Romantische Literatur wird dreidimensional
Das 1842 fertiggestellte Schloss Lichtenstein, das am Nordrand der Schwäbischen Alb auf einem rund 250 Meter hohen Felsen über dem Tal der Echaz und dem Dorf Honau thront, stellt einen singulären Fall dar: Es dürfte sich um das erste nach einem literarischen Muster verwirklichte Gebäude handeln, denn sein Vorbild ist weniger die seit dem Mittelalter zerstörte Burg, auf deren Fundamente das Schloss steht, sondern Wilhelm Hauffs 1826 veröffentlichter Roman Lichtenstein.
In einem Dreischritt – von Gustav Schwabs Romanze Schloß Lichtenstein und ihrem Kontext in seinem Reiseführer Die Neckarseite der Schwäbischen Alb über Wilhelm Hauffs Roman Lichtenstein zu dem von Wilhelm von Württemberg erbauten Schloss – sollen die Verwandlungen einer aus einer alten Chronik genommenen poetisch-historischen Idee in eine Romanze, dann in einen Roman und schließlich in das reale, freilich durch und durch von Poesie und Geschichte geprägte Schloss, das seine literarischen Vorstufen alle inkorporiert, dargestellt werden.
1. Gustav Schwabs Lichtenstein-Romanze
Am 18. August 1816 – rund zehn Jahre vor Erscheinen von Wilhelm Hauffs Roman – veröffentlichte das Morgenblatt für gebildete Stände als fünfte in einer Reihe von Proben Württembergischer Sagen das folgende Gedicht von Gustav Schwab:
Schloß Lichtenstein
In einem tiefen, grünen Thal
Steigt auf ein Fels, als wie ein Strahl,
Drauf schaut das Schlößlein Lichtenstein
Vergnüglich in die Welt hinein.
In dieser abgeschiednen Au,
Da baut’ es eine Ritterfrau;
Sie war der Welt und Menschen satt,
Auf den Bergen sucht sie eine Statt.
Den Fels umklammert des Schlosses Grund,
Zu jeder Seite gähnt ein Schlund,
Die Treppen müssen, die Wände von Stein,
Die Böden ausgegossen sein.
So kann es trotzen Wetter und Sturm;
Die Frau wohnt sicher auf ihrem Thurm,
Sie schauet tief ins Thal hinab,
Auf die Dörfer und Felder, wie ins Grab.
„Die blaue Luft, der Sonnenschein,
Spricht sie, der Wälder Klang ist mein,
Eine Feindin bin ich aller Welt,
Zu Gottes Freundin doch bestellt.“
Mit diesem Spruch sie lebt’ und starb,
Davon das Schloß sich Ruhm erwarb,
Drauf wohnte manch ein Menschenfeind,
Und ward in der Höhe Gottes Freund!
Und als vergangen hundert Jahr,
Ein Menschenfeind auch droben war;
Lang hatt’ er an keinen Menschen gedacht:
Da pocht’ es einsmals an zu Nacht.
„Es ist ein einzger vertriebner Mann,
Der Welt Feind wohl er sich nennen kann,
Herr Ulrich ists von Württemberg,
Zu Gaste will er auf diesen Berg.“
Der Andre hat ihm aufgemacht,
Er nimmt des Fürsten wohl in Acht;
Er zeiget ihm das finstre Thal,
Das weit sich dehnt im Mondenstrahl.
Der Herzog schaut hinunter lang,
Er spricht mit einem Seufzer bang:
„Wie fern, ach, von mir abgewandt,
Wie tief, wie tief liegst du, mein Land!“
„Auf meiner Burg, Herr Herzog, ja!
Ist Erde fern, doch Himmel nah;
Wer schaut hinauf, und wohnt nicht gern
Im Himmelreich von Mond und Stern?“
Da hebt der Herzog seinen Blick,
Und sieht nicht wieder aufs Land zurück;
Von Nacht zu Nacht wird er nicht satt,
Bis er es recht verstanden hat.
Und als nach manchem schweren Jahr
Er wieder Herr vom Lande war,
Da hat er alles wohl bestellt,
Und hieß ein Freund von Gott und Welt.
Wie hat er erworben solche Gunst?
Wo hat er erlernet solche Kunst?
In des Himmels Buch, auf Lichtenstein,
Da hat ers gelesen im Sternenschein.
* * *
Das Schloß zerfiel, es ward daraus
Ein leichtgezimmert Försterhaus;
Doch schonet sein der Winde Stoß,
Meint, es sey noch das alte Schloß.
Und einsam ist es jetzt nicht mehr,
Es kommt der Gäste fröhlich Heer;
Sie kommen aus einer Höhl’ ans Licht,
Doch Menschenfeinde sind es nicht.
Manch holdes Mädchenangesicht
Läßt leuchten seiner Augen Licht,
Da führt mit Recht in solchem Schein
Das Schloß den Namen Lichtenstein.
Die Männer stolz, die Mägdlein frisch,
Sie sitzen All’ um Einen Tisch,
Die Erde lächelt herauf so hold,
Es strahlt am Himmel der Sonne Gold.
Sie spenden von des Weines Thau
Dem Herzog und der Edelfrau,
Sie bitten sie, dieß Schlößlein gut
Zu nehmen in ihre fromme Hut.
