Ludwig Stockinger , 17.01.2024

‚Romantik‘. Kontinuität und Wandel im Kontext geschichtlicher Prozesse

Einige Überlegungen aus Anlass einer neuen Arbeit über das Spätwerk Joseph von Eichendorffs

Seit sich die Bedeutung des Wortes ‚Romantik‘ in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf ein um 1800 entstandenes und in den folgenden Jahrzehnten tradiertes literarisch-kulturelles Deutungsmuster eingeengt hatte, verfestigten sich auch Urteile, die bis in die Gegenwart weiterwirken und als unerledigte Probleme die Romantikforschung beschäftigen. Eines dieser Probleme, auf das sich schon die Polemik in den 1850er Jahren konzentriert hat, ist die Position der Romantik in den Debatten um die nationale Einheit, wo die ‚Romantik‘ dem Vorwurf des ‚Konservativen‘ bzw. des ‚Reaktionären‘ ausgesetzt war. [1] Aus der Sicht des kleindeutsch orientierten Nationalliberalismus wurde der Romantik rundweg die Fähigkeit zur politischen Gestaltung der Zukunft Deutschlands abgesprochen. [2] Mit diesem Urteil verbunden war die Identifikation der Romantik mit dem Katholizismus, die seit den späten 1830er Jahren verstärkt in Erscheinung trat. Da diese Konfession im Hinblick auf die sich abzeichnende Realisierung des deutschen Nationalstaats unter preußisch-protestantischer Führung als unbrauchbar erschien, geriet die Romantik in die Arena politisch-konfessioneller Kämpfe, die sich nach der Reichsgründung im Kulturkampf verschärften und schließlich auch innerhalb des Katholizismus zu einer Abwertung der Romantik führten. [3]

Das Verhältnis der Romantik zu Nationalismus, Katholizismus und Konservatismus hat in der Forschungsgeschichte zu wechselnden Einschätzungen geführt, dies zumeist verbunden mit unterschiedlichen Bewertungen der Frühromantik im Vergleich zu den späteren, traditionell mit ‚Hoch‘- und ‚Spätromantik‘ bezeichneten Phasen der Romantik. Es ist dabei nicht zu leugnen, dass aufgrund der Rezeptionsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert in der Zeit nach 1945 die gerade angesprochenen Themen mit einem Tabu belegt wurden, um die Romantik den politischen und gesellschaftlichen Normen der Bundesrepublik anpassen zu können und ‚politisch korrekt‘ zu machen.

Eine neue Arbeit über das Spätwerk Joseph von Eichendorffs [4] erhebt nun den Anspruch, auf die damit verbundenen Fragen eine innovative und abschließende Antwort zu geben und der Tabuisierung politisch heikler Themen ein Ende zu bereiten. Die Thesen, die Nikolas van Essenberg zur Diskussion stellt, geben deshalb berechtigten Anlass, einige grundsätzliche Probleme des Bezugs der Romantik zu den politisch-konfessionellen Kontexten um die Mitte des 19. Jahrhunderts neu zu bedenken. Das Programm der Arbeit wird zu Beginn – in einer überlangen Anmerkung versteckt – als „Plädoyer für eine konsequent historisch verfahrende Romantikforschung“ (ER, S. 16, Anm. 9) vorgestellt. Damit verbindet der Verfasser die Abwehr von „apologetische[n] Konstruktionen“ (ER, S. 32) ebenso wie von „moralische[r] Verurteilung“ (ebd.) aus heutiger Sicht. Es geht ihm stattdessen darum, „die tatsächlichen Grundprofile des Eichendorffschen Werkes in ihrer historischen Bedingtheit und Eigengesetzlichkeit adäquat herauszuarbeiten“ (ebd.). Ob eine solche Objektivität des geschichtlichen Urteils in einer historisch-hermeneutischen Arbeit überhaupt möglich ist, ist eine komplizierte und in der philosophischen Hermeneutik vielfach besprochene Frage, auf deren Diskussion ich an dieser Stelle verzichten muss. In der Kritik an den vorschnellen Anpassungen der Romantik an die Wünsche und Vorstellungen der Interpreten, wofür es in der Romantikforschung genügend Beispiele gibt, stimme ich van Essenberg aber grundsätzlich zu.

Der Verfasser folgt mit seinem Ansatz Wolfgang Frühwald, auf dessen „Grundlagenforschung über die historischen Konstellationen des Eichendorffschen Lebens und Werks“ (ER, S. 35) er sich dankbar bezieht. Frühwalds Deutung der Romantik war auf die Transformationen der Romantik im Rahmen des geschichtlichen Epochenwandels ausgerichtet – mit Folgen für eine neue Binnengliederung der Romantik. Angenommen wird ein Muster namens ‚Romantik‘, das um 1800 entstanden ist, im Wandel der Epochen auf jeweils neue Situationen und ihre Herausforderungen antwortet, dabei aber einen Kern von Identität bewahrt. [5] Was damit bei Frühwald gemeint ist, zeigt sich z. B. im Untertitel seiner Arbeit über das Spätwerk Clemens Brentanos, wo er von „Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration“ [6] anstatt von ‚Spätromantik‘ spricht. Entsprechend kann für die früheren Phasen von ‚Romantik im Zeitalter der Französischen Revolution‘ und von ‚Romantik im Zeitalter der Napoleonischen Kriege‘ gesprochen werden, und mit Bezug auf den von van Essenberg gewählten Zeitraum könnte man von ‚Romantik im Vormärz‘ und von ‚Romantik im Zeitalter der Reaktion‘ sprechen, [7] in dem die späten Versepen Eichendorffs den ihnen angemessenen historischen Kontext finden.

