„Sophia sey mein Schuz Geist“ – zur literatur- und kulturgeschichtlichen Bedeutung des Verlobungsrings von Novalis und Sophie von Kühn
Ludwig Stockinger wurde vom Städtischen Museum Weißenfels gebeten, die literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung des Verlobungsrings einzuschätzen, der sich als Leihgabe dort befindet. Lesen Sie hier seine Erörterung der zentralen Fragen zu diesem Ring.
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Der im Städtischen Museum Weißenfels aufbewahrte Ring, der als „Verlobungsring“ von Novalis bezeichnet wird, befindet sich dort seit dem Jahr 1925 als Leihgabe. Der Ring gilt als ‚dinglicher‘ Zeuge der Liebesbeziehung zwischen Friedrich von Hardenberg, der sich als Dichter den Namen ‚Novalis‘ gegeben hat, und Sophie von Kühn, einer Beziehung, die wegen ihrer Folgen für das dichterische und philosophische Werk dieses Autors und darüber hinaus für die Entstehung und Wirkung des Konzepts von ‚romantischer Liebe‘ von eminenter literatur- und kulturgeschichtlicher Bedeutung ist. Die Bedeutung des Rings resultiert nicht nur aus der Tatsache, dass sich auf dem Ring ein Miniatur-Porträt der Verlobten befindet, sondern auch aus der auf der Innenseite eingravierten Inschrift, die den Kern dieses Liebeskonzepts in einem einzigen Satz zusammenführt: „Sophia sey mein Schuz Geist.“ Geht man von der Annahme aus, dass Friedrich von Hardenberg diesen Ring besessen hat, bekommt er für Bewunderer des Werks von ‚Novalis‘, die den Autor nicht selten wie einen säkularen Heiligen der Kunst verehren, die Eigenschaft einer ‚Berührungsreliquie‘. Dieser ‚ideelle‘ Wert würde sich in dem Fall, in dem der Ring etwa in einer Auktion angeboten würde, in einem entsprechend hohen materiellen Wert manifestieren.
Um die ‚ideelle‘ Bedeutung des Objekts einschätzen zu können, müssen drei Fragen erörtert werden: (1) Handelt es sich wirklich um den Verlobungsring Friedrich von Hardenbergs? (2) Wie kam der Ring in den Besitz der Leihgeber? (3) Was sagt die Inschrift über die Deutung dieser Liebesbeziehung im Kontext des Werks von Friedrich von Hardenberg/Novalis aus und warum wird der Ring dadurch zu einem Symbol von ‚Romantik‘ und ‚romantischer Liebe‘?
Zu (1): Die Frage nach der Echtheit des Rings
Dass es sich bei dem Objekt um den ‚Verlobungsring‘ Friedrich von Hardenbergs handelt, ist in der Novalis-Forschung unumstritten. Es ist aber angebracht, die für diese Annahme herangezogenen Quellen noch einmal kritisch zu sichten und einige offene Fragen zu diskutieren.
In den überlieferten Lebensdokumenten des Autors ist an zwei Stellen von einem „Ring“ die Rede. Am 16. Juni 1795 schreibt der Bruder Karl von Hardenberg an Friedrich von Hardenberg: „Anbei schicke ich Dir Deinen Ring.“ [1]. Und am 21. August 1795 schreibt Karl von Hardenberg an den Bruder: „Du erhältst hierdurch den Ring mit dem S. […].“ [2] Mehr und Genaueres erfahren wir nicht. Im Kommentar der Historisch-Kritischen Ausgabe heißt es zur Briefstelle vom Juni 1795: „N‘ Verlobungsring für Sophie.“ [3] Und zum Brief vom August 1795 schreibt der Kommentar: „N‘ eigener Verlobungsring (den für Sophie sandte Karl mit Nr. 28).“ [4] Diese Formulierungen erwecken den Eindruck einer gesicherten Aussage. Es handelt sich aber genau genommen nur um Hypothesen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Demnach hat es zwei Ringe gegeben, einen für Sophie von Kühn, den anderen für Friedrich von Hardenberg. Da man „den mit dem S.“ als Hinweis auf eine dort angebrachte Inschrift deuten kann – „Schuz Geist“ oder „Sophia“? – könnte damit der in Weißenfels aufbewahrte Ring gemeint sein. Da diese Hypothese in den letzten Jahrzenten den Charakter einer feststehenden Tatsache angenommen hat, wird der Ring in einschlägigen neueren Darstellungen von Leben und Werk des Autors abgebildet, so bei Gerhard Schulz [5] und bei Herbert Uerlings. [6]
Schwierigkeiten bereitet allerdings das eingravierte Datum. Es besteht Uneinigkeit darüber, ob es sich um den 15. oder um den 19. März 1795 handelt. Für die Lesung am 15. März plädiert Heinz Ritter. [7] Hermann Liebmann gibt hingegen den 19. März 1796 [!] an. [8] Es scheint sich aber weitgehend die Datierung der Inschrift auf den 15. März 1795 durchgesetzt zu haben, weil dieser Tag in der Fachliteratur immer als Tag der inoffiziellen Verlobung genannt wird. Man kann sich dabei auf Äußerungen des Autors nach dem Tod der Braut berufen, in denen er den 15. März 1795 als Tag eines Ereignisses nennt, das man als ‚Verlobung‘ verstehen kann. [9] Eine ‚offizielle‘ Verlobung fand erst im Juli 1796 statt, nachdem Hardenberg die Zustimmung seines Vaters eingeholt hatte (vgl. N 4, S. 183–185, S. 189). Nach Auskunft des Weißenfelser Museums ist die Angabe von Liebmann – 19. März 1796 – aber zweifelsfrei richtig. Das wirft zwei Fragen auf: Wann ist das Datum eingraviert worden, und was bedeutet dieses Datum? Darüber kann man nur Vermutungen anstellen. In den überlieferten Lebensdokumenten kann man für den 19. März 1796 keinerlei Hinweise auf ein besonderes Ereignis finden. Da der 19. März 1797 aber der Todestag von Sophie ist, vermute ich, dass die Inschrift erst nach ihrem Tod angebracht worden ist, dass sie an das Datum des Todes erinnern sollte und dass es sich bei der Jahreszahl um ein Versehen handelt. Liebmann berichtet von drei Ausrufezeichen nach der Jahreszahl, die man „nachträglich eingekratzt“ [10] habe. Womöglich hat sich ein späterer Besitzer in Kenntnis des tatsächlichen Todesjahrs über die Jahreszahl gewundert und dies mit den Ausrufezeichen zum Ausdruck gebracht?
Wo ist aber der Ring von Sophie geblieben? Darauf scheint es eine Antwort zu geben, die aber noch Fragen offenlässt. In der Forschungsliteratur ist m. W. erstmals bei Heinz Ritter ein ovales Medaillon mit einer Einfassung von 27 Perlen abgebildet worden, das ein mit dem Ringporträt weitgehend identisches, aber auf Gesicht und Hals reduziertes Porträt der Verlobten zeigt. [11] Diese Abbildung ist von Hermann Kurzke mit der Herkunftsbezeichnung „Privatbesitz“ in seine Novalis-Biographie übernommen worden. [12] Das Medaillon ist nach 2010 als Leihgabe in das Novalis-Museum Schloss Oberwiederstedt gelangt, und es soll „aus dem Besitz der Mutter des Dichters“ stammen, „die es als Schmuckstück arbeiten ließ“ [13]. In der Information des Novalis-Museums wird das Medaillon abgebildet; eine Halterung weist darauf hin, dass man es als Anhänger benutzt hat. Gegenüber der Annahme, dass es sich hier um den umgearbeiteten Ring Sophies handeln könnte, sind aber Zweifel angebracht, weil es unwahrscheinlich ist, dass Sophie einen Ring mit ihrem eigenen Porträt anstatt mit dem Porträt ihres Verlobten gehabt haben soll. Wie das Medaillon in den Besitz der Mutter Hardenbergs [14] und auf welchem Weg er zu dem gegenwärtigen – nicht genannten – Eigentümer und Leihgeber gekommen ist, wird in den spärlichen Informationen der Internetquelle nicht gesagt.
Neben diesen beiden Miniaturen existiert noch eine aquarellierte Bleistiftzeichnung, die schon bei Ritter erwähnt wird. [15] Es handelt sich, so lässt sich aus den Größenangaben erschließen, um dasselbe Aquarell, das in einem vom Novalis-Museum Schloss Oberwiederstedt herausgegebenen Ausstellungskatalog 2009 publiziert worden ist. [16] Es zeigt das Porträt – wie auf der Weißenfelser Miniatur – als Brustbild. Davon hat es auch eine von Hardenbergs Schwester Caroline angefertigte Kopie gegeben, von der aber anscheinend nur mehr eine im Mansfeld-Museum Hettstedt aufbewahrte Fotographie existiert. [17] Zieht man den Hinweis von Albrecht Pohlmann in Betracht, dass derlei Profildarstellungen auf Papier „als Vorlagen für die eigentlichen Miniaturgemälde dienten“ [18], so liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei diesem Aquarell um einen Entwurf handeln könnte, von dem die beiden Schmuck-Miniaturen abgeleitet sind. Die Weißenfelser Miniatur gibt die ursprüngliche Farbqualität des Porträts authentischer wieder, da das Aquarell stark ausgeblichen ist. Somit kann man mit einiger Berechtigung sagen, dass die Miniatur auf dem Ring uns die anschaulichste Vorstellung vom Aussehen Sophie von Kühns vermittelt.
Zu (2): Wie kam der Ring in den Besitz der Leihgeber?
Laut einer im Museum Weißenfels befindlichen „Empfangsbescheinigung“ ist der Ring am 29. Juni 1925 von Heinrich Liebmann und dessen Schwester Hedwig Vollers, geb. Liebmann, als Leihgabe dem städtischen Museum Weißenfels übergeben worden, mit der „Bedingung, daß der Ring jederzeit wieder ihren berechtigten Erben auf Grund gemeinschaftlicher Willenserklärung zurückzugeben ist“. Im Hinblick auf die Bedeutung des Rings ist die Frage zu erörtern, wie der Ring in den Besitz der Familie Liebmann gekommen sein könnte, und zwar dergestalt, dass man dessen Herkunft mit einiger Plausibilität möglichst nah auf Friedrich von Hardenberg zurückführen kann.
Bei Heinrich Liebmann handelt es sich offenbar um Karl Otto Heinrich Liebmann (1874–1939), der seit 1920 Mathematikprofessor an der Universität Heidelberg war. Über die Schwester Hedwig Vollers habe ich keine näheren Informationen finden können. Heinrich Liebmann hat 1916 in dem schon genannten Aufsatz mit dem Titel „Ein neues Bild der ersten Braut von Novalis“ den Ring bekannt gemacht und Spekulationen über die Provenienz angestellt. Danach habe Carl Friedrich Liebmann (1771–1813), der Urgroßvater von Heinrich Liebmann, Christiane Caroline Just, die Tochter Christian August Justs, des Bruders von Cölestin August Just, Kreisamtmann in Tennstedt, bei dem Friedrich von Hardenberg im November 1794 ein Dienstjahr als Aktuarius begonnen hat, geheiratet. In der Zeit seiner Tätigkeit entwickelte sich eine vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehung Hardenbergs nicht nur zu Cölestin August Just, sondern auch zu dessen Nichte Caroline Just, die dem unverheirateten Onkel den Haushalt führte. Aufgrund der Freundschaft zwischen Friedrich von Hardenberg und Caroline Just nimmt Heinrich Liebmann an, dass der Ring in den Besitz Caroline Justs gekommen sei. Heinrich Liebmann nimmt an, dass Caroline Just und Christiane Caroline Just Schwestern waren. Das trifft nicht zu, denn Cölestin August Just hatte zwei Brüder, Christian August Just, dessen Tochter Christiane Caroline Just war, und Carl August Just, dessen Tochter Caroline Just war. Beide waren also Cousinen. [19] Die verwandtschaftliche Bindung wurde aber im Jahr 1802 dadurch verstärkt, dass Caroline Just ihren Cousin Carl August Just, den Bruder von Christiane Caroline Just, heiratete. Wie der Ring zunächst zu Caroline Just kam und von dort zu ihrer Cousine und Schwägerin Christiane Just, verehelichter Liebmann, wissen wir heute genauso wenig wie Heinrich Liebmann im Jahr 1916, und wir werden es mangels valider Quellen auch niemals genauer in Erfahrung bringen können; man kann aber sagen, dass die Spekulation über diesen Weg nicht ohne Plausibilität ist.