Und ziehn sie ab, mit einer Brust
Voll Gotteslieb’ und Menschenlust,
Dann steht im späten Sternenschein
Einsam und seelig der Lichtenstein. [1]
Im Kern des Gedichts steht eine Sage aus der Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem charakterlich unberechenbaren und aufbrausenden württembergischen Herzog Ulrich (1487–1550) und dem Schwäbischen Bund – dem Zusammenschluss der Schwäbischen Reichsstände –, den Ulrich 1512 verlassen hatte, um einen ‚Kontrabund‘ zu gründen. Wenig später belegte Kaiser Maximilian I. den Herzog mit der Reichsacht, nicht nur wegen dessen gegnerischer Stellung zum Schwäbischen Bund, sondern auch weil Ulrich sich mit seiner Frau Sabina (einer Nichte des Kaisers) überworfen und den Ehemann seiner Geliebten Ursula Thumb von Neuburg getötet hatte – in Schwabs Gedicht erscheint er daher sowohl als „vertriebne[r] Mann“ wie auch als „[d]er Welt Feind“. Die Quelle für Schwabs Romanze ist die deutsche Übersetzung von Martin Crusius’ 1595 erschienenen Annales Suevici durch Johann Jacob Moser (1738). Dort heißt es:
„Einen Stuck-Schuß weit von Holzelfingen, gegen Mittag siehet man das Schloß Lichtenstein, welches nicht groß ist, und auf einem Felsen ligt, so daß die untere Zimmer in den Felsen gehauen sind. Dieses hat, wie man sagt, eine alte Edel-Frau erbauet; man weißt aber nicht, wer sie gewesen und zu welcher Zeit sie gelebt. Doch ist von alten Leuthen erzehlt worden, daß sie, da der Bau zu Ende war, gesagt habe: Nun bin ich Gottes Freundin, aber der gantzen Welt Feindin. Denn sie glaubte, sie sey nun wieder jedermann in demselben sicher. Dieses Schloß ist von den andern abgesondert, auf welche eine lange Brücke geht, unter der ein sehr tieffer Graben ist, und auf beyden Seiten sind Felsen, die lange Laitern zum hinauffsteigen nöthig haben. Auf dem äussersten Theil des Felsen stehet das Schloß, vor sich, über der Brücke hat es Wälder, auf der andern Seite lustige Gärten, Wiesen und Aecker. […] Im obern Stockwerk ist eine überaus schöne Stuben oder Saal, rings herum mit Fenstern, aus welchen man biß an den Asperg sehen kann: Darinn hat der vertriebene Fürst, Ulrich von Württemberg, öfters gewohnt, der des Nachts vor das Schloß kam und nur sagte: Der Mann ist da; so wurde er eingelassen. […] Das Schloß hat im vordern Theil, gegen Aufgang, ein schröckliches Absehen, wegen der Gähe, daß wenig sind, die hinab sehen können und sich nicht fürchten.“ [2]
Wie auch Crusius verortet Schwab die Ursprünge des Schlosses Lichtenstein in einer mythischen Vorzeit, in der „eine Rittersfrau“ das „Schlößlein“ erbaut hat: Mit ihr beginnt eine lange Genealogie von misanthropischen Bewohnern des Schlosses, die in das untenliegende Tal „wie in’s Grab“ blicken, aber durch den Blick nach oben, in die „blaue Luft“ und den „Sonnenschein“, zu Freunden Gottes werden – auch dieser Gegensatz von der Schroffheit der Lage auf dem Felsen und seinem heiteren Anblick von der Ebene der Albfläche aus findet sich bereits bei Crusius. Das gilt auch für die nächtlichen Besuche des Herzogs Ulrich. Dass sich Schwab das griffige „Der Mann ist da“ entgehen lässt, verwundert; mit Blick auf Hauffs Roman ist seine Aufladung des Gegensatzes von Unten und Oben jedoch wichtig: Ulrich, der in Schloss Lichtenstein Aufnahme verlangt, ist „[d]er Welt Feind“. Dies ist aber, wie im weiteren Verlauf der Romanze deutlich wird, nicht in der Abwendung des Herzogs von der Welt begründet, sondern in der Feindschaft seines Landes zu ihm. Die Tatsache, dass er verjagt worden ist, wird mit dem Blick ins Tal verbunden, dessen ‚Tiefe‘ nun nicht nur eine räumliche, sondern auch eine moralische zu sein scheint: „Wie tief, wie tief liegst du, mein Land!“ Der kathartische Blick in den Lichtensteiner (Nacht-)Himmel führt dazu, dass ihm nun beides gelingt: die Freundschaft zu Gott und die Versöhnung mit der „Welt“, also seinen württembergischen Untertanen.
Nach den drei Asterisken schwenkt Schwabs Gedicht in die sorglose württembergische Gegenwart: Das Schloss ist zerfallen, an seiner Stelle steht nun ein „leichtgezimmert Försterhaus“ (dazu später mehr). Das Szenario ist für den mit württembergischen Verhältnissen nicht vertrauten Leser kaum zu verstehen: Geschildert wird das gesellige Zusammenkommen beim Försterhaus nach der alljährlichen festlichen Illumination der nahegelegenen Nebelhöhle, einer Tropfsteinhöhle, die bereits im 15. Jahrhundert bekannt war und heute noch zu den wichtigsten Touristenattraktionen der Schwäbischen Alb zählt. Von dort aus kann man den Lichtenstein bequem zu Fuß erreichen. [3]
Sieben Jahre später fügt Schwab das Gedicht – nun mit dem Titel Romanze – in sein Buch Die Neckarseite der Schwäbischen Alb ein, [4] das als einer der ersten modernen Reiseführer gelten kann. [5] Schwab führt seine Leser darin in insgesamt zehn „Reisetagen“ am nördlichen Rand der Schwäbischen Alb entlang, von Balingen und dem Lochen im Westen bis nach Schwäbisch Gmünd und Lorch im Osten. Das mit Kupferstichen illustrierte Buch (weitere Stiche waren separat zu erwerben) bietet Wegbeschreibungen der einzelnen Tagestouren mit genauen (aus heutiger Perspektive hoffnungslos optimistischen) Zeitangaben sowie Hinweise auf sehenswerte Umwege oder Gasthäuser, Angaben zu möglichen Führern und Schlüsselhaltern oder zu anfallende Kosten etc. Diese praktischen Informationen wechseln sich mit literarisch gestalteten Abschnitten ab: Naturschilderungen (zahlreiche Blicke von den Erhöhungen herab ins umliegende Land), Beschreibungen der Altertümer und Sehenswürdigkeiten, Erzählungen zur Orts- und Landesgeschichte sowie Sagenüberlieferungen, die nicht selten – wie im Falle des Lichtensteins – in Versen gestaltet sind und zum überwiegenden Teil von Schwab selbst stammen.