Das zentrale geschichtliche Ereignis, das Eichendorffs Konzept von Romantik in den Zeitabschnitten ‚Vormärz‘ und ‚Reaktion‘ bestimmt, ist für van Essenberg der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, mit dem Eichendorff große Hoffnungen auf die Überwindung des bürokratisch regierten Obrigkeitsstaats verbunden und in dem er einen Gesinnungsgenossen im Geist der Romantik zu erkennen geglaubt habe. Damit sei auch Eichendorffs Auffassung seiner Rolle als preußischer Beamter verbunden, die von der Leitidee des „‚gebildeten Beamten‘“ (ER, S. 38) geprägt sei, „eines auf Bildung beruhenden, beamten- bzw. reformkonservativen Staatsverständnisses“ (ebd.). Für den Katholiken Eichendorff konnten auch die religionspolitischen Gesten und Maßnahmen des Königs vor und nach der Thronbesteigung die Hoffnung auf eine überkonfessionell-christliche Grundlegung nicht nur der Politik Preußens, sondern auch der Verwirklichung der nationalen Einheit Deutschlands unter diesem Vorzeichen erwecken. [8] Diese Hoffnung auf eine Einheit von Christentum und deutscher Nation wird von van Essenberg auf die Zeit der Befreiungskriege zurückgeführt: „Der Romantiker […] hatte die […] nationale Idee und die Wiederentdeckung der eigenen christlichen Identität offenkundig als Koinzidenz erlebt.“ (ER, S. 57f.)

Die 1840er Jahre lassen sich nach van Essenbergs Darstellung als Prozess zunehmender Enttäuschungen beschreiben, nicht nur aufgrund der widersprüchlichen Regierungshandlungen des Königs, sondern auch im Hinblick auf den Kontext der „vormärzliche[n] Rekonfessionalisierung der Nationalbewegung“ (ER, S. 60f.), die Eichendorff dazu veranlasst habe, seinen konfessionell-katholischen Standpunkt mit zunehmender Entschiedenheit zu betonen: „Mit seinen späten katholischen Streitschriften hat er […] auf die Erkenntnis reagiert, dass einem überkonfessionellen Nationsideal der Boden längst entzogen war; er identifizierte nun – im Gegenextrem gegen den dezidiert protestantisch-antikatholischen Nationalismus der Kleindeutschen – alles wahrhaft Nationale mit der katholischen Kirche.“ (ER, S. 23) Hier liegt die eigentliche Pointe von van Essenbergs Deutung: Eichendorff habe auch in dieser Periode der Werkentwicklung seinen ursprünglichen Impuls bewahrt, indem er den Katholizismus zur eigentlichen Kraftquelle der nationalen Einheit erklärt habe: „In einer Zeit, als die Romantik aufgrund ihres konfessionellen Stigmas als undeutsch und antinational diffamiert wurde, hatte er die Kühnheit, sie zur ‚deutschen Bewegung‘ zu erklären, weil sie katholisch war.“ (ER, S. 22, Hervorhebung im Original) Der Katholizismus erscheint damit als die letzte in der säkularen Welt verbliebene Bastion, von der aus die Christen aller Konfessionen ihr religiös fundiertes Politikverständnis gegen die ‚Ungläubigen‘ verteidigen sollten. Dem Protestantismus als Konfession wird die Fähigkeit dazu abgesprochen: „Eichendorff geht es hier […] um die politische Allianz der Bekenntnisgläubigen aller Konfessionen gegen den nicht nur beide, sondern darüber auch den Bestand des Staates und den die nationale Einheit bedrohenden ‚liberalen Unglauben‘, wie er für Eichendorff eben der Reformation entstammte.“ (ER, S. 196, Anm. 154). Weil der König in der öffentlichen Diskussion seiner Person in kritischer Absicht als ‚Romantiker auf dem Thron‘ apostrophiert worden sei, schien für Eichendorff die Geltung der Romantik generell tangiert. Da „sich an diesem preußische[n] Romantikerkönig […] sämtliche Vorwürfe aus dem antiromantischen Sündenkatalog zu bewahrheiten schienen“ (ER, S. 473), habe Eichendorff reagiert, „indem er alles Verfehlte einer nichtkatholischen Romantik zuschusterte, um sich selber – den katholischen Romantiker – umso reiner davon abzusetzen, wobei eben dieses ‚Katholische‘ sich dadurch […] überhaupt erst als zentrales Element der eigenen Identitätsbildung herauskristallisierte“ (ebd.). Die ‚verfehlte‘ Romantik sei von Eichendorff aber nicht mit dem Protestantismus generell identifiziert worden, sondern mit einer Sonderform des Protestantismus, dem am Berliner Hof einflussreichen „Pietismus“ (vgl. ER, S. 477ff.).

Im „Reaktionsjahrzehnt[]“ (ER, S. 478) nach 1848 habe man in Preußen eine verstärkte „Tendenz zur konfessionellen Vereindeutigung dessen, was ‚christlicher Staat‘ heißen sollte“ (ER, S. 489), feststellen können. Preußen habe sich, begleitet von einer „quasi neo-absolutistischen Innenpolitik“ (ebd.), zu einem rein „‚evangelischen Staat‘“ (ebd.) [9] entwickelt und es sei noch hinzugekommen, dass es in den 1850er Jahren staatliche Maßnahmen gab, die darauf zielten, die in den Verfassungen von 1848 garantierten Freiheiten der katholischen Kirche wieder „auszuhebeln“ (ER, S. 499). Dies sei für Eichendorff besonders schmerzlich gewesen, weil er die verfassungsrechtlichen Garantien der kirchlichen Freiheit als „heilsgeschichtlich verbürgte Chance gedeutet“ (ER, S. 348) habe, „über die Durchsetzung […] der religiösen bzw. kirchlichen Freiheit eine nationale Einheit herzustellen“ (ebd.). Eichendorff habe sich mit dieser eschatologischen Deutung von 1848 im Einklang mit der katholischen Publizistik befunden: „Sie knüpfte an der im katholischen Raum […] weitverbreiteten providentiellen Revolutionsdeutung an und schien hier wie dort durch die erfolgreiche verfassungsrechtliche Fixierung der institutionellen Selbstverwaltung der katholischen Kirche auch historisch-politisch beglaubigt“ (ER, S. 349).