Es bleibt für mich aber noch eine Unsicherheit, die ich noch nicht beheben konnte. Heinrich Liebmann sagt, Christiane Caroline Just sei seine Urgroßmutter gewesen, was sich nach den mir zugänglichen Informationen nicht verifizieren lässt. Heinrich Liebmann war Sohn des Philosophieprofessors Otto Liebmann (1840–1912) und Enkel des Politikers und Juristen Wilhelm Otto Liebmann (1806–1871), dessen Vater der schon genannte Carl Friedrich Liebmann war. Als dessen Ehefrau wird in den mir zugänglichen Informationen aber Erdmuthe Eleonore Jud genannt, [20] nicht Christiane Caroline Just, die Heinrich Liebmann als seine Urgroßmutter angibt. War sie die erste Frau seines Urgroßvaters? Dieser Zweifel ändert aber nichts an der Nachvollziehbarkeit der Annahme, dass der aus der Familie Just stammende Ring seit dieser Zeit in der Familie Liebmann weitervererbt wurde, man also mit nachvollziehbaren Gründen davon ausgehen kann, dass der Ring einmal im Besitz des romantischen Autors gewesen ist.
Zu (3): Bedeutung der Inschrift
Um die Inschrift „Sophia sey mein Schuz Geist“ zu verstehen, muss zunächst der Lebenszusammenhang erläutert werden, in dem die Liebesbeziehung zwischen Friedrich von Hardenberg und Sophie von Kühn stand.
Am 17. November 1794 lernte Friedrich von Hardenberg in Grüningen auf einer Dienstreise im Haus des Rittmeisters Johann Rudolf von Rockenthien dessen Stieftochter Sophie von Kühn kennen, in die er sich sofort verliebte und dieses Gefühl mit dem festen Entschluss verband, sie zu ehelichen. Sophie war zu diesem Zeitpunkt erst zwölf Jahre alt, weswegen diese Liebesgeschichte immer mit einiger Verwunderung betrachtet worden ist. Im November 1795 erkrankte Sophie von Kühn schwer; es folgte eine längere Leidenszeit mit Erholungsphasen und Rückfällen sowie sehr schmerzhaften Operationen. Am 19. März 1797 starb sie in Grüningen, wo sie auch begraben ist. Über den Verlauf des Prozesses der Trauer um die Geliebte können wir uns aufgrund von Briefen des Autors sowie von Aufzeichnungen in einem Journal vom 18. April bis zum 6. Juli 1797 ein Bild machen. Er führt von dem Entschluss, Sophie „nachzusterben“, zu einer philosophischen und religiösen Deutung ihres Todes, die ihm eine Rückkehr ins Leben möglich machte. Ab Herbst 1797 studierte er in Freiberg Bergbauwissenschaft. Dort lernte er zu Beginn des Jahres 1798 im Haus des Bergrats J. F. W. von Charpentier dessen Tochter Julie kennen, mit der er sich im Dezember 1798 verlobte. Trotz dieser neuen Bindung blieb die Erinnerung an Sophie von Kühn der zentrale Impuls für Hardenbergs Dichtungen, wie sich dies vor allem in den „Hymnen an die Nacht“ – einem der bedeutendsten Texte der frühromantischen Lyrik (handschriftliche Fassung Januar 1800, Druckfassung August 1800) – und im Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (entstanden im Jahr 1800) deutlich zeigt. Am 31. März 1801 starb Hardenberg nach längerer Krankheit an Tuberkulose.
Diese Lebensgeschichte, vor allem der Platz, den die Geschichte von Liebe und Tod Sophies im dichterischen Werk des Autors eingenommen hat, wurde zum Anlass eines „Sophien-Mythos“ [21] bzw. einer „Sophien-Legende“, [22] bei der die in den Dichtungen dargestellte Gestalt Sophies mit der wirklichen Person verschmolz und Friedrich von Hardenberg mit der Dichter-Imago ‚Novalis‘ in eins gesetzt wurde. Die Krankheit und der frühe Tod des Autors verstärkten das Bild von einem wirklichkeitsfernen, den Tod herbeisehnenden Jüngling. Dieses Bild wurde auf der einen Seite zum Anlass von emotionaler Identifikation, weil die bei ‚Novalis‘ gestaltete poetische Verarbeitung dieser Erfahrung ein Modell angeboten hat, nach dem viele Rezipienten eigene Verlusterlebnisse verarbeiten konnten. Auf der anderen Seite wurde dieses Bild zum Anlass von Romantik-Kritik, weil die Geschichte von ‚Novalis‘ und seiner Braut gemäß dem vielzitierten Diktum Goethes – „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“ (Maximen und Reflexionen, Nr. 863) – zum Beispielfall für die These vom pathologischen Charakter der Romantik wurde, zum Symptom von „Narzissmus“ [23] im Sinne der Unfähigkeit, die Realität von den Projektionen der Phantasie zu unterscheiden. Die Liebesgeschichte wurde so zum exemplarischen Fall einer romantiktypischen Idealisierung der Wirklichkeit, die den Charakter einer Illusion annimmt.