Den Lichtenstein erreicht Schwab vom westlich gelegenen Gönningen aus über den Gipfel des Rossbergs und den Gang auf der Albfläche zur ausführlich beschriebenen Nebelhöhle. [6] Die Beschreibung des „Lichtensteiner Schlößchen[s]“ (wie im Gedicht mit Diminutiv) entspricht mit dem stark hervorgehobenen Gegensatz von dunkler Tiefe und hell-heiterem Schloss ungefähr der des Gedichts: Der Wanderer finde dort „aus einem tief aufgerissnen Albthal, einen senkrechten Felsen aufsteigen […], auf dessen Spitze das lustige Schlößchen wie ein Vogelnest hängt, und mit den Grundmauern eines zerstörten Schlosses verwachsen ist.“ [7] Der Autor tritt in dieser Stelle ungewöhnlich in den Vordergrund: „So viel verschiedne Lichter und Töne, so manchfaltige Charaktere der Natur, Schönheit, Erhabenheit und Anmuth gepaart, und doch alles zusammenstimmend; keine langweilige Parthie, kein gedehnter, gezogener, unmahlerischer Fleck; – wirklich, hier wagt es der schüchterne Wegweiser aus vollem Munde zu preisen.“ [8] Aus Crusius zitiert Schwab anschließend die Beschreibung des Schlosses, [9] aber nicht den Verweis auf Herzog Ulrichs Aufenthalt dort. Den erzählt er seinen Lesern mit der bereits zitierten Romanze, die er als Zusammenfassung dessen ankündigt, „[w]as die Tradition noch weiter von Lichtenstein erzählt“. [10]
Schwabs Romanze überzeugt mit ihrer Dreiteilung – Ritterfräulein, Herzog Ulrich, Gegenwart – als selbständiges Kunstwerk nur wenig. In seinem Reiseführer funktioniert das Gedicht besser, weil es, wie das ganze Buch, die Verbindung von Landschaft und Architektur, Sage und Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart des wandernden Lesers zum Grundprinzip seiner Struktur macht. Auf eine andere Weise geschieht dies wenig später bei Wilhelm Hauff.
2. Wilhelm Hauffs Lichtenstein-Roman
Wilhelm Hauffs Roman Lichtenstein ist der erste deutsche historische Roman nach dem Muster der Romane von Walter Scott, [11] die bekanntlich einen ‚mittleren Helden‘ als Hauptperson haben; die einerseits die historischen Ereignisse nicht vorantreiben, sondern von ihnen getrieben werden, andererseits in ihrer Art zu denken eher in die Gegenwart des Autors zu gehören scheinen als in die geschilderte Vergangenheit. Der Leser eignet sich dabei historisches Wissen durch die Identifikation mit dieser nicht-historischen, sympathischen, aber weitgehend passiven Figur an.
Dieser ‚mittlere Held‘ – dem das Heldenhafte eigentlich abgeht [12] – heißt in Lichtenstein Georg Sturmfeder und gerät in die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Schwäbischen Bund und Herzog Ulrich von Württemberg. Der Roman spielt im Jahr 1519: [13] In der Freien Reichsstadt Ulm sammeln sich die Bündischen, um das von Ulrich unterworfene Reutlingen zu befreien. Georg will auf der Seite des Bundes in den Kampf ziehen, um sich durch Tapferkeit seine Geliebte Marie von Lichtenstein zu sichern. Allerdings erfährt er, dass Maries Vater ebenso wie sie auf der Seite des Herzogs steht – Georg wechselt also bereitwillig die Lager. Der (ebenfalls fiktive) Pfeifer von Hardt bietet Georg an, ihn aus dem Bannkreis der Bündischen nach Württemberg zum Lichtenstein und zu seiner Geliebten zu führen. Auf dem Weg dorthin erfährt Georg, dass sich dort der Herzog versteckt hält, tagsüber in der Nebelhöhle, nachts auf dem Schloss. Es gelingt Georg, Ulrichs Vertrauen zu gewinnen. In den folgenden Kämpfen können die württembergischen Truppen die Hauptstadt Stuttgart zurückzuerobern, was der Lichtensteiner zur Bedingung für die Hochzeit seiner Tochter mit Georg gemacht hatte: Sie wird in Stuttgart festlich begangen. Der Krieg jedoch geht weiter, die Württemberger verlieren in der Schlacht bei Esslingen, der Herzog kann mit einem kleinen Trupp – darunter Georg und der Pfeifer – fliehen, gerät jedoch auf der Neckarbrücke in Köngen in einen Hinterhalt: Der Pfeifer kommt dabei ums Leben, der Herzog rettet sich in den Fluss. Georg, der die Rüstung des Herzogs trägt, wird verhaftet und kommt nur durch die Fürsprache des (historischen) Georg von Frondsberg, der sich bereits in Ulm für Georg eingesetzt hatte, frei – seine Strafe ist in der Logik des Romans eigentlich keine: Hausarrest auf dem Lichtenstein.
Der Held des Romans, obwohl tapfer und selbstbewusst, bleibt bei allen bedeutenderen seiner Handlungen auf andere – den Herzog, den Lichtensteiner, den Pfeifer von Hardt, Frondsberg – angewiesen. Auch seine Liebesgeschichte bleibt undramatisch, sie geht ohne größere Hindernisse leicht ihrem guten Ende zu; kleinere Anfechtungen wie der Verdacht, dass Marie eine „lose Dirne“ sein könnte, [14] oder die kurz aufblitzende Möglichkeit, der Herzog könnte das Recht der ersten Nacht für sich in Anspruch nehmen, [15] werden schnell aus dem Weg geräumt.
Jenseits seiner Handlung hat der Roman offensichtlich auch eine archivalische und dokumentarische Funktion: Er soll so viel Württemberg wie möglich enthalten. So wird die Region, ähnlich wie die „Neckarseite der Schwäbischen Alb“ bei Schwab, von der Hauptfigur durch Unterwegssein erfahren (allerdings in die entgegengesetzte Richtung, von Ost nach West [16]). Die Wanderungen geben Hauff die Möglichkeit, verschiedene Städte, Dörfer und Landschaften vorzustellen, unterschiedliche Schichten und ihre politischen Haltungen (Adel, Bürger, einfaches Volk, historische Gestalten) zu charakterisieren sowie verschiedene Arten der Rede (Hochdeutsch, schwäbischer Dialekt u. a.) zu zeigen. Scherzworte fallen, Volkswitz zeigt sich, Sagen werden erzählt, Minnelieder gesungen [17] und vieles andere mehr. Einen weiteren Kontext bieten die Paratexte: Die Motti vor jedem der 36 Kapitel stammen aus Gedichten von Schiller, Uhland, Schwab, Schubart sowie anderen württembergischen Dichtern und bilden eine kleine Literaturgeschichte des Landes in repräsentativen Versen; Hauffs eigene „Anmerkungen“ zu seinem Text am Ende des Buches [18] verorten den Roman darüber hinaus in der schwäbisch-württembergischen Geschichtschreibung. Als Vertreter und Träger des Württembergischen erscheint immer wieder der Pfeifer von Hardt, der sich überall auskennt, bei dem viele Fäden zusammenlaufen, der im Hintergrund wirkt. Mehr noch als der blasse Georg oder der unberechenbare Herzog [19] scheint er die Hauptfigur des Romans zu sein. [20] Vielleicht ist die Hauptfigur des Romans ja aber auch der stoische Lichtenstein, in dem alle wichtigen Akteure sich mindestens einmal aufhalten und der so im Zentrum württembergischer, herrschaftlicher und privater Geschichte steht. Wie auch der Schwab’sche Wanderer gelangt Georg nur über den Umweg zur Nebelhöhle dorthin. In die Höhle, zum in der Tiefe versteckten Herzog Ulrich, führt ihn der Pfeifer von Hardt bei Nacht – als Träger der württembergischen Überlieferung weiht er Georg in die Urgeschichte des Lichtensteins und seiner Errichtung durch jene misanthropische Frau ein. [21]
Das Kapitel, in dem Georg schließlich bei Tag zu Schloss Lichtenstein gelangt (genau in der Mitte des Romans), hat die erste Strophe aus Schwabs Romanze als Motto; [22] auf die Beschreibung des Schlosses bei Crusius verweist eine Anmerkung Hauffs am Ende des Romans. [23] Aber auch ohne diese Rahmung fallen die Parallelen von Hauffs Beschreibung und denen seiner beiden Vorgänger ins Auge:
„Georg hatte indes Zeit genug, das Schloß und seine Umgebungen zu betrachten. War ihm schon in der Nacht, beim ungewissen Schein des Mondes und in einer Gemütsstimmung, die ihn nicht zum aufmerksamsten Beobachter machte, die kühne Bauart dieser Burg aufgefallen, so staunte er jetzt noch mehr, als er sie vom hellen Tag beleuchtet, anschaute. Wie ein kolossaler Münsterturm steigt aus einem tiefen Albtal ein schöner Felsen, frei und kühn, empor. Weitab liegt alles feste Land, als hätte ihn ein Blitz von der Erde weggespalten, ein Erdbeben ihn losgetrennt, oder eine Wasserflut vor uralten Zeiten das weichere Erdreich ringsum von seinen festen Steinmassen abgespült. Selbst an der Seite von Südwest, wo er dem übrigen Gebirge sich nähert, klafft eine tiefe Spalte, hinlänglich weit, um auch den kühnsten Sprung einer Gemse unmöglich zu machen doch, nicht so breit, daß nicht die erfinderische Kunst des Menschen durch eine Brücke die getrennten Teile vereinigen konnte. Wie das Nest eines Vogels auf die höchsten Wipfel einer Eiche oder auf die kühnsten Zinnen eines Turms gebaut, hing das Schlößchen auf dem Felsen. Es konnte oben keinen sehr großen Raum haben, denn außer einem Turm sah man nur eine befestigte Wohnung, aber die vielen Schießscharten im unteren Teil des Gebäudes, und mehrere weite Öffnungen, aus denen die Mündungen von schwerem Geschütz hervorragten, zeigten, daß es wohlverwahrt und trotz seines kleinen Raumes eine nicht zu verachtende Feste sei; und wenn ihm die vielen hellen Fenster des oberen Stockes ein freies, luftiges Ansehen verliehen, so zeigten doch die ungeheuren Grundmauern und Strebepfeiler, die mit dem Felsen verwachsen schienen, und durch Zeit und Ungewitter beinahe dieselbe braungraue Farbe, wie die Steinmasse, worauf sie ruhten, angenommen hatten, daß es auf festem Grunde wurzle, und weder vor der Gewalt der Elemente noch dem Sturm der Menschen erzittern werde. Eine schöne Aussicht bot sich schon hier dem überraschten Auge dar, und eine noch herrlichere, freiere, ließ die hohe Zinne des Wartturms und die lange Fensterreihe des Hauses ahnen.“ [24]
Das titelgebende Schloss steht im Gefüge des Romans ebenso im Zentrum wie in der Karte des damaligen Württembergs; dazu steht es zwischen Himmel und Erde (wie schon bei Schwab), zwischen Gott und seinen württembergischen Untertanen. Die Nebelhöhle ergänzt dieses Verhältnis von Oben und Unten um eines von Darüber und Darinnen: Herzog Ulrichs nah beieinanderliegende Fluchtorte zeigen ihn abwechselnd als Herrscher über und in Württemberg.
Das Historische in Hauffs Roman ist mitunter fragwürdig: [25] Sein Untertitel „Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte“ macht jedoch von Anfang an die für den historischen Roman übliche Verbindung von geschichtlichem Wissen und fiktiver Geschichte deutlich. Wichtig an Hauffs Roman ist der Bezug zur eigenen Gegenwart. [26] Dieser wird spätestens gegen Ende des Textes offensichtlich: Vor der Entscheidung in Köngen und nach der feindlichen Zerstörung der Stammburg seines Geschlechts auf dem Württemberg erzählt der Herzog seinen Getreuen einen Traum: Er habe von dem Rotenberg, auf dem die Stammburg stand, in das Tal und das umliegende Land geblickt, es habe ihm wie ein einziger großer Garten geschienen; ein seinem Bruder [27] ähnlich sehender Mann habe einem Knaben auf dem Berg Verschiedenes gezeigt. [28] Traum-Ulrich fragt, wer das gewesen sei. Die Antwort: „Das war der König“! [29]
Von dieser Vision aus der tiefsten Erniedrigung in eine friedliche prosperierende Zukunft aus lässt sich Hauffs Roman durchaus als Nationalepos lesen. Wie die antiken Epen – man danke an Vergils Aeneis – macht er seinen Lesern in einem traumhaften Blick auf die eigene Gegenwart die genealogische Kontinuität des eigenen Herrscherhauses auf beruhigende Weise bewusst. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Roman als Legitimationsversuch des neuen Königreiches Württemberg lesen, das aus langwierigen Verfassungskämpfen in den Jahren 1815–1819 gestärkt hervorgegangen war. [30] Da das Königreich Württemberg sehr jung war (die Württemberger verdankten es Napoleon), betont der Roman das Alter seines Herrscherhauses. Die wichtigen Figuren des Werks zeichnen sich vor allem durch ihre Loyalität zu Ulrich aus, dessen legitimer Herrschaftsanspruch trotz seines stellenweise zweifelhaften Charakters nicht in Frage gestellt wird. Die Loyalität gilt daher eher dem Haus Württemberg als seinen Vertretern. Lichtenstein ist ein durch und durch konservativer Roman und daher ein typisches Produkt der Literatur der Restaurationszeit; seine Tendenz deckt sich mit den meisten anderen historischen Romanen, die ihm in Deutschland nachfolgten.