Soweit mein Versuch, in knapper Form den Kern der Argumentation zusammenzufassen, in dem ich das Potential für fruchtbare Diskussionen sehe. Dabei müssten aber zwei Aufgaben angegangen werden, die van Essenberg noch nicht befriedigend gelöst hat: (1) die Klärung des Romantikbegriffs und (2) die historische Kontextualisierung der spezifisch ästhetischen Strukturen.

Zu (1): Wer von der Transformation der Romantik im Wandel der geschichtlichen Epochen spricht, steht vor der Herausforderung, klar und deutlich zu sagen, was das ist, was sich verändert, ohne die Identität zu verlieren. Wer also von „Romantik im Spannungsfeld von Konfessionalisierung und Nationalisierung“ spricht, provoziert die Frage, was der Verfasser denn genau unter ‚Romantik‘ versteht. Eine schlüssige Antwort darauf sucht man bei van Essenberg vergebens. Es böte sich, wie schon gesagt, an, die Romantik als Traditions- bzw. ‚Schul‘-Zusammenhang zu fassen, der einen in der Frühromantik lokalisierten Anfang hat und auf den sich die Transformationen implizit oder explizit beziehen. [10] Van Essenberg kritisiert diese Methode mit einem interessanten Argument: „[Ü]bergreifende Arbeiten […], die sich der Frage nach dem integrativen Zusammenhang aller romantischen Phasen, Richtungen, Schulen und Strömungen widmen […], nehmen stets an der avancierten Theoriebildung der literarischen Frühromantik Maß; was ‚die‘ Romantik war, wird überwiegend ausgehend von den theoretischen Entwürfen der Frühromantiker her definiert; damit aber erscheint insbesondere die ‚katholische‘ Spätromantik und die ‚politische Romantik‘ überhaupt nicht selten als ‚uneigentliche‘ Fortentwicklung von einem ‚eigentlichen‘ Konzept“. (ER, S. 16) Ich verstehe die „Theoriebildung“ der Jenaer Gruppe nicht als ideale Norm, sondern ganz einfach als Ausgangspunkt eines diskursiven Musters, dessen Verarbeitungen und Spuren, jeweils mit unterschiedlicher Explizität des Bezugs auf die ursprüngliche Theoriebildung, in alle späteren Varianten von ‚Romanik‘ erkennbar eingegangen sind. Anders gesagt: Ich würde von ‚katholischer Spätromantik‘ oder von ‚Politischer Romantik‘ nur dann sprechen wollen, wenn diese Spuren und Rückbezüge noch lesbar sind, ohne diese Verarbeitungen abzuwerten, sondern als Antworten auf veränderte geschichtliche Situationen zu würdigen. Im Spätwerk Eichendoffs ist dieser Rückbezug m. E. durchgehend zu erkennen, zumindest für die poetischen Texte. Ob der Autor in den späten Streitschriften noch ‚Romantiker‘ geblieben ist, wäre noch zu prüfen – dies aber auf der Grundlage eines expliziten Romantikbegriffs.

Bei van Essenberg wird eine solche Diskussion behindert, weil er den Beginn von Eichendorffs Selbstverständnis auf die Zeit seiner Teilnahme am Krieg gegen Napoleon 1813/14 datiert: „Der frühe Eichendorff [gemeint ist offenbar die Phase nach 1813/14, L.S.] erwartete, zusammen mit den meisten jungen ‚Patrioten‘ in der Zeit der Befreiungskriege, eine ‚höhere Einheit der Kirchen‘ im Zeichen der Nation, der gemeinsame Kampf gegen Napoleon wurde als kollektive Feuertaufe erlebt, die nach Jahrhunderten der konfessionellen Spaltung die nationale Einheit gebären würde.“ (ER, S. 23) Diese Fixierung auf 1813/14 hat die Marginalisierung der Werkentwicklung im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zur Folge, in dem die Prägungen von Weltbild und Dichtungskonzept geschahen, mit dem Eichendorff in den Krieg zog und mit dem er seine Kriegserfahrung deutete. [11] In dieses Jahrzehnt fällt die erste Begegnung mit dem Werk von Novalis im Kreis um Otto Heinrich von Loeben, aber auch die Lösung vom epigonalen ‚Novalismus‘ im Rahmen der kritischen Selbstrevision der Romantik in einer Phase der Napoleonischen Kriege, in der es auch und gerade um die Aufrechterhaltung der politischen und militärischen Handlungsfähigkeit der Deutschen ging. [12]

Für diesen Zeitabschnitt lässt sich die Entstehung eines Syndroms von Argumentationsmustern datieren, das man als ‚Politische Romantik‘ bzw. als ‚Romantisierung von Politik‘ klar vom Konservatismus unterscheiden kann und bis in Eichendorffs Spätwerk wirksam bleibt. [13] Dazu gehört die Ausrichtung politischen Handelns an ‚Ideen‘ im Sinne von Kants Begriffsgebrauch anstatt an materiellen Interessen, [14] die Bindung von politischem Handeln an das Christentum als der nach romantischer Auffassung fortgeschrittensten Gestalt von Religion, in der es gelungen sei, Immanenz und Transzendenz überzeugend zu vermitteln, die Ablehnung einer Konstitution und damit verbunden die ‚romantisierende‘ Legitimation der Monarchie als Regierungsform sowie das Ideal einer Zusammenarbeit von Dichtung bzw. Kunst und Monarchie, schließlich die Selbstbeschreibung der deutschen Nation als kultureller Keimzelle der künftigen Entwicklung der ganzen Menschheit – die spezifisch romantische Verbindung von Nationalismus und Universalismus.