Die neuere Novalis-Forschung, wie sie beispielsweise in den Gesamtdarstellungen von Gerhard Schulz, [24] Herbert Uerlings [25] und Dennis F. Mahoney [26] repräsentiert wird, hat entgegen diesem bei Verehrern wie Gegnern verbreiteten Bild darauf aufmerksam gemacht, dass man diese Imago nur aufrechterhalten werden kann, wenn man einige Aspekte ausklammert. Ausgeklammert wurde, dass Friedrich von Hardenberg berufstätig war, seinen Beruf mit Zuverlässigkeit ausübte und vor seinem Tod am Beginn einer Karriere in der kursächsischen Verwaltung stand. Schwierig war für die Anhänger des „Sophien-Mythos“ auch die Tatsache der zweiten Verlobung. Vor allem aber ist die Tatsache zu erwähnen, dass Hardenberg, wie seine Briefe und das Tagebuchblatt „Clarisse“ (N 4, S. 24 f.) dokumentieren, durchaus eine realistische Einschätzung seiner Verlobten hatte und dass die überlieferten Lebensdokumente Sophie von Kühns den eher ernüchternden Eindruck eines ganz gewöhnlichen Mädchens hinterlassen, weswegen man von einer „Bildungs- und gefühlsmäßigen Diskrepanz zwischen den beiden Verlobten“ [27] gesprochen hat. Bei der Lektüre von Sophies Tagebuchaufzeichnungen erfährt man nichts über ihre Gefühle gegenüber dem Verlobten. Hardenberg selber notiert auf dem Blatt „Clarisse“ einmal: „Meine Liebe drückt sie oft. Sie ist kalt durchgehends.“ Es ist demnach festzuhalten:
„Von einer schwärmerischen Idealisierung Sophies kann […] keine Rede sein. Novalis wußte […] sehr wohl zu unterscheiden zwischen der wirklichen Sophie und dem Gedankenbild ‚Sophie‘, das für die Dichtung so zentral wurde. Zwischen beiden bestehen sehr vermittelte Beziehungen, und alles, was Sophie später für Novalis bedeutete, ist erst allmählich, über Jahre hinweg in ihm entstanden.“ [28]
Auch das auf dem Ring überlieferte Porträt gab Anlass zu Fragen, weil dort eine Erscheinung von eher durchschnittlicher Schönheit sichtbar wird. ‚Sophiengläubige‘ Novalis-Forscher wie z. B. Heinz Ritter schreiben diesen Eindruck dem Unvermögen des Miniaturisten zu, wenn er schreibt: „Auffällig ist auf allen Bildern der zu dicke Hals. Am schlankesten ist er auf dem Ringbild, aber auch da noch stärker, als man bei einem so zarten Mädchen erwarten sollte.“ [29] In einem Roman, in dem die englischsprachige Autorin Penelope Fitzgerald versucht hat, dem Geheimnis dieser Beziehung auf die Spur zu kommen, wird dieses Problem auf spielerische Weise thematisiert, indem sie den Bruder Erasmus sagen lässt: „Fritz, sie ist nicht schön, sie ist nicht mal hübsch. Ich sage es noch einmal: Im Kopf hat sie nichts, diese Sophie, dafür ein Doppelkinn – jetzt schon, mit zwölf Jahren, –“ [30]. Wie um dieses aus dem überlieferten Porträt abgeleitete Urteil zu relativieren, erfindet Fitzgerald allerdings einen Maler namens Joseph Hoffmann, der Sophie porträtieren soll, aber an dieser Aufgabe scheitert, weil er sich außerstande sieht, ihre Persönlichkeit mit seinen Mitteln zu erfassen. [31]
Man kommt dem Verständnis der Beziehung und damit auch der Bedeutung der Ring-Inschrift näher, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Auseinandersetzung Hardenbergs mit Problemen der Philosophie und der Religion seiner Zeit richtet, die zeitgleich mit der Liebesgeschichte selbst, aber noch mehr in der Zeit der Verarbeitung des Todes der Braut stattfand. [32] Zwei Zitate können diesen Zusammenhang vorweg anschaulich machen: Am 8. Juli 1796 schrieb Hardenberg an seinen Freund Friedrich Schlegel:
„Mein Lieblingsstudium heißt im Grunde, wie meine Braut. Sofie heißt sie – Filosofie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigensten Selbst. Seit jener Bekanntschaft bin ich auch mit diesem Studio ganz amalgamirt. […] Etwas zu schreiben und zu heyrathen ist Ein Ziel fast meiner Wünsche.“ (N 4, S. 188)
Im Herbst 1797, also nach dem Tod Sophies, notierte er: „Ich habe zu Söfchen Religion – nicht Liebe. Absolute Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete, ist Religion.“ (N 2, S. 395).
Schon im Oktober 1791, also lange vor der Zeit der Begegnung mit Sophie, formulierte Hardenberg in einem Brief an Schiller, es sei sein Lebensziel, die „Liebe […] zur moralischen Schönheit zur reinsten, edelsten Leidenschaft“ zu „entflammen“ (N 4, S. 101). Mit dem Begriff der „moralischen Schönheit“ – an anderen Stellen spricht er von „sittlicher Grazie“ (N 4, S. 386f.) – greift er das Ergebnis der Schiller’schen Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie Kants auf, in der Schiller versucht hat, das Kant’sche ‚Postulat‘ der Autonomie des freien Subjekts als Grundlage von Moral mit der sinnlichen Erfahrbarkeit dieses ‚Postulats‘ im Kunst-schönen zu verbinden. Briefe und Aufzeichnungen Hardenbergs zeigen, dass er Probleme hatte, sich dem ‚Postulat‘ der moralischen Autonomie anzunähern; das eine Problem war die Vereinbarkeit mit dem Berufsleben, das andere die Kontrolle der Sexualität. Nach Kant sind ‚Postulate‘ in der Transzendenz zu verorten, in der Wirklichkeit aber nicht erfahrbar. Das gilt auch und vor allem für das „Selbst“, das Hardenberg mit Großbuchstaben schreibt, um auszudrücken, dass er damit nicht das empirische Ich meint, sondern jene ‚Idee‘, die man sich als Voraussetzung denken muss, wenn man sich selbst die Fähigkeit zu freiem Handeln nach moralischen Prinzipien zuschreibt. [33]
Es gehört zu den grundlegenden Einsichten nicht nur Hardenbergs, sondern der ganzen Gruppe der Jenaer Frühromantiker, dass es Wege der Annäherung an die Erfahrung von ‚Ideen‘ und ‚Postulaten‘, also auch an die Erfahrung seines ‚Selbst‘, geben kann, aber nur Wege ‚unendlicher‘ Annäherung. Der favorisierte Weg wird von Hardenberg in einer bekannten Notiz ‚Romantisieren‘ genannt:
„Die Welt muß romantisirt werden. […] Das niedere Selbst wird mit dem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – […] es bekommt einen geläufigen Ausdruck, romantische Philosophie. […] Wechselerhöhung und Erniedrigung.“ (N 2, S. 545)
‚Romantisieren‘ meint demnach nicht einfach ein Idealisieren der Wirklichkeit, bei dem ‚Idee‘ und Wirklichkeit illusionär identifiziert werden. Vielmehr werden die Phänomene der Welt so gedeutet, dass sie zu zeichenhaften Hinweisen auf ‚Ideen‘ und ‚Postulate‘ werden können, die sich in ihnen zugleich zeigen und verbergen. Wer ‚romantisiert‘, soll in einem bewussten Akt des ‚Glaubens‘ in den Erscheinungen der endlichen Welt einen Schein des Unendlichen sichtbar werden lassen. Dieses Verfahren der ‚Romantisierung‘ darzustellen, scheint nach der These von Dennis F. Mahoney auch die Absicht von Penelope Fitzgeralds Roman zu sein: „to turn this young teenager with a slight double chin into the girl of his dreams“ [34].
Es bietet sich an, die Liebe von Hardenberg zu Sophie von Kühn im Lichte dieser 1798 entstandenen Notiz zu deuten. Einige Gedichte aus der ersten Zeit des Kennenlernens dokumentieren, dass er die Geliebte nach diesem Muster gedeutet hat. Er will in ihr die symbolische Erscheinung jener ‚Idee‘ von „moralischer Schönheit“ erkennen, mit der er glaubt, seinem Ich Stabilität zu verleihen, ohne auf Liebe verzichten zu müssen. Indem man in der Liebe zu einer realen Frau, deren Grenzen und Schwächen man nicht leugnet, durch das Verfahren des ‚Romantisierens‘ diesem Ideal näherzukommen versucht, wird die Liebe zur Religion.
Zweifellos kann man dieses Verfahren auch auf Hardenbergs Probleme mit seinem „Wollustteufel“ (N 4, S. 147) beziehen, über dessen Macht er in dem schon genannten Journal ganz offen spricht, [35] und es ist deshalb legitim, die „Liebe für Sophie als Flucht vor den Bedrängnissen der Sexualität“ [36] zu interpretieren – dies aber immer mit Rücksicht auf die in der zeitgenössischen Philosophie dafür angebotenen Modelle, die Hardenberg auf eigenständige Weise weiterentwickelt hat. Ob Hardenberg diese Deutung seiner Beziehung auf Dauer im Alltag einer Ehe hätte aufrechterhalten können, wird meist in Zweifel gezogen. Auch scheint die lange Krankheit und die Tapferkeit, mit der Sophie die Leiden ertrug, die ‚Romantisierung‘ erleichtert zu haben. [37] Die Krankheit, der Tod und die Verarbeitung dieses Todes mit Hilfe nicht nur der Philosophie, sondern auch der christlichen Religion, in der der Autor ja aufgewachsen ist, sind unverzichtbarer Teil dieser Deutungsgeschichte, und es ist ganz folgerichtig, wenn gegen Ende des Tagebuchs die Eintragung steht: „Xstus und Sophie“ (N 4, S. 48).
Was bedeutet in diesem Kontext die Inschrift auf dem Ring? Man kann vermuten, dass der Vorname der Geliebten die ‚Romantisierung‘ erleichtert hat. Dabei ist zu bemerken, dass in der Inschrift der Name nicht „Sophie“ lautet, sondern „Sophia“. Damit wird das griechische Wort sophía (Weisheit) in Erinnerung gerufen, das Bestandteil des Kompositums philosophía (Liebe zur Weisheit) ist. Wie die zitierte Stelle aus dem Brief an Friedrich Schlegel dokumentiert, war Hardenberg dieser Zusammenhang bewusst, und man darf davon ausgehen, dass er damit auch auf die Erläuterung des Begriffs philosophía anspielen wollte, die in Platons Dialog Symposion (204 a–204 c) gegeben wird. Danach ist nur Gott im vollen Besitz der ‚Weisheit‘. Der Mensch, wenn er die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit erkannt hat, weiß, dass er ‚Weisheit‘ nur liebend begehren, aber nicht ‚haben‘ kann. Nur auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist man ein philósophos. Bei Plato wird diese Liebe zur ‚Weisheit‘ parallel zu einer Erläuterung des Begriffs éros durchgeführt, der Liebe zum ‚Schönen‘, die, ausgehend von irdischem ‚Schönen‘, ebenfalls auf etwas Unerreichbares zielt, auf die Schau der ‚Idee‘ des ‚Schönen‘. Sophie von Kühn wird demnach durch den Namen „Sophia“ in der Ring-Inschrift zur irdischen Erscheinung der ‚Ideen‘ von ‚Weisheit‘ und ‚Schönheit‘ gemacht, immer in dem Bewusstsein, dass man diese ‚Idee‘ in der Wirklichkeit, deren Teil ja auch die wirkliche Sophie ist, nie ganz schauen kann. Sophie, das weiß der Romantiker, ist weder vollkommen ‚weise‘ noch vollkommen ‚schön‘, und der Romantiker weiß auch, dass er selbst niemals sophós in vollem Sinn sein kann, sondern nur philósophos. So lässt sich mit Gerhard Schulz sagen, „daß Sophie und Philosophie, Eros und Idealismus für ihn von Anfang an ineinander übergingen.“ [38]
Die Anspielungen auf diese Bedeutung von Sophía ermöglichen auch den Anschluss an die Sprache der christlichen Religion, so dass sich aus der ‚philosophischen‘ Deutung Sophies auch ein Bezug zum Versuch Hardenbergs herstellen lässt, eine ‚romantische‘ Neudeutung des Christentums zu generieren, wie dies die Formel „Xstus und Sophie“ anzeigt. Im AT wird der Begriff Sophía an einigen Stellen so umschrieben, dass man zwischen einer Eigenschaft Gottes und einer eigenständigen göttlichen Wesenheit nicht unterscheiden kann (vgl. z. B. Weis 7,25–30, Sir 1,1). Dies führte im frühen Christentum bei der Entwicklung des christologischen Dogmas dazu, spätjüdische Spekulationen über das Verhältnis von Lógos und Sophía aufzugreifen und auf Christus zu übertragen. [39] Christus erhält so eine männliche und eine weibliche Seite, eine Vorstellung, die im 17. Jahrhundert, etwa bei Jakob Böhme, wieder aufgegriffen wird. Dies würde auch der frühromantischen Vorstellung entgegenkommen, dass wahre Menschheit erst in der Einheit des Männlichen und Weiblichen verwirklicht wäre, eine Vorstellung, die sich auch in romantischen Konzepten von idealer Autorschaft finden lässt. [40] In Sophie würde sich demnach die weibliche Seite des göttlichen Lógos zeigen. Auf die Dichtung bezogen, würde das heißen, dass durch den männlichen Autor hindurch immer auch eine weibliche Stimme hörbar wäre.
Der damit aufgerufene religiöse und poetologische Bedeutungszusammenhang wird in der Ring-Inschrift vertieft durch das Wort „Schuz Geist“. „Schutzgeist“ bzw. das Synonym „Genius“ findet sich im Werk Friedrich von Hardenberg an vielen Stellen. [41] In einem Brief an den Bruder Erasmus vom 6. Februar 1796 heißt es z. B. mit direktem Bezug auf Sophie: „Mein Genius hat sich fast völlig wieder erholt.“ (N 4, S. 165). Mit indirektem Bezug auf das Idealbild der verstorbenen Braut kann man am Ende des ersten der Widmungssonette des „Heinrich von Ofterdingen“ lesen: „Denn Du, Geliebte, willst die Muse werden, / Und stiller Schutzgeist meiner Dichtung seyn.“ (N 1, S. 193) Dass die – in der Regel tote – Geliebte als ‚Muse‘ zur Inspirationsquelle eines männlichen Autors wird, ist ein traditionelles Muster der europäischen Literaturgeschichte. [42] Beatrice, die in Dantes „Göttlicher Komödie“ den Dichter durch das Paradies führt, ist nur ein prominentes Beispiel.
Die Bedeutung von ‚Genius‘ und ‚Schutzgeist‘ kann mit einem Blick auf zeitgenössische Darstellungen der antiken Mythologie genauer erschlossen werden. In dem mythologischen Standardwerk des 18. Jahrhunderts von Benjamin Hederich heißt es dazu: „Nach einigen ist eines Menschen Genius nichts anders, als dessen Animus […], nach andern aber, der einem von Gotte bey seiner Geburt zugegebene Schutzengel.“ [43] Zu beobachten ist bereits hier die Vermischung antik-mythologischer und christlicher Vorstellungen. Für das frühromantische Verständnis der antiken Mythen besonders einflussreich war die Götterlehre der Alten (1791) von Karl Philipp Moritz, wo es unter der Überschrift „Wesen, welche das Band zwischen Göttern und Menschen knüpfen“ heißt:
„Die Genien oder Schutzgötter der Menschen waren es vorzüglich, wodurch in der Vorstellung der Alten die Menschheit sich am nächsten an die Gottheit schloß. Die höchste Gottheit selber vervielfältigte sich gleichsam durch diese Wesen, insofern sie über jeden einzelnen Sterblichen wachte und ihn von Geburt an bis zum Tode an ihrer Hand durchs Leben führte. […] Ein jeder verehrte […], durch ein zartes Gefühl gedrungen, in sich etwas Göttliches und Höheres, als er in seiner Beschränktheit und Einzelnheit selber war, und dem er nun wie einer Gottheit Opfer brachte, und gleichsam durch Verehrung das zu ersetzen suchte, was ihm an deutlicher Erkenntnis seines eigenen Wesens und seines göttlichen Ursprungs abging. Nach einer anderen Dichtung sind die Seelen der Verstorbenen, aus dem Goldenen Zeitalter der Menschen, als untadelige, in die Gottheit übergegangene Wesen die Schutzgötter der Menschen.“ [44]
Es lässt sich unschwer erkennen, dass diese Erläuterung sehr gut mit der philosophischen Idee des ‚Selbst‘ zu vermitteln war. Moritz‘ Erläuterung liest sich geradezu wie ein Hinweis auf die Möglichkeit, im ‚Genius‘ des antiken Mythos eine poetische Formulierung der in der aktuellen Philosophie diskutierten ‚Idee‘ zu erkennen. Sophie als ‚Schutzgeist‘ verkörpert demnach die ‚Idee‘ dieses ‚Selbst‘, das den endlichen Menschen am Göttlichen teilhaben lässt. Im Journal und in den Briefen nach ihrem Tod finden sich immer wieder Notizen, in denen Hardenberg diesen Zusammenhang betont. [45]
Die Überschrift der Textpassage aus Moritz‘ Götterlehre verweist zudem auf einen zentralen Aspekt von Hardenbergs Neuinterpretation des Christentums, das er im 74. Fragment der Sammlung Blüthenstaub entwickelt (N 2, S. 440–445), in dem es um die Vorstellung eines Mittlers zwischen Transzendenz und Immanenz geht. [46] „Wahre Religion“ unterscheide – im Gegensatz zum Pantheismus – zwischen Immanenz und Transzendenz, halte aber – im Gegensatz zum rationalen Deismus – an der Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Immanenz und Transzendenz fest. Insofern habe das Christentum mit dem Glauben an Christus als den einen Mittler zwischen Gott und Welt das Prinzip wahrer Religion in die Geschichte der Menschheit gebracht. Auf der Basis dieser religionsgeschichtlichen Innovation fordert der romantische Autor, der sich auch als Christ versteht, dass jeder Mensch frei sein solle, sich Mittler nach individueller Erfahrung zu wählen. Sophie als ‚Schutzgeist‘ ist eine solche individuelle Mittlerin zu Gott. Das Christentum wird damit durch ein Element persönlicher Religiosität ergänzt. Dieser Zusammenhang zwischen dem christlichen Glauben und der persönlichen Mittler-Religion in einem Christentum der Zukunft nimmt einige Jahre nach dem Tod Sophie von Kühns in den „Hymnen an die Nacht“ die Gestalt eines großen Dokuments frühromantischer Religiosität an. [47]
Auch der Hinweis bei Moritz auf eine Variante des antiken Mythos, wonach ‚Schutzgeister‘ die Seelen von Verstorbenen aus dem ‚Goldenen Zeitalter‘ seien, wird von Hardenberg mit christlichen Vorstellungen vermischt. In der Rede „Die Christenheit oder Europa“ (1799), in der er den mittelalterlichen Katholizismus als – noch unvollendetes – Vorbild der romantischen Zukunftsreligion preist, wird die Verehrung von Heiligen als ‚Schutzgeister‘ beschrieben: Die Heiligen seien nach ihrem Tod
„zu göttlichen Ehren gelangt und nun schützende, wohlthätige Mächte ihrer lebenden Brüder, willige Helfer in der Noth, Vertreter menschlicher Gebrechen und wirksame Freunde der Menschheit am himmlischen Thron geworden“ (N 3, S. 508).
So wie die Gläubigen des Mittelalters die Gräber der Heiligen aufgesucht und deren Reliquien verehrt haben, können die Menschen der Gegenwart die ihnen nahestehenden Verstorbenen wie Heilige betrachten und die damit verbundenen Rituale nachahmen:
„So bewahren liebende Seelen, Locken oder Schriftzüge ihrer verstorbenen Geliebten, und nähren ihre süße Glut damit, bis an den wiedervereinigenden Tod. Man sammelte mit inniger Sorgfalt überall was diesen geliebten Seelen angehört hatte, und jeder pries sich glücklich der eine so tröstliche Reliquie erhalten oder nur berühren konnte. Hin und wieder schien sich die himmlische Gnade vorzüglich auf ein seltsames Bild, oder einen Grabhügel niedergelassen zu haben.“ (N 3, S. 508)
Vieles von dem, was hier der Heiligenverehrung des Mittelalters zugeschrieben wird, gehörte auch zu den Ritualen der Trauerarbeit, die Hardenberg selbst, wie die Eintragungen in seinem Tagebuch zeigen, ausgeübt hat. [48] Den Ring nennt er allerdings an keiner Stelle. Nur einmal notiert er: „Ich zeigte d[er] Kreistamtmännin S[ophiens] Porträt. Wir sprachen viel von ihr.“ (Journal, 20. April 1797, N 4, S. 29) Sophie konnte auf diese Weise als Verstorbene zur ‚Heiligen‘ und noch mehr als zu ihren Lebzeiten zum ‚Schutzgeist‘ werden. Die ganze Inschrift könnte sowohl zu Lebzeiten Sophies, aber auch erst nach ihrem Tod angebracht worden sein, was ich für wahrscheinlicher halte. Aber darüber lässt sich nur spekulieren.
Anmerkungen
[1] N 4, S. 381. Unter der Sigle N zitiere ich im Folgenden die Historisch-Kritische Ausgabe: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1–6.3, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel/Heinz Ritter/Gerhard Schulz/Hans-Joachim Mähl, Stuttgart 1977–2006.
[2] N 4, S. 385.
[3] Ebd., S. 905.
[4] Ebd., S. 907.
[5] Vgl. Gerhard Schulz: Novalis in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck 1969, S. 50f.; Gerhard Schulz: Novalis. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, München 2011, S. 85.
[6] Vgl. Herbert Uerlings: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Stuttgart 1998, S. 34.
[7] Heinz Ritter: Der unbekannte Novalis. Friedrich von Hardenberg im Spiegel seiner Dichtungen, Göttingen 1967, S. 356.
[8] Hermann Liebmann: „Ein neues Bild der ersten Braut von Novalis“, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft 37 (1916), S. 222–224, hier S. 224.
[9] Vgl. N 4, S. 206: „Den 17ten März 178[2] war sie geboren, und den 15tenMärz 1795 erhielt ich von ihr die Gewißheit, daß sie Mein seyn wollte.“ N 4, S. 210: „Den 15ten März sagte Sie mir zum erstenmale, Daß Sie Meyn seyn sollte. Den 17ten war Sie geboren – den 19ten ist sie heimgegangen […].“
[10] Liebmann: Ein neues Bild, S. 224.
[11] Heinz Ritter: Novalis und seine erste Braut. Sie war die Seele meines Lebens, Stuttgart 1986.
[12] Hermann Kurzke: Novalis, München 1988, S. 25 und S. 112.