Der Romanschluss knüpft an das Ende von Schwabs Romanze an: Auch hier springt der Text in die Gegenwart zu der „schönen Sitte“ der „Bewohner dieses Landes“, in der Pfingstzeit zur illuminierten Nebelhöhle zu pilgern, um danach auf dem Lichtenstein bei „Gesang und Jubel“ ihr „gesegnetes Vaterland zu preisen“. Dabei würden, so insinuiert Hauff , auch die Gestalten seines Romans – die „Geister des Lichtenstein“ [31] – geweckt, um mit den späten Besuchern dieses Ortes in Kontakt zu treten.
Hauffs Lichtenstein war ein sofortiger Erfolg. Sein Ruhm hielt bis weit ins 20. Jahrhundert an, wie zahlreiche illustrierte Ausgaben zeigen; wie Gustav Schwabs Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums wurde er zu einem beliebten Konfirmationsgeschenk, auch zahlreiche Postkarten, die zentrale Szenen aus dem Roman gestalteten, waren beliebt. [32] Seit seinem ersten Erscheinen war er ununterbrochen lieferbar.
3. Schloss Lichtenstein
Der Schöpfer von Schloss Lichtenstein ist Graf Wilhelm von Württemberg, später Herzog von Urach (1810–1869). [33] Dass es dieses Schloss ohne seine literarischen Vorläufer, besonders Hauffs Roman, geben würde, ist undenkbar. Wilhelm war ein Neffe des württembergischen Königs Friedrich I.; sein Bruder, Alexander Graf von Württemberg (1801–1844) veröffentlichte von Lord Byron und Nikolaus Lenau beeinflusste Gedichte und scharte im Schlösschen Serach bei Esslingen einen kleinen Dichterkreis um sich. Anders als dieser schlug Wilhelm eine militärische Laufbahn ein. Er war ehrgeizig, verfasste militärhistorische Schriften und trieb wehrtechnische Forschungen, nach vierzig Jahren ging er als General der Infanterie in den Ruhestand. Daneben machte er sich auf den Gebieten der Geschichtsforschung, der schönen Künste und der Naturwissenschaften einen Namen, war Mitgründer und erster Vorsitzender des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins (1843) sowie des Vereins für Vaterländische Naturkunde (1845); bereits 1845 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen verliehen. Darüber hinaus veröffentlichte er anonym eine Sammlung mit Gedichten, [34] den ersten Band eines auf sechs Bände angelegten Wegweiser durch sämtliche Malerschulen und Gemälde-Sammlungen [35] sowie nach 1848 zahlreiche politische Schriften. [36]
Wilhelms verschiedene Aktivitäten laufen in dem von ihm beauftragten und mitgeplanten Bau des Schlosses Lichtenstein zusammen. Das Schloss befindet sich auf dem sagenhaft-historischen Ort, auf dem es Crusius beschrieben, Schwab und Hauff literarisch imaginiert haben. 1837 erwarb Wilhelm den Lichtenstein mitsamt dem umliegenden Areal und ließ das dortige Forsthaus abreißen. Das Schloss – als Vorbild dürfte etwa das von Ludwig I. von Bayern 1837 neu gestaltete Schloss Hohenschwangau gedient haben – ist ein Gemeinschaftswerk des aus Stuttgart stammenden, in Nürnberg tätigen Carl Alexander Heideloff (1789–1864) [37] und des Reutlinger Bauinspektors Johann Georg Rupp (1797–1883), dessen Entwürfe Heideloff überarbeitete. Heideloff, der bereits die Veste Coburg und die Kaiserburg in Nürnberg restauriert hatte, teilte mit Wilhelm die Vorliebe für die Kunst und Architektur des Mittelalters. Ihm ist die heutige Silhouette des Schlosses auf dem Felsen zu verdanken – die schlanke Gestalt des Schlossbaus wie auch die Höhe des Turms: Lichtenstein wurde im wahrsten Sinne des Wortes als ein „Luftschloß“ [38] errichtet, dessen Position auf dem Fels kalkuliert auf verschiedene Blicksituationen aus dem Tal und bestimmte Orte der umliegenden Berge ausgerichtet worden ist. [39]
Ein von Wilhelm stammendes Gedicht im Eingangsbereich beim Aufgang zum Turm macht das historisch-politische Programm des Schlosses Lichtenstein deutlich, indem es an die Geschichte des Ortes gebunden wird:
Eine Wart aus der Römerzeit
stand vom Schlösslein gar nicht weit
Feuerzeichen brannten dort,
bis die Römer mußten fort.
Ritter nisten drauf sich ein
nannten drum sich Lichtenstein,
legten diese Burg hier an
mussten manchen Strauß erstahn.
Weiland Herzog Ulrich fand,
hier allein noch Schutz im Land.
Drauf schaut ich als Jägershaus
freundlich in die Welt hinaus,
bis Graf Wilhelm mich erneut;
hat verursacht manchen Streit
doch bis jetzt ihn nicht gereut. [40]
Die humorvoll leicht gebrochenen Verse datieren etwas fragwürdig die Genealogie des Ortes bis in die Römerzeit zurück und ziehen von dem vage bleibenden „Ritter“ über Herzog Ulrich die Linie bis hin zu Wilhelm von Württemberg selbst. Von den literarischen Vorlagen übernimmt das Gedicht die Lichtmetaphorik (das Feuer, das Spiel mit dem Namen Lichtenstein); auch die Helligkeit und Freundlichkeit des Ortes werden aufgegriffen, stehen allerdings nicht mehr im Kontrast zur Dunkelheit und Feindlichkeit des unten liegenden Landes, sondern zur kriegerischen Kampfeslust der Bewohner des Lichtenstein selbst (worauf jeweils genau angespielt wird, bleibt unklar). Tatsächlich ist das Kriegerische – das bei Hauff vor allem in der Ferne stattfindet – nun ein Teil des Ortes, denn der an Militärtechnik interessierter Erbauer ließ das Gebäude mit umfangreichen Wehranlagen umgeben, die eher dem Standard des 19. Jahrhunderts als dem des Mittelalters entsprechen. [41]
Alle Aspekte, die die schriftliche Überlieferung zum Lichtenstein von Crusius bis Hauff bereithält, werden im Gebäude des Schlosses und in seiner Ausstattung vereint. Ein auf Anregung Wilhelms von dem Pfarrer Carl Christoph Gratianus (1780–1852) verfasstes Buch Die Ritterburg Lichtenstein, Landsitz Sr. Erlaucht Graf Wilhelm von Wirtemberg. Vergangenheit und Gegenwart (1844) hält Wilhelms Leistung fest, indem es sowohl die Geschichte wie die Baugeschichte des Ortes erzählt und eine ausführliche Darstellung der äußeren Anlagen und der Innenräume des Schlosses liefert. [42]
Das Schloss erfüllt eine ähnliche Archivfunktion wie Hauffs Roman. Im Zentrum der unteren Räume des Schlosses steht die württembergische Geschichte: So befinden sich in der Königsstube wie im großen Rittersaal neben dem Porträt des Erbauers weitere Gemälde bzw. Medaillons der württembergischen Herrscher bis ins 16. Jahrhundert; dazu kommen zahlreiche Porträtbüsten, Bildnisse und im Wappenzimmer einschlägige Wappenschilde. Wilhelm stammte aus einer Nebenlinie ohne realistische Aussichten auf den württembergischen Thron. Daher beschränkte er seine Ambitionen auf eine erfolgreiche militärische Karriere und auf die Hoffnung, zum Herzog ernannt zu werden, was ihm allerdings erst 1867 gelang. Es ist offensichtlich, dass er sich mit dem auf Lichtenstein betriebenen Ahnenkult seinen Platz in der Reihe der großen Namen seines Geschlechts schon zu Lebzeiten sichern wollte.
