Jana-Katharina Mende
Das Konzept des Messianismus in der polnischen, französischen und deutschen Literatur der Romantik
Eine mehrsprachige Konzeptanalyse
Universitätsverlag Winter 2020
Der Begriff des Messianismus, über polnische Vermittlung durch Andrzej Towiański auch in den französischen und deutschen Sprachgebrauch der Mitte des 19. Jahrhunderts gelangt, war vor ca. 170 Jahren vermutlich außerhalb Polens präsenter als er es heute ist. Für Polen hat sich seine Aktualität bis in die Gegenwart erhalten. Davon zeugt das die Dissertation von Jana-Ka-tharina Mende einleitende Zitat der Grande Dame der polnischen Romantikforschung, Maria Janion, welches noch im Jahr 2016 den Messianismus als Fluch und Unglück für Polen bezeich-net. Die kritische Haltung Maria Janions, die davon ausgeht, dass der Messianismus lediglich dazu gedient habe, nationales Leid zu konstruieren, nimmt die Verfasserin der Dissertation zum Ausgangspunkt ihrer wissenschaftlichen Fragestellung, der vergleichenden Untersuchung derjenigen Texte, welche eine zentrale Grundlage für den Messianismus bilden, nämlich der Vorlesungen über die slawische Literatur [!], die der spätere polnische National-dichter Adam Mickiewicz am Collège de France in Paris in den Jahren 1840 bis 1844 in französischer Sprache gehalten hat. Dabei kombiniert die Verfasserin nicht nur sprach- und literatur-wissenschaftliche Ansätze, sondern geht auch komparatistisch vor, indem sie die Aufzeichnungen der frei gesprochenen Vorlesungen, teils in autorisierter Version, sowie deren Übersetzungen ins Polnische und ins Deutsche jeweils mithilfe digitaler Verfahren auf zentrale Begriffe des polnischen Messianismus hin untersucht und diese anhand zeitgenössischer Wörterbücher in ihrer jeweiligen semantischen Reichweite bestimmt.
Entsprechend der weitläufigen Konzeption der Arbeit werden verschiedene Forschungs-bereiche berührt: die Literaturwissenschaft, insbesondere die Mickiewicz-Forschung, die Linguistik, die Komparatistik, vor allem Übersetzungswissenschaft und Übersetzungsforschung, nicht zuletzt aber auch Philosophie und Theologie. Alles in allem handelt es sich um einen Ansatz, der Literatur- und Sprachwissenschaft in ihren jeweiligen kulturwissenschaftlichen Ausrichtungen zu vereinen sucht. Im Mittelpunkt steht stets der Begriff des Messianismus und dessen jeweiligen Inhalte im französischen, polnischen und deutschen Kontext. Im Einzelnen sind dies: Messianismus als Führungsaufgabe in Politik und Religion, insbesondere im Judentum und im Christentum (der Glaube an und das Warten auf einen Erlöser), Messianismus als nationales Streben im geteilten Polen und als europäische bzw. universelle Bewegung, Messianismus als erkenntnisphilosophischer und geschichtsphilosophischer Begriff, Messianismus als poetologischer Begriff, insbesondere auch als poetologisches Konzept in den Vorlesungen Adam Mickiewiczs, der Begriff des Messianismus als poetologisches Programm im europäischen Vergleich und schließlich Messianismen und Messiasse in der Literatur. Das Vorhaben ist gewaltig und beansprucht nicht wenig Raum für seine Umsetzung. Ermöglicht wird es durch die digitale Untersuchung der Quellentexte. Die tabellarische Parallelisierung der jeweiligen Belegstellen in den drei Sprachen Französisch, Deutsch und Polnisch lässt einerseits einen unmittelbaren Vergleich der drei Fassungen zu, andererseits hemmt sie den Lesefluss. Der Leser bzw. die Leserin werden geradezu erschlagen von der Fülle an Belegen. Für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, die eher gewohnt sind, diskursive Argumentationen zu rezipieren, stellