Patricia Kleßen
Adelige Selbstbehauptung und romantische Selbstentwürfe
Die ›queeren‹ Inszenierungen Herzog Augusts von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772–1822)
Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772–1822) genoss unter Zeitgenossen wie unter Nachlebenden einen zweifelhaften Ruf – er galt einerseits als geistvoll und originell, andererseits als zerfahren, weibisch und schwach, ja sogar als grotesk. Die Homosexuellenbewegung um Magnus Hirschfeld unternahm aufgrund von Augusts Schöngeistigkeit und Vorliebe für weiblichen Putz gar den Versuch, August als Urning, also als insgeheimen Homosexuellen, zu charakterisieren. Patricia Kleßen stellt sich nun in ihrer Studie, die auf einer Dissertation im Rahmen des Graduiertenkollegs „Modell Romantik“ an der Universität Jena beruht, der Aufgabe, Augusts Leben und Schriften konsequent zu historisieren. Ziel ihres Werkes ist es, Augusts Geschlechterinszenierungen zum einen im entstehenden literarischen Feld der Zeit um 1800 zu verorten und sie zum anderen als strategischen Wert im Kampf ums adlige Obenbleiben zu entschlüsseln.
Kleßen charakterisiert die Jahrhundertwende um 1800 als Schwellenzeit, die, gerade für den Adel, geprägt war von politischen, ökonomischen und symbolischen Krisen, auf welche die Menschen mit Suchbewegungen verschiedenster Art reagierten. Historiographisch schließt sie an die jüngere Adelsforschung und deren Fragen nach adligen Strategien und Anpassungstechniken an, die dem Adel seine alte Vorrangstellung sichern sollten. Außen vor bleibt jedoch eine Diskussion der Forschung zu symbolischer Kommunikation am Hof und der Spezifik des Hochadels. Eine Einbettung in diesen Forschungszusammenhang hätte den Blick auf August als regierenden Fürsten und die daraus resultierende Spezifität seiner Selbstinszenierung sicher noch bereichert. Deutlich umfangreicher fällt die literaturwissenschaftliche Kontextualisierung aus. Kleßen nimmt die in Jena entwickelten Überlegungen zum „Modell Romantik“ auf, als dessen wesentliches Kennzeichen sie die „Kippfigur von Behauptung und Widerruf“ bezeichnet sowie die Annahme, dass das „charakteristische romantische Streben nach einer ganzheitlichen Weltdeutung […] sich damit in einem Bewusstsein um den Verlust absoluter Sinngebung und in dem Wissen um die notwendige Verfehlung und Vergeblichkeit des eigenen Strebens [vollzog]“. (25f.) Mithilfe der Gender & Queer Studies wiederum begreift die Verfasserin Geschlecht als diskursiv erzeugtes Konstrukt, mit dem sich nicht zuletzt die sozialen Praktiken historischer Akteure untersuchen lassen. Als Quellen dienen zum einen Hofhaltungsbücher und Kabinettsprotokolle, zum anderen Korrespondenzen mit Gelehrten und Künstler:innen, Tagebucheinträge von Zeitgenossen sowie materielle Gegenstände aus Augusts Besitz.
Im ersten thematischen Kapitel steht „Herzog Augusts höfisches Leben“ im Mittelpunkt. Er wurde nach aufklärerischen Prinzipien erzogen, verbrachte gemeinsam mit seinem Bruder einige Jahre in der Schweiz und wurde nach seiner Rückkehr 1791 allmählich von seinem Vater, Herzog Ernst II., in die Regierungsgeschäfte des Herzogtums eingeführt. Standesgemäße Eheschließungen mit der mecklenburgische Herzogstocher Luise Charlotte und, nach deren frühen Tod, mit der hessischen Prinzessin Karoline Amalie rundeten Augusts Profil als Angehöriger des europäischen Hochadels ab. Dessen vormals selbstverständliche Position wurde nach Augusts Regierungsantritt 1804 durch die napoleonischen Feldzüge und Neugestaltung der politischen Landkarte jedoch entscheidend in Frage gestellt. Wie Kleßen zeigt, nutzte August ein breites Instrumentarium an traditionellen Strategien und höfischen Praktiken, um seine Stellung als regierender Fürst und Angehöriger des Hochadels zu wahren. Dies war keineswegs ein ungewöhnliches Vorgehen – Friedrich I. von Württemberg und König von Napoleons Gnaden nutzte beispielsweise ebenfalls Zeremoniell, Städte- und Schlossbau sowie Inneneinrichtung als Machtmittel –, sodass sich eine Besonderheit Augusts nicht wirklich erschließt.