Weitere Räume des Schlosses haben eine stärker museale Funktion, beispielsweise die Schlosskapelle. Hier und in den anderen Räumen fanden Gemälde – mittelalterliche Originale oder neue Kopien, Waffen, Rüstungen und andere ‚Altertümer‘ – ihren Platz. An der Außenfassade wurden die Skulpturen des 1593 fertiggestellten und 1845 weitgehend abgebrochenen Neuen Lusthauses in Stuttgart angebracht. [43] Auch die Poesie hatte an den Wänden des Schlosses ihren Ort: Neben dem bereits oben zitierten Gedicht sind in zwei Räumen „kernhafte“ Sprüche angebracht, 24 in der Trinkstube, 16 im Rittersaal; [44] auch ein auf die Wand geschriebenes Gedicht des Dichters Justinus Kerner konnte das Schloss aufweisen. [45] Im Turm gab es fünf Kabinette, die teils Archivfunktion hatten – Waffenkabinett, Bibliothek etc. [46] –, teils den wissenschaftliche Interessen des Erbauers dienten, wie das Observatorium für astronomische Studien – der Blick nach Oben zu Gott in Schwabs Romanze findet hier sein naturwissenschaftlich entzaubertes Echo. Schloss Lichtenstein war bei Wilhelm von Württemberg sicherlich nicht mehr der Ort eines Menschenfeindes. Im Gegenteil: Das Leben dort war gesellig – dazu dienten die Trinkstrube sowie zahlreiche Jagdausflüge. [47] Dichter (Gustav Schwab und Justinus Kerner [48]), Komponisten (Peter Joseph von Lindpaintner, der 1846 eine Lichtenstein-Oper komponiert hatte) und der Unternehmer Friedrich von Zeppelin besuchten das Schloss. [49]
Als architektonische Gestaltung eines Romans und seines historischen Raumes ist Schloss Lichtenstein in seiner Zeit singulär. Gleichzeitig ist es aber Teil eines Trends, verschiedene Aspekte des Mittelalters architektonisch wieder auferstehen zu lassen. Neben Schloss Hohenschwangau gehört dazu eine große Zahl restaurierter mittelalterlicher Burgen und Kirchen (mit den prominentesten Beispielen in Köln, Mailand und Ulm); die von Victor Hugos Notre Dame de Paris angeregte Restaurierung der gleichnamigen Kathedrale durch Viollet-le-Duc (ab 1844) kommt dabei Herzog Wilhelms Lichtenstein vielleicht am nächsten. Der Höhe- und Schlusspunkt dieser Mode dürfte das 1869 von Ludwig II. von Bayern begonnene Schloss Neuschwanstein darstellen.
* * *
Sind Hauffs Lichtenstein und Wilhelms gleichnamiges Schloss nun eigentlich Werke der Romantik? Der Roman zumindest trägt das Wort „romantisch“ im Untertitel. Stefan Neuhaus versteht Hauffs Verwendung des Wortes weniger als Referenz auf die ‚romantische Poesie‘ der Frühromantik, sondern als einen Rückgriff auf den Sprachgebrauch des 18. Jahrhundert, in dem man als ‚romantisch‘ grundsätzlich alles das bezeichnete, was die Welt des Mittelalters betraf, auch als Verweis auf die Überlieferungen aus dem Mittelalter, also auf „roman“, „Romanze“ oder „Romance“. [50] Auch moniert Neuhaus – sicherlich zu Recht –, dass Lichtenstein eine „transzendentale Ebene“ [51] fehle und argumentiert daher, dass der Roman weder zur Romantik noch zum zeitlich näherliegenden Biedermeier gehöre, sondern eigentlich bereits auf den Realismus vorausweise. [52]
Von solchen im Grunde fruchtlosen Rubrizierungsfragen abgesehen lässt sich festhalten, dass Schwabs, Hauffs und Wilhelms ‚Lichtensteine‘ jeweils und in zunehmendem Maß rückwärtsgewandt und konservativ sind: Sie beschwören eine vergangene Welt als ein Ideal und gestalten es sich aus. Gerade Wilhelms Schloss, das ja nicht nur eine mittelalterliche Welt künstlich in einer gegenwärtigen realisiert und eine herzogliche Synthese von verschiedenen Künsten, Geselligkeit und Poesie ist, entspricht aber doch eigentlich der frühromantischen Programmatik. Allerdings scheint das, was Friedrich Schlegel im 116. Athenäumsfragment einst als „progressive Universalpoesie“ entworfen hatte, bei Wilhelm im wahrsten Sinne des Wortes erstarrt zu sein. Und auch Hauff scheint trotz seines Gegenwartsbezugs nicht an eine Zukunft zu denken; tatsächlich ist sein Roman von einem fundamentalen Geschichts-pessimismus geprägt. [53]
Die heutigen Besucher des Schlosses – im Jahr 2019 waren es rund 150.000 [54] – scheren solche Debatten über die Romantik und ihre Grenzen nicht; auch den Roman dürfte nur ein Bruchteil von ihnen kennen, geschweige denn die Romanze Gustav Schwabs. Die Rezeption des Schlosses erfolgt mittlerweile weltweit; es gibt Nachbauten etwa in China und Südafrika, die Lichtenstein-Fotos in den sozialen Medien sind unzählbar geworden: Es sind genau jene bereits von seinen Architekten kalkulierten Blicke. Die herzogliche Familie von Urach bewirbt ihr Schloss mit dem Slogan „Zeit für Romantik in einer Welt voller Technik“. [55] Dieser galt sicherlich bereits für die Zeit, als Wilhelm von Württemberg das Schloss erbauen ließ, aber er gilt erst recht heute. Der Besuch des Schlosses (übrigens auch die Lektüre des Romans) bietet die Möglichkeit zur vorübergehenden Flucht aus dem Alltag, indem dabei die Sehnsucht nach der heilen Welt des Mittelalters und seiner ‚Romantik‘ (was immer im Einzelnen darunter verstanden wird) gestillt wird. Man kann es bei einem Besuch selbst überprüfen: Lichtensteins Zauber ist einigermaßen unwiderstehlich.