[13] „Schenkungen und Dauerleihgaben erweitern die Sammlung in Schloss Oberwiederstedt“, in: www.aski.org/novalis-stiftung-schloss-oberwiederstedt-schenkungen-und-dauerleihgaben-erweitern-die-sammlung-in-schloss-oberwiederstedt.html, abgerufen am 22. Juli 2022.
[14] Als möglichen Anhaltspunkt vgl. N 4, S. 210: „Meine Mutter sagte, wie Sie zum erstenmale ihre Silhouette sah – Ihr Gesicht gefällt mir unbeschreiblich – Sie sieht so from[m], so still aus – als wäre Sie nicht auf dieser Welt an Ihrem Platze.“
[15] Vgl. Ritter: Der unbekannte Novalis, S. 356.
[16] Vgl. Gabriele Rommel (Hg.): All*Tags*Welten des Friedrich von Hardenberg (Novalis), Oberwiederstedt 2009, S. 77. Über die Provenienz wird im Katalog leider nichts gesagt.
[17] Abgebildet bei ebd., S. 273.
[18] Albrecht Pohlmann: „Porträt-Alltag um 1800. Überlegungen zum alltäglichen Umgang mit Bildnissen“, in: All*Tags*Welten des Friedrich von Hardenberg (Novalis), hg. von Gabriele Rommel, Oberwiederstedt 2009, S. 67–76, hier S. 72.
[19] Vgl. dazu die Informationen in N 5, S. 869.
[20] Vgl. „Wilhelm Otto Liebmann“, in: de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Otto_Liebmann, abgerufen am 22. Juli 2022.
[21] Uerlings: Novalis, S. 35.
[22] Ebd., S. 37.
[23] Kurzke: Novalis, S. 30.
[24] Schulz: Novalis in Selbstzeugnissen; Schulz: Novalis.
[25] Uerlings: Novalis.
[26] Dennis F. Mahoney: Friedrich von Hardenberg (Novalis), Stuttgart [u. a.] 2001.
[27] Ebd., S. 30.
[28] Uerlings: Novalis, S. 35.
[29] Ritter: Der unbekannte Novalis, S. 357.
[30] Penelope Fitzgerald: Die blaue Blume. Aus dem Englischen übertragen von Christa Krüger, Frankfurt am Main [u. a.] 1999, S. 100.
[31] Ebd., S. 205. Zu Fitzgeralds Darstellung der Beziehung zwischen Hardenberg und Sophie von Kühn vgl. Ludwig Stockinger: „‚Fritz‘, Friedrich von Hardenberg und Novalis. Geschichtliches Wissen und Fiktion in Penelope Fitzgeralds The Blue Flower (1995)“, in: Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft, hg. von Ina Ulrike Paul/Richard Faber, Würzburg 2013, S. 199–213.
[32] Vgl. z. B. Ludwig Stockinger: „Religiöse Erfahrung zwischen christlicher Tradition und romantischer Dichtung bei Friedrich von Hardenberg (Novalis)“, in: Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, hg. von Walter Haug/Dietmar Mieth, München 1992, S. 361–393, hier S. 373–381.
[33] Vgl. Ludwig Stockinger: „Das ‚Selbst‘ und das ‚selbst‘. Zur Deutung von Kenne dich Selbst im Lichte der neu aufgefundenen Handschrift“, in: Novalis. Das Werk und seine Editoren, hg. von Gabriele Rommel, Oberwiederstedt 2001, S. 87–101.
[34] Dennis F. Mahoney: „Romanticizing the everyday. Penelope Fitzgerald’s The Blue Flower“, in: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik 2 (2009), S. 277–289, hier S. 208.
[35] Vgl. dazu Schulz: Novalis, S. 99f.
[36] Mahoney: Friedrich von Hardenberg, S. 28.
[37] Vgl. N 4, S. 190: „Ich liebe Sie fast mehr Ihrer Krankheit wegen.“
[38] Schulz: Novalis, S. 93.
[39] Vgl. Karlmann Beyschlag: Grundriss der Dogmengeschichte. Bd. 1: Gott und Welt, Darmstadt 1982, S. 107–116.
[40] Vgl. Silke Horstkotte: Androgyne Autorschaft. Poesie und Geschlecht im Prosawerk Clemens Brentanos, Tübingen 2004, S. 11–35, S. 83ff.
[41] Eine ausführliche Analyse im Kontext der zeitgenössischen Wortbedeutungen findet sich bei Sophia Vietor: Astralis von Novalis. Handschrift – Text – Werk, Würzburg 2000, S. 231–255.
[42] Zur Kritik an diesem Muster aus feministischer Perspektive vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihrer Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994.
[43] Benjamin Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon, Leipzig 1770 (Neudruck Darmstadt 1996), Sp. 1145.
[44] Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten (1791), Leipzig 1966, S. 221f.
[45] Vgl. z. B. an Caroline Just am 28. März 1797 (N 4, S. 211): „Ihr Bild soll und wird mein bessres Selbst seyn – das Wunderbild […], das auch mich gewiß retten wird für so manchen Anfechtungen des Bösen und Unlautern.“ „Meine Hauptaufgabe sollte seyn – Alles in Beziehung auf ihre Idee zu bringen.“ (Journal, 17./18. Mai 1797, N 4, S. 57).
[46] Vgl. Stockinger: religiöse Erfahrung, S. 377–381.
[47] Vgl. Ludwig Stockinger: „Im Lichte stehen, eingedenk der Nacht. Novalis‘ Hymnen an die Nacht, das Leben und die Kunst in der Moderne“, in: Licht und Dunkel. Zum 200. Todestag von Novalis, hg. von Cornelia Wieg, Halle 2001, S. 12–18.
[48] Vgl. z. B.: „Mit Innigem Gebet an S[ophien] schlief ich ein.“ (Journal, 2. Juni 1797, N 4, S. 43).
Der wissenschaftliche Impuls ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59079