Im darauffolgenden Kapitel stehen stärker Augusts Lebensentwürfe, allen voran als romantisches Selbst, im Mittelpunkt. Die Autorin knüpft hier an verschiedene literaturwissenschaftliche Forschungen an, darunter Jochen Strobels Ausführungen zur Kulturpoetik des Adels in der Romantik, die Arbeiten von Silke Horstkotte zur Androgynen Autorschaft sowie die von Christoph Kucklick zur Negativen Andrologie, Gerharts Hoffmeisters Konzeption des Byronic Hero und schließlich Christoph Bodes Untersuchungen zur Diskursiven Identität in der britischen Romantik. Diese Ansätze werden, teils über mehrere Seiten und damit sehr ausführlich, referiert und dann mit Augusts Schriften in Beziehung gesetzt. Manchmal muss allerdings ein Verweis auf das Vorhandensein spezifischer romantischer Werke wie etwa einer sechsbändigen Ausgabe von Byrons Werken von 1818 genügen, um den interpretatorischen Aufwand zu rechtfertigen und die Kontextualisierung im Wortsinn herzustellen. Am gelungensten sind die Passagen, in denen Kleßen von Augusts Schriften ausgeht. So interpretiert sie sehr überzeugend Augusts ambivalentes Verhältnis zur zeitgenössischen Malerei und Literatur, die er einerseits intensiv rezipierte und deren ästhetische Innovationen er für seine (literarischen) Selbstinszenierungen nutzte, die er anderseits aber entschieden kritisierte und deren Vertreter er in gesellschaftlicher Hinsicht auf ihre Plätze zu verweisen suchte. Mit der feinfühligen Untersuchung des Freundschafts- und Geschwisterkults um 1800 lotet die Verfasserin darüber hinaus die zeittypische Verschiebung von Geschlechterattributen aus und kann zeigen, dass Augusts Spiel mit Geschlechtsidentitäten als Teil eines romantischen Subjektentwurfs gelesen werden kann, jedoch keineswegs auf homosexuelle Neigungen hindeutet.
Für die beiden folgenden, etwas kürzeren Kapitel nimmt die Autorin Anregungen aus der Konsumgeschichte und materiellen Kulturforschung aus. Entscheidend für ihre Analyse ist Colin Campbells bereits 1987 erschienene Untersuchung The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, in welcher Campbell die Geburt des modernen Konsumismus aus dem ruhelosen Geist der Romantik heraus erklärt. Ausführlich herangezogen werden außerdem die Arbeiten des Literaturwissenschaftlers Boris Gibhardts zu Konsum und Luxus im Umfeld der Weimarer Klassik sowie, für Fragen der Alterität, Andrea Polascheggs Forschung zum deutschen Orientalismus. Die eher sach- und dingorientierte historische Konsumforschung, die mit Quellen wie Inventarlisten, Rechnungsbüchern oder Warenverzeichnissen arbeitet, bleibt außen vor. Entsprechend konzentriert sich Kleßen auf die durch Konsum entfalteten Idealbilder des Selbst, ästhetische Praktiken des Sammelns und der Suche nach Bezugspunkten für eine holistische Sinnperspektive. Hierzu untersucht sie Augusts Bestellung und Konsum von stark riechenden, teils rauschhaften Substanzen, seine Sammelleidenschaft für Fächer und exotische Gegenstände sowie sein Interesse an „koketter Männermode“. Anschließend verortet sie Augusts Sammlung an Exotika und Asiatika, die er in sechs Zimmer zu einem Chinesischen Kabinett zusammengestellt hatte, im Kontext der Orientleidenschaft der Zeit. Im Einklang mit dem vorrangigen Erkenntnisinteresse stehen auch in diesem Abschnitt geschlechtliche Stereotypen im Umgang mit den Dingen im Vordergrund sowie Prozesse der Selbststilisierung durch den Konsum von diskursiv aufgeladenen Exotika. In der Analyse arbeitet die Verfasser:in heraus, dass für das Verhältnis von Romantik und Konsum eine spezifische Erwartungshaltung an die Welt und die darin enthaltenen Dinge entscheidend war. Dies hatte aber nur sehr wenig mit konkreten Anschaffungen zu tun und entsprechend wenig interessiert sich Kleßen für den eigentlich Konsum von Dingen oder ihre Handhabung.
Alles in allem ist Patricia Kleßen ein durchgehend gut lesbares Buch gelungen, dessen Argumentation nachvollziehbar aufbereitet ist. Sie ordnet August beziehungsweise dessen Schriften überzeugend in den historischen und literarischen Kontext ein. Dabei weist sie stimmig nach, wie er das romantische Künstlerideal adaptierte, romantische Vorstellungen zur Freiheit und Wandelbarkeit des Subjekts, gerade in Hinblick auf geschlechtliche Identität, für sich fruchtbar machte und so zu einem durch und durch romantischen Selbstentwurf gelangte. Allerdings bleibt die Deutung textimmanent und der Anschluss an die geschichtswissenschaftliche Adels- und Konsumforschung fällt weniger überzeugend aus. So schöpft Kleßen bedauerlicherweise auch das Potential des Konzepts der „gebildeten Stände“ längst nicht aus, dass ihr erlaubt hätte, die dichotomische Setzung von Adel auf der einen und Bürgertum auf der anderen Seite zu überwinden und so auch zu einer sozialgeschichtlich nuancierten Bewertung Augusts als typischen Vertreter der Schwellenzeit zu gelangen.
Rezension verfasst von Anne Sophie Overkamp
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61377