Das alles konnte man in der ersten Werkausgabe der Schriften von Novalis von 1802 finden, wo auch schon das Projekt eines überkonfessionellen Christentums entwickelt wird, in dem auch wesentliche Gehalte des Katholizismus ihren Platz erhalten. [15] In der Zeit der zunehmenden Bedrohung des Reiches im Verlauf der Napoleonischen Kriege nach 1800 kommen neue Akzente im Hinblick auf die Verteidigung der nationalen Kultur Deutschlands mit militärischen Mitteln hinzu, implizit bereits in August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen (1801–1804), deren politisch einschlägiger Abschnitt, die radikale Abrechnung mit Politik und Kultur der Neuzeit als „Verkennung der Ideen“, durch die frühe Veröffentlichung im Jahr 1803 einem breiteren Publikum zugänglich gemacht worden ist, [16] explizit in Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1807/08). Die bei A. W. Schlegel zu beobachtende Verklärung der Kreuzzüge und des Rittertums, die bei Novalis noch keine Rolle spielte, [17] enthielt auch ein Angebot für das Eichendorff zeitlebens beschäftigende Selbstverständnis des Adels, was dann von Adam Müller, dessen Elemente der Staatskunst (1808/09) erschienen sind, zu einer ausgearbeiteten Theorie der Rolle des Adels weiterentwickelt worden ist. [18]

Während van Essenberg ohne Begriffserläuterung von Eichendorffs „Reformkonservatismus“ (vgl. z. B. S. 126) spricht oder von einem „dritten Weg zwischen dem liberalen Konstitutionalismus und dem bürokratischen Absolutismus“ (ER, S. 145), werden von ihm die Bezüge zu der von ihm nur vage bestimmten ‚Politischen Romantik‘ als unerheblich abgetan: „Zwar verkehrte Eichendorff in seinen Studentenjahren durchaus mit den Chefideologen der Politischen Romantik, Adam Müller und Friedrich Schlegel. Zwar können zahlreiche Einflüsse, zumal auf die Diktion kaum bestritten werden. Doch die zentrale Prägung erhielt Eichendoffs politisches Denken durch die frühen Konstellationen seiner Beamtenlaufbahn.“ (ER, S. 151). Umgekehrt wird ein ‚Schuh daraus‘! Eichendorffs Selbstverständnis als Beamter und als Dichter ist im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durch die ‚Politische Romantik‘ nachhaltig geprägt worden, ebenso wie er in diesem Kontext gelernt hat, den Katholizismus seiner primären Sozialisation als ‚zeitgemäße‘ Religion neu zu begreifen. Um Eichendorff zu verstehen, wäre es angemessen, die Auffassungen der „Chefideologen der Politischen Romantik“ (ebd.) genauer in Betracht zu ziehen. Mit der Konzentration auf die Zeit nach 1813/14 verstellt man sich die Möglichkeit, die Entwicklung des Autors als lebenslange Auseinandersetzung mit diesem Syndrom zu rekonstruieren.

Bei einer Berücksichtigung der ‚Politischen Romantik‘ würde man auch die Probleme dieses Konzepts beschreiben können, mit denen Eichendoff zu kämpfen hatte. Dies betrifft ungelöste innere Widersprüche ebenso wie Schwierigkeiten bei der konkreten Anwendung dieses ‚unpolitischen‘ Konzepts in der politischen Praxis. Eichendorffs Verarbeitung der ‚Politischen Romantik‘ ließe sich deswegen gut in der Form einer ‚Problemgeschichte‘ erzählen, deren Hauptthemen etwa folgende wären: Das ungeklärte Verhältnis zwischen der ‚romantisierenden‘ Deutung des Katholizismus und der Unterordnung unter die Hierarchie von Papst und Kirche, [19] generell die Vereinbarkeit von Freiheitspostulat und Bindung an vorgegebene Ordnungen, [20] das Verhältnis zwischen der Universalität des Christentums und der Identität von Nationen, [21] die Vereinbarkeit des Gebots des christlichen Gewaltverzichts mit der Verteidigung des Christentums durch militärische Gewalt und schließlich die Gefahr einer Verwechslung der ‚romantisierten‘ Monarchie mit den Hoffnungen, die in tatsächlich regierende Monarchen wie z. B. Friedrich Wilhelm IV. gesetzt wurden. Das Spätwerk Eichendorffs ließe sich als Versuch deuten, die im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gebildeten Deutungsmuster dem geschichtlichen Horizont der vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts anzupassen.

Zu (2): Van Essenbergs Plädoyer für die historische Kontextualisierung von Eichendorffs Romantik, dem ich ja zustimme, ist verbunden mit einer scharfen Abgrenzung gegen den Hauptstrom der Forschung. Es geht ihm darum, „die fachgeschichtlich bedingte und autonomieästhetisch fundierte Dichotomisierung einer ‚eigentlichen‘, literarisch-ästhetischen Romantik und ihrer ‚uneigentlichen‘, historisch-politischen Rezeption“ (ER, S. 16, Anm. 9) zu überwinden „und das 1945 beendete Gespräch mit den Geschichtswissenschaften“ (ebd.) wieder aufzunehmen. Am Ende des Buches spricht der Verfasser gar von der „Insuffizienz einer werkimmanenten oder theoriegebundenen Interpretationspraxis“ (ER, S. 629), von dem „uralte[n], seit 1945 […] metastasenartig fortwirkende[n] Stereotyp von Eichendorff als dem ‚absoluten Lyriker‘“ (ebd.), von der „zählebige[n] Legende von der historisch-politischen Referenz- und Entwicklungslosigkeit seines Werkes“ (ebd.). Ob diese pauschale Abfertigung der bisherigen Forschung mit der Metapher eines Krebsgeschwürs gerechtfertigt ist, lasse ich einmal dahingestellt; [22] hingewiesen sei vorerst nur auf die gravierende Folge für den Gang der Argumentation, das Übergewicht von geschichtlichen Informationen auf der einen Seite und die Vernachlässigung formaler und semantischer Strukturen der poetischen Texte auf der anderen Seite.