Anmerkungen
[1] Gustav Schwab: „Proben Württembergischer Sagen. V. Schloß Lichtenstein“, in: Morgenblatt für gebildete Stände 207 (1816), S. 825f.
[2] Martin Crusii: [...] Schwäbische Chronick: Worinnen zu finden ist, was sich von Erschaffung der Welt an biß auf das Jahr 1596. in Schwaben, denen benachbarten Gegenden, auch vieler anderer Orten, zugetragen […]. Aus dem Lateinischen erstmals übersetzt, und mit einer Continuation vom Jahr 1596. bis 1733. Bd. 2, […] von Johann Jacob Moser, Frankfurt 1733, S. 426. Die ungewöhnliche Orthographie wurde beibehalten.
[3] Vgl. Topographisch-physische Beschreibung des Nebellochs bey Pfullingen im Churfürstenthum Wirtemberg. Zur Nachricht und Belehrung für Reisende, und Liebhaber der Naturseltenheiten, Stuttgart 1805; Johann Daniel Georg von Memminger: Andenken an Lichtenstein und die Nebelhöhle. Eine freundliche Gabe für deren fröhlichen Besucher, Reutlingen 1834. – Beide Texte sind vor Hauffs Roman erschienen, der die Höhle natürlich auch aus eigener Anschauung gekannt haben dürfte.
[4] Die Neckarseite der Schwäbischen Alb, mit Andeutungen über die Donauseite, eingestreuten Romanzen und andern Zugaben. Wegweiser und Reisebeschreibung von Gustav Schwab nebst einem natur-historischen Anhang von Professor D. Schübler und einer Spezialcharte der Alb, Stuttgart 1823, S. 67ff.
[5] Vgl. die Einleitung von Hans Widmann: „Gustav Schwab, der Verfasser des ersten Albführers“, in: Gustav Schwab: Die Neckarseite der Schwäbischen Alb. Neudruck der ersten Ausgabe von 1823, Tübingen 1960, S. 5–23; Wolfgang Alber: „Unterwegs mit Auge, Kopf und Herz. Eine Einleitung“, in: Gustav Schwab: Landschaftsbilder, eingeleitet und hg. von Wolfgang Alber, Tübingen 2012, S. 9–23.
[6] Vgl. Schwab, Die Neckarseite der Schwäbischen Alb, S. 59–62.
[7] Ebd., S. 63.
[8] Ebd., S. 64.
[9] Ebd., S. 65f.
[10] Ebd., S. 67.
[11] Vgl. Garrett W. Thompson: „Wilhelm Hauff’s Specific Relation to Walter Scott“, in: Publications of the Modern Language Association 26.4 (1911), S. 549–592; zu Hauffs Scott-Lektüren vgl. auch Stefan Knödler: „‚heute geholt und morgen zurükgegeben‘. Ein unbekanntes Desiderienbuch aus der Bibliothek der Tübinger Museumsgesellschaft von 1824 und die Diskussion über den Umgang mit den Romanen Walter Scotts darin. Mit unbekannten Autographen von Wilhelm Hauff und Eduard Mörike“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 70 (2015), S. 247–261.
[12] Vgl. Stefan Neuhaus: Das Spiel mit dem Leser. Wilhelm Hauff: Werk und Wirkung, Göttingen 2002, S. 165.
[13] Vgl. zum historischen Gehalt des Romans und seinen Quellen Max Schuster: Der geschichtliche Kern von Hauffs Lichtenstein, Stuttgart 1904 (= Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte 1).
[14] Wilhelm Hauff: Lichtenstein. Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte. Anmerkungen von Margarete Berg. Nachwort von Paul Michael Lützeler, Stuttgart 1988, S. 171.
[15] Es bleibt bei einem Kuss, vgl. ebd., S. 342ff. Zur reichhaltigen sexuellen und erotischen Aufladung des Romans vgl. Barbara Potthast: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, besonders S. 95–110.
[16] Der Weg Georg Sturmfeders im Lichtenstein gleicht dem, den später Seppe, die Hauptfigur in Eduard Mörikes Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein (1853) hin- und zurücklegt; dieser folgt ungefähr der heutigen B 27 von Stuttgart nach Ulm, während Georg von Ulm über den Umweg zum Lichtenstein nach Stuttgart gelangt.
[17] Walthers von der Vogelweide „Fraget mich jemand, was ist Minne“, Hauff, Lichtenstein. Romantische Sage, S. 66f.
[18] Vgl. ebd., S. 407–412.
[19] Vgl. dazu Neuhaus, Das Spiel mit dem Leser, S. 175–178.
[20] Vgl. zum Pfeifer von Hardt ebd., S. 178–182.
[21] Vgl. Hauff, Lichtenstein. Romantische Sage, S. 210.
[22] Allerdings in der späteren Fassung, wo der erste Vers – sicherlich eine Verbesserung – „Aus einem tiefen grünen Tal“ lautet (ebd., S. 204).
[23] Vgl. ebd., S. 410f. (Anm. 31 zu S. 213).
[24] Ebd., S. 211f.
[25] Vgl. Schuster, Der geschichtliche Kern.
[26] Vgl. Frank Vögele: „‚Hie gut Württemberg allezeit‘. Eine Untersuchung zum politischen Gehalt von Wilhelm Hauffs Roman Lichtenstein“, in: Wilhelm Hauff. Aufsätze zu seinem poetischen Werk. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur, hg. von Ulrich Kittstein, St. Ingbert 2002, S. 83–112, besonders 100–109.
