethe“, in: Recue Germanique 1934, S. 313–329, hier S. 321.

[27] Hilde Cohn: Realismus und Transzendenz in der Romanik, insbesondere bei E.T.A. Hoffmann, Heidelberg 1933, S. 6f. In den Blick zu nehmen wäre zudem Margot Kuttner: Die Gestaltung des Individualitätsproblems bei E.T.A. Hoffmann, Düsseldorf 1936.

[28] Andrea Albrecht hat beispielsweise akribisch aufgezeigt, wie Hamburger im Gegensatz zur stammes- und geistesgeschichtlichen Forschung der 1920er-Jahre ein wissenschaftsaffines und aufgeklärtes Bild von Novalis zeichnete und seine Bezugnahme auf Kant betonte. Albrecht legt nahe, dass sie ihn damit implizit in die Nähe einer deutsch-jüdischen Tradition rücken und als Referenzpunkt für den Neukantianismus rehabilitieren wollte. Mit ihrer Hinwendung zu Thomas Mann und dem Habilitationswunsch bei Rudolf Unger hätte sie dieses Romantikbild aber wieder verabschiedet. Vgl. Andrea Albrecht: „‚[H]eute gerade nicht mehr aktuell.‘ Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus und der deutschen Geistesgeschichte“, in: Käte Hamburger. Kontext, Theorie und Praxis, hg. von Andrea Albrecht/Claudia Löschner, Berlin [u. a.] 2015, S. 11–76. Hamburgers briefliche Äußerungen an Paul Hofmann nach dem Krieg (aus ihrem Nachlass im DLA Marbach) stützen dagegen die These, dass sich ihre Perspektive auf Novalis und die Romantik nicht grundlegend geändert hat. Es ist zudem auffällig, dass sich solche widersprüchlich erscheinenden Deutungen auch bei anderen Autorinnen in dieser Zeit finden lassen, die man vergleichend in den Blick nehmen müsste.

[29] Margarete Susman: „Vorwort“ [1960], in: Dies.: Frauen der Romantik, Frankfurt am Main 1996, S. 12f.

 

Der wissenschaftliche Impuls ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59448

Titelblatt der „Bayerischen Israelischen Gemeindezeitung“ vom 01. März 1933