Das hat Folgen für die Deutung der Gedichte des ‚Revolutionszyklus‘, der Satire Libertas und ihre Freier und der späten Versepen. Hier wird generell die Regel nicht beachtet, dass bei jedem Text-Kontext-Bezug der Textanalyse Priorität zukommen sollte, weil sich nur so sinnvolle Suchfragen nach relevanten Kontexten generieren lassen. Folgt man dieser Regel nicht, dann besteht die Gefahr, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche im Text vorschnell durch Kontextwissen und Interpolationen aus anderen Texten zu glätten und zu vereindeutigen. Dies gilt für poetische Texte seit der Entwicklung des Konzepts der Autonomie von Dichtung im späten 18. Jahrhundert generell, in besonderer Weise aber für Texte, die nach dem Poesiekonzept der Romantik verfasst worden sind, gemäß dem Heteronomie und Autonomie in einem komplizierten Wechselverhältnis stehen. Die Wahl der poetischen Form, in der sich offene oder auch unlösbare Fragen ansprechen lassen, im Unterschied zu expositorischen Texten wie z. B. einer konfessionspolitischen Streitschrift ist deshalb für den Romantiker Eichendorff höchst relevant und das ist auch der legitime Platz für die Analyse der literarischen Verfahren, etwa der romantiktypischen Formulierung des Behauptens von Wahrheit und des gleichzeitigen Widerrufs dieser Behauptung [23] oder der lyrischen Bildlichkeit mit ihrem Changieren zwischen mehrdeutigen Natursymbolen, Anspielungen auf antike Mythen und christlich-allegorischen Vereindeutigungen, mit der sich die Eichendorff-Forschung intensiv beschäftigt hat.

Wer den Bezug von Eichendorffs Dichtungen zum historischen Kontext klären will, muss deswegen danach fragen, in welcher Weise diese dezidiert poetischen Textstrukturen auf die geschichtliche Situation antworten und wie sie sich auf die unterschiedlichen Adressaten – es charakterisiert Eichendorffs Texte, dass sie zumeist mehrfach adressiert sind – beziehen. Anders gesagt: Diese Verfahren sind nicht ‚autonom‘, sondern ‚politisch‘, weil sie eine spezifische Form der Rede über Politik und Religion sind, in der auch die Artikulation von Problemen möglich ist, die in expositorischen Texten aus strategischen Gründen nicht möglich erscheint. Pointiert gefragt: ‚Wissen‘ die Dichtungen von Eichendorff mehr und Anderes über das Verhältnis von Romantik, Religion und Politik als die Streitschriften? Im Rahmen eines ‚Impuls‘-Beitrags kann ich nur an ein paar Beispielen andeuten, in welche Richtung man sich im Rahmen dieser Vermutung bewegen könnte. Das ist aber ein eigenes Projekt, über das ich hier nur Andeutungen machen kann.

Bei der Interpretation von Libertas und ihre Freier (vgl. ER, S. 330–350) z. B. ordnet van Essenberg den Text der Gattung ‚Satire‘ zu, ohne die Probleme zu erwähnen, die für die Deutung der Revolutionskritik aus der Kombination von Satire und romantischem Kunstmärchen entstehen, die zwar eine Reduzierung der vieldeutigen Anspielungen auf eine eindeutige politische Allegorie unmöglich machen, dem Autor aber einen Spielraum für brisante Aussagen eröffnen, die sich außerhalb dieser Form wohl nicht artikulieren ließen. Wenn beispielsweise am Ende des Märchens Libertas in einem „verwunschene[n] Elfenschloss“ (ER, S. 347) Zuflucht findet, so kann man dieses Schloss, wie der Verfasser im Anschluss an Ursula Regener sagt, durchaus als Hinweis auf die katholische Kirche verstehen, in der die Freiheit – nicht nur die 1848 garantierte Religionsfreiheit, sondern die ‚Idee‘ der Freiheit – den letzten verbliebenen Rückzugsort findet (vgl. ER, S. 347f.). Dabei wäre aber zu bedenken, dass dies implizit mit einer ambivalenten Aussage über den Zustand der katholischen Kirche verbunden ist, den sich der treue Katholik Eichendorff in direkterer Form wohl nicht erlaubt hätte. Die Freiheit ist zwar nicht gänzlich aus der Geschichte „verschwunden“, wie van Essenberg feststellt, das Asyl, das sie findet, um zu besseren Zeiten der Geschichte wieder in Erscheinung treten zu können, ist aber aufgrund der märchenhaften Elemente, mit denen es charakterisiert wird, nicht mit der tatsächlichen katholischen Kirche zu identifizieren, sondern allenfalls mit einem ‚romantisierten‘ Katholizismus, den es nur mehr in der Verborgenheit eines Märchenwaldes gibt. Deutet sich damit schon ein Unbehagen an der Entwicklung der katholischen Kirche seit der zweiten Jahrhunderthälfte an, der Eichendorff am Ende seines Lebens in der oft zitierten Klage über die Indizierung des Theologen Anton Günther Ausdruck verleiht (vgl. ER, S. 619f.) – dies allerdings nur in einem Entwurf, den er wohl so nicht hätte publizieren können? [24] Im Märchen konnte man dergleichen andeutungsweise sagen.

Derlei Ambivalenzen lassen sich auch in dem „lyrischen Revolutionszyklus ‚1848‘“ (ER, S. 259) feststellen, wenn man sich ohne vorschnelle Festlegung auf eine aus dem Kontext der katholischen Revolutionsdeutung abgeleitete Bedeutung mit dem Handwerkszeug der Lyrikanalyse auf die Texte einlässt. Die Muster der „providenztellen Revolutionsdeutung“ (ER, S. 264), die Eichendorff mit der „Mehrheit des deutschen Katholizismus“ (ebd.) teilt, treten in diesen Gedichten zwar deutlich zutage, weil die Ereignisse und Ergebnisse der Revolution durchweg mit unübersehbaren biblischen Anspielungen als göttliches Strafgericht erscheinen. Es bleibt aber rätselhaft, wer mit dem im 4. Sonett genannten „jungen Held[en]“ gemeint ist, der die „Götzenbilder“ Babels zum Einsturz bringt, nach dem Kampf vor dem Kreuz ins Knie sinkt und „dereinst die blut’gen Waffen“ niederlegen wird. [25] Wenn mit dieser Figur ein Vollstrecker des göttlichen Strafgerichts in der geschichtlichen Welt gemeint ist, der das „sündengraue Alte […] gerichtet“ [26] hat, dann ergäbe sich vielleicht ein Sinn, wenn man ihn mit den radikalen Richtungen der Revolution identifiziert, die nicht bei den moderaten Zielen des Liberalismus stehen geblieben sind, sondern wirklich alles „Alte“ abräumen wollten bzw. abgeräumt haben. Diese Kräfte erhielten damit trotz der Gefahr, die von ihnen ausgeht, eine heilsgeschichtliche Sinngebung – es muss alles zerstört werden, wenn etwas Neues wachsen soll –, verbunden mit der Hoffnung, dass gerade diese Kräfte „dereinst“ [27] sich der Botschaft des Christentums zuwenden und dem Aufbau eines neuen Reichs der ‚wahren‘ Freiheit widmen werden. Einstweilen wird diese Hoffnung vom Ich nur in einer Frage am Ende des 5. Sonetts formuliert: „Wer rettet uns da noch, als Sein Erbarmen?“ [28]