[27] Graf Georg von Württemberg und Mömpelgard ist der Stammvater der späteren Württemberger.
[28] Unter anderem, so war dem zeitgenössischen Leser klar, bezog sich dies auf die 1824 fertiggestellte klassizistische Grabkapelle, die König Wilhelm I. seiner jung verstorbenen Gemahlin Katharina errichtet hatte.
[29] Vgl. Hauff, Lichtenstein. Romantische Sage, S. 386f., das Zitat: S. 387.
[30] Vgl. das Kapitel X: „Uhland, Hegel, Engels – Die Auseinandersetzungen um den Vertrag zu Tübingen im 19. Jahrhundert“, in: 1514. Macht – Gewalt – Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs, hg. von Götz Adriani/Andreas Schmauder, Tübingen 2014, S. 273–289.
[31] Alle Zitate Hauff, Lichtenstein. Romantische Sage, S. 405f.
[32] Vgl. die Dokumentation von Inge Nunnenmacher: „Wilhelm Hauff und sein Roman ‚Lichtenstein‘“, in: Goethezeitportal, www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/wilhelm-hauff.html, abgerufen am 08. März 2023.
[33] Vgl. Romantiker auf dem Lichtenstein. Lebenswelten Herzog Wilhelms von Urach (1810–1869). Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearbeitet von Nicole Bickhoff/Wolfgang Mährle/Eberhard Merk, Stuttgart 2018. Dem Band sind auch die nachfolgenden Informationen zu seiner Biographie entnommen; vgl. Wolfgang Mährle: „Herzog Wilhelm von Urach Graf von Württemberg. Ein biografischer Prolog“, in: ebd., S. 7–12.
[34] [Wilhelm von Württemberg:] Immergrün. Lieder eines fahrenden Ritters [gedruckt verm. 1863].
[35] [Wilhelm von Württemberg:] Wegweiser durch sämtliche Malerschulen und Gemälde-Sammlungen. 1tes Bändchen: Italiener, Stuttgart 1846.
[36] Vgl. Wolfgang Mährle: „Aus der Mappe eines Conservativen. Wilhelms politisches Engagement nach der Revolution von 1848/40“, in: Romantiker auf dem Lichtenstein. Lebenswelten Herzog Wilhelms von Urach (1810–1869). Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearbeitet von Nicole Bickhoff/Wolfgang Mährle/Eberhard Merk, Stuttgart 2018, S. 57–72.
[37] Vgl. Rolf Bidlingmaier: „Schloß Lichtenstein. Die Baugeschichte eines romantischen Symbols“, in: Reutlinger Geschichtsblätter N.F. 33 (1994), S. 113–152; Hans-Christoph Dittscheid: „Erfindung als Erinnerung. Burg Lichtenstein zwischen Hauffs poetischer Fiktion und Heideloffs künstlerischer Konkretisierung“, in: Wilhelm Hauff oder die Virtuosität der Einbildungskraft, in Verbindung mit der Deutschen Schillergesellschaft hg. von Ernst Osterkamp/Andrea Polaschegg/Erhard Schütz, Göttingen 2005, S. 263–298, hier S. 270–275 und 279–283.
[38] Dittscheid, Erfindung als Erinnerung, S. 295.
[39] Vgl. Bidlingmaier, Schloß Lichtenstein, S. 138f.; Dittscheid, Erfindung als Erinnerung, S. 289f.
[40] Zit. nach Carl Christoph Gratianus: Die Ritterburg Lichtenstein, Landsitz Sr. Erlaucht Graf Wilhelm von Wirtemberg. Vergangenheit und Gegenwart, Tübingen 1844, S. 81f.
[41] Vgl. zu Schloss Lichtenstein unter wehrtechnischen Aspekten Christian Ottersbach: Befestigte Schlossbauten im deutschen Bund. Landesherrliche Repräsentation, adeliges Selbstverständnis und die Angst der Monarchen vor der Revolution 1815–1866, Petersberg 2007 (= Studien zur internationalen Architektur- und Kulturgeschichte 53), S. 100–120.
[42] Gratianusm Die Ritterburg Lichtenstein. Gleiches, wenngleich knapper und mit anderen Schwerpunkten leistet [Adolph Boßenmayer:] Schloß Lichtenstein einst und jetzt, Reutlingen 1898. Das jüngste und beste Buch über den Lichtenstein enthält zahlreiche farbige Photographien, auch aus den der Öffentlichkeit sonst nicht zugänglichen Räumen: Katharina Hild/ Nikola Hild: Lichtenstein, Reutlingen 1999.
[43] Vgl. Karl Walcher: Die Skulpturen des Stuttgarter Lusthauses auf dem Schloß Lichtenstein, Stuttgart 1886.
[44] Aufgeführt sind sie in [Boßenmayer], Schloß Lichtenstein, S. 33–36 und 45f.
[45] Zit. ebd., S. 36; datiert ist das Gedicht auf den 19. Januar 1851.
[46] Vgl. ebd., S. 49ff.
[47] Vgl. den Abschnitt „Die Lichtensteiner Jagd“ in Gratianus, Die Ritterburg Lichtenstein, S. 103–106.
[48] Zum Verhältnis von Justinus Kerner zu Wilhelm von Urach vgl. auch Stefan Knödler: „Das Kernerhaus in Weinsberg als Ort literarischer, politischer und spiritistischer Macht“, in: Zentren der Macht in Schwaben, hg. von Sigrid Hirbodian/Katharina Huss/Lea Wegner, Ostfildern 2021 (= landeskundig. Tübinger Vorträge zur Landesgeschichte 6), S. 163–187, hier S. 175ff.
[49] Vgl. Romantiker auf dem Lichtenstein, bearbeitet von Bickhoff/Mährle/Merk, S. 265.
[50] Vgl. Neuhaus, Das Spiel mit dem Leser, S. 157.
[51] Vgl. ebd., S. 157.
[52] Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons, Göttingen 2002, S. 48.
[53] Vgl. Potthast, Die Ganzheit der Geschichte, S. 116f.
[54] Vgl. Petra Schöbel: „Besucherzahlen boomen“, in: Reutlinger General-Anzeiger, 10. September 2019, www.gea.de/neckar-alb/pfullingen-eningen-lichtenstein_artikel,-besucherzahlen-boomen-_arid,6166284.html, abgerufen am 08. März 2023.
[55] Schloss Lichtenstein, www.schloss-lichtenstein.de/de/, abgerufen am 08. März 2023.
Der wissenschaftliche Impuls ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59238