Wo wäre dann aber in der Gegenwart die katholische Kirche? Eine ambivalente Antwort findet sich im 6. Sonett: Die Revolution wird hier mit der alles zerstörenden Sintflut verglichen, auf der ein „Schiff“ – durch den Titel als Allegorie der Kirche festgelegt – wie die biblische Arche unversehrt und anscheinend unberührt von den Ereignissen unter einem „Regenbogen“ dahinfährt. [29] Im Unterschied zur Arche des Buches Genesis erscheint der Regenbogen aber nicht nach dem Ende der Sintflut, da das Schifflein, auf dem nur wenige Platz gefunden haben, sich ja noch auf der Flut befindet. Hat sich das Christentum auf eine Minderheit reduziert, die in der Zeit noch anhaltender Revolutionen in isolierter Verborgenheit auf bessere Zeiten wartet? Ob und wann diese kommen werden, ist keine Gewissheit, sondern allenfalls eine Hoffnung, für die man einstweilen nur beten kann: „O Herr, da laß uns alle selig landen!“ [30] Ob das noch in der geschichtlichen Welt eintritt oder nach dem Ende der Zeit, bleibt offen, und gerade damit bleibt die Aussage ‚romantisch‘. Da die Kirche sich einsam inmitten der noch anhaltenden Flut befindet, fragt man sich freilich, wie denn die Botschaft dieser kleinen Gemeinde zur Rettung der sündigen Welt ankommen soll, wenn sie denn überhaupt noch gerettet werden kann. Es bleibt nur der sich im Sonett artikulierende Dichter, der aus einem ‚höheren‘ Standort das Gebet stellvertretend für alle, die das Gedicht lesen und verstehen wollen, ausspricht. Die romantische Dichtung versammelt in der Gegenwart die christliche Gemeinde der Zukunft, während die Kirche einstweilen nur den recht beengten Platz auf der Arche dafür freihält. Diese kurzen – zugegeben sehr gewagten – Deutungsversuche der rätselhaften Bilder sollen nur zeigen, auf welche Weise Eichendorffs ‚romantische‘ Position innerhalb der „providenztellen“ (ER, S. 264) Revolutionsdeutung des zeitgenössischen Katholizismus durch genauere Beobachtung von poetischen Verfahren erschlossen werden könnte. Ob Eichendorff seine Deutung von 1848 als göttliches Strafgericht über alle etablierten Mächte [31] in unverschlüsselter Form hätte sagen können, ist sehr die Frage; die Dichtung ‚weiß‘ hier wohl mehr und deshalb ist die Wahl der poetischen Form eine sowohl religiös als auch politisch bedeutsame Entscheidung.

In die Richtung von Fragen nach der poetischen Artikulation ungelöster Probleme des Verhältnisses von Politik und Religion müsste man sich auch bei der Interpretation der späten Versepen bewegen. Ich beschränke mich im Folgenden nur auf einige Hinweise zum Versepos Julian, um beispielhaft zu zeigen, wie ich mir die Interpretation auch der anderen Versepen vorstellen könnte.

Im Fall von Julian steht ein religiöser Konflikt zwischen Christentum und Heidentum in der Spätantike im Zentrum der Handlung, aber die Art, wie dieser Konflikt erzählt wird, beleuchtet die Gegenwart in einer Weise, die auf längerfristige Probleme der romantischen Auffassung von Religion verweisen. Dazu nur einige Andeutungen: Der Bezug zur Gegenwart wird schon allein dadurch hergestellt, dass der Abfall des Kaisers vom christlichen Glauben in einer Situation des bereits etablierten Christentums geschieht, das den Charakter einer Staatsreligion hat, vergleichbar der Situation der Kirchen noch im 19. Jahrhundert. Das wird schon zu Beginn der Erzählung mit der Teilnahme des Kaisers an einem kirchlichen Ritual samt Bischof und Klerus betont, das aber für den Kaiser keine Bedeutung mehr hat. Dieser Kirche, die mit ihrem Dankesfest für den Sieg über die „wilden Heiden“ [32] als Staatsreligion mit festlichem Gepränge auftritt, ist es aber offenbar nicht gelungen, den christlichen Glauben so zu vermitteln, dass er auch die Lebensbedürfnisse des Kaisers befriedigen könnte, denn die Kritik Julians am Christentum zielt auf die alleinige Forderung nach Askese und Entsagung. Was ihm also fehlt, ist die Integration der sinnlichen Erfahrung in die Religion. Dies artikuliert der Kaiser in einem Preis der antiken Mythologie, die sich sprachlich so präsentiert, als sei sie aus Versatzstücken der Schelling’schen Naturphilosophie zusammengesetzt. Julian ist ‚Pantheist‘ und er repräsentiert damit aus der Sicht der orthodoxen Theologie beider Konfessionen eine gefährliche Seite der Romantik generell. Dass er dabei unter dem Einfluss von Philosophen und Dichtern steht, komplettiert dieses negative Bild einer Konkurrenz zwischen Theologie und ‚weltlichen‘ Surrogaten von Religion.

Im Lichte der schon bei Novalis formulierten Idee von einem Christentum der Zukunft, mit der Eichendorff ja gut vertraut war, könnte man aber sagen, dass dem etablierten Christentum – der Römerzeit und der Gegenwart – eine Integration der sinnlichen Bedürfnisse des Menschen in den Monotheismus nicht gelungen ist, weswegen es nicht verwunderlich erscheint, wenn im Verlauf der Erzählung reihum Christen wie Oktavian in das Heidentum zurückfallen und bei einer heidnischen Orgie sogar die Germanen und Gallier aus dem Heer des Kaisers gerne mitmachen: „Halbe Heiden, halbe Christen, / Die das Kreuz schier wund gedrückt, / Freun sich dort der neuen Freiheit / Und umarmen sich entzückt.“ [33] Und was vermag das Christentum in dieser Situation? Von der Staatskirche hört man nichts mehr und der verbliebene machtlose Rest wird vor der Gefahr des Untergangs durch eine moralisch fragwürdige Gewalttat gerettet. Die Tötung des Kaisers geschieht durch Severus, allerdings nicht aus religiösen Motiven, sondern aus Rache. Severus stirbt nicht als christlich-ritterlicher Held, sondern er stirbt mit dem Ausdruck der ‚Desperatio‘, dem Zweifel, ob er die Verzeihung Gottes erlangen könne; und der Erzähler lässt das Urteil über die Tat am Ende offen.

Das Epos spricht damit zwei ‚Langzeitprobleme‘ an, die die ‚Politische Romantik‘ von Anfang an begleiten und die in den 1850er Jahren durchaus noch nicht erledigt waren: (1) Die Lösung der Aufgabe der Vermittlung von Pantheismus und Monotheismus, um die Bedürfnisse der Sinnlichkeit des Menschen religiös zu integrieren; (2) das Problem der Vereinbarkeit von Christentum und kriegerischer Gewalt, dessen plausible Lösung für das Idealbild des christlichen Ritters, das auch für den Adel der Gegenwart als Identifikationsmuster bedeutsam war, noch aussteht. Es wäre einer Überlegung wert, auch die beiden anderen Versepen im Hinblick auf die Diskussion dieser Probleme zu betrachten – beide Texte bieten dazu genügend Anhaltspunkte – und dabei den Kontext der Diskussionen über das Verhältnis von Christentum und Pantheismus [34] und über die Rolle des Adels in den 1850er Jahren zu berücksichtigen, mit dem Ziel, Textanalyse und Historisierung methodisch kontrolliert zu verbinden. Das wäre ein Projekt, für das die Auseinandersetzung mit van Essenbergs Deutungsvorschlägen einen willkommenen Anlass bieten würde.

 

Anmerkungen

[1] Dieses Urteil ist in den 1850er Jahren schon Lexikon-Wissen. Vgl. Friedrich Arnold Brockhaus: Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände, Leipzig 101851–1855, Bd. XIII, S. 111: „Aus der Entwicklung dieser neuen […] Romantik ergab sich ein neuer Begriff, der jetzt geradezu als Parteibezeichnung […] gebraucht zu werden pflegt. Indem nämlich die romantische Schule […] zuletzt nicht blos in der Dichtung, sondern auch im Leben, in Sitte, Staat und Religion das Mittelalter um jeden Preis wiederherstellen wollte und dadurch in religiöse und politische Reaction hineingerieth, geschah es, daß man unter dem Namen der Romantik ohne weiteres alle krankhaften und rückschreitenden Richtungen der geschichtlichen Bewegung zusammenfaßte.“

[2] Aus dieser Haltung heraus ist auch die erste Gesamtdarstellung der ‚Romantischen Schule‘ verfasst worden: Rudolph Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870.

[3] Vgl. z. B. Karl Muth: Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens, Kempten [u. a.] 1909.

[4] Nikolas van Essenberg: Romantik im Spannungsfeld von Konfessionalisierung und Nationalisierung. Das Spätwerk Joseph von Eichendorffs (1837-1857), Göttingen 2022 [im Folgenden zitiert unter der Sigle ER].

[5] Dieses Konzept entspricht dem Programm des Jenaer Forschungsprojekts „Modell Romantik“. Vgl. dazu Stefan Matuschek/Sandra Kerschbaumer: „Romantik als Modell“, in: Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, hg. von Daniel Fulda/Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek, Paderborn 2015, S. 141–155; Sandra Kerschbaumer: Immer wieder Romantik. Modelltheoretische Beschreibungen ihrer Wirkungsgeschichte, Heidelberg 2018.

[6] Wolfgang Frühwald: Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815–1842). Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration, Tübingen 1977.

[7] Zu diesem Begriff vgl. Wolfgang Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 675: „Es war der Versuch, den konservativ-bürokratischen Obrigkeits- und Ordnungsstaat wieder fest zu etablieren und gegen allen Liberalismus und all die Tendenzen, die zur Revolution geführt hatten, abzuschirmen.“

[8] Zum Interesse des Königs am Kölner Dom als eines die Konfessionen übergreifenden ‚Nationaldenkmals‘ vgl. ER, S. 51–61; zur Freilassung des Kölner Erzbischofs Droste Vischering vgl. ER, S. 67–74.

[9] Zitiert nach Christopher Clark: Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600–1947, London 2007, S. 503; David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995, S. 361ff.

[10] Zu diesem Konzept der Begriffsbildung vgl. Ludwig Stockinger: „Die ganze Romantik oder partielle Romantiken?“, in: Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, hg. von Bernd Auerochs/Dirk von Petersdorff, Paderborn 2009, S. 21–41, hier S. 32ff., sowie die in Anm. 5 genannten Arbeiten zum Jenaer Projekt „Modell Romantik“. Zur Konstruktion eines Romantibegriffs nach dieser Methode vgl. auch Dirk von Petersdorff: Romantik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2020.

[11] Um nicht missverstanden zu werden: Im Folgenden werde ich auf eine Reihe von Beiträgen – auch einige von mir – hinweisen, die z. T. neueren Datums sind und die deshalb van Essenberg bei seiner Arbeit noch nicht berücksichtigen konnte. Es geht mir also nicht um Kritik an mangelnder Kenntnisnahme von Forschung, sondern um Anstöße für künftige Diskussionen.

[12] Vgl. Dirk von Petersdorff: „Korrektur der Autonomieästhetik, Appell an das ‚Leben‘. Zur Transformation frühromantischer Konzepte bei Joseph von Eichendorff“, in: Heidelberger Jahrbücher 51 (2007), S. 53–65.

[13] Vgl. Ludwig Stockinger: „‚Politische Romantik‘ – ‚Romantisierung von Politik‘. Anmerkungen zum Ursprung und zur Rezeption eines frühromantischen Politikkonzepts“, in: Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik, hg. von Walter Pauly/Klaus Ries, Baden-Baden 2015, S. 47–97; zur Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart vgl. die Beiträge in dem Sammelband von Sandra Kerschbaumer/Matthias Löwe (Hg.): Romantisierung von Politik. Historische Konstellationen und Gegenwartsanalysen, Paderborn 2022.

[14] Der Bezug auf ‚Ideen‘ scheint auch die Basis der Verständigung zwischen Eichendorff und Theodor von Schön gewesen zu sein, was van Essenberg an einer Stelle als „übertriebene Obsession“ (ER, S. 475) abtut, ohne die zentrale Bedeutung dieses Begriffs seit der Frühromantik zu erwähnen.

[15] Vgl. Ludwig Stockinger, „Novalis und der Katholizismus“, in: „Blüthenstaub“. Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis, hg. von Herbert Uerlings, Tübingen 2000, S. 99–121.

[16] Vgl. Ludwig Stockinger: „August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen als Ereignis politisch-romantischer Beredsamkeit“, in: August Wilhelm Schlegels Modellierung von Literaturgeschichte, hg. von Claudia Bamberg/Katrin Henzel, Berlin 2023, S. 79–114, hier S. 97–114.

[17] Vgl. Matthias Löwe: „Ritter und Papst. Romantische Mediävistik im Spannungsfeld von Nationalideologie und Kosmopolitismus bei August Wilhelm Schlegel und Novalis“, in: August Wilhelm Schlegels Modellierung von Literaturgeschichte, hg. von Claudia Bamberg/Katrin Henzel, Berlin 2023, S. 31–44.

[18] Vgl. Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen, Neudruck Berlin 1968, hier v. a. die 9. Vorlesung, S. 113–118.

[19] Friedrich von Hardenberg formulierte sein Plädoyer für die Integration katholischer Gehalte in ein Christentum der Zukunft im November 1799 in der Annahme, dass das Papsttum an sein Ende gekommen sei. Diese Erwartung hat sich bekanntlich nicht bestätigt.

[20] Vgl. dazu in Müllers Elementen die 36. Vorlesung (S. 425–435).

[21] Auch hierzu findet sich eine anspruchsvolle Diskussion in Müllers Elementen. Vgl. dazu die Vorlesungen 34–35 (S. 401–421).

[22] An einer Stelle der Einleitung formuliert der Verfasser allerdings eine Erklärung dieser Tendenz, die man nicht ganz von der Hand weisen kann, wenn er auf die „untergründige Furcht“ verweist, „durch den Aufweis entsprechender Werkprofile“ – gemeint sind Nationalismus und Katholizismus – könne ein „negatives Licht auf den Interpreten selbst zurück“ fallen (ER, S. 30).

[23] Dieses Verfahren bezeichnen Matuschek/Kerschbaumer: Romantik als Modell, S. 145, mit der Metapher der „Kippfigur“.

[24] Günther repräsentierte eine ‚romantische‘ Richtung der deutschen Theologie des 19. Jahrhunderts, in der versucht worden ist, die Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie und dem Idealismus nicht gegen, sondern mit den Argumentationsverfahren der neuesten Philosophie zu führen. Vgl. dazu Stockinger: Novalis und der Katholizismus, S. 111–117. Es blieb Eichendorff erspart, das Ende dieser Hoffnungen in den dogmatischen Entscheidungen des 1. Vatikanums erleben zu müssen.

[25] Joseph von Eichendorff: „IV Will’s Gott!“, in: Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden, Bd. 1, hg. von Hartwig Schultz, Frankfurt am Main 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 21), S. 451. Van Essenbergs Hinweis auf eine Stelle aus den Historisch-politischen Blättern (vgl. ER, S. 304) kann das Rätsel der „mysteriös-erratische[n] Figur“ (ebd.) nicht auflösen, weil Interpolationen aus anderen Texten die Deutung der Figur im Textzusammenhang nicht ersetzen können.

[26] von Eichendorff: Will’s Gott!, S. 451.

[27] Ebd.

[28] Joseph von Eichendorff: „V Wer rettet?“, in: Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden, Bd. 1, hg. von Hartwig Schultz, Frankfurt am Main 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 21), S. 451–452, hier S. 452.

[29] Vgl. Joseph von Eichendorff: „VI Das Schiff der Kirche“, in: Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden, Bd. 1, hg. von Hartwig Schultz, Frankfurt am Main 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 21), S. 452.

[30] Ebd.

[31] Im 6. Sonett werden z. B. „Thron, Burg, Altar“ genannt. Van Essenberg reduziert dies auf die bekannte Formel von „Thron und Altar“ (vgl. ER, S. 309) und übergeht damit den Hinweis auf den Adel, der mit „Burg“ gemeint ist. Das Gericht ergeht über alle, den König, den Adel und die Kirche!

[32] Joseph von Eichendorff: „Julian“, in: Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden, Bd. 1, hg. von Hartwig Schultz, Frankfurt am Main 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 21), S. 605–646, hier S. 606.

[33] Ebd., S. 613f.

[34] Gerade bei der Auseinandersetzung Eichendorffs mit Novalis in den literaturhistorischen Schriften spielt die Gefahr eines Rückfalls in den Pantheismus, der schon von Friedrich Heinrich Jacobi gegen Schellings Naturphilosophie erhoben worden ist, eine zentrale Rolle.

 

Der wissenschaftliche Impuls ist unter folgendem Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61465

Eduard Eichens (1804–1877), „Joseph von Eichendorff“, 1841, gezeichnet und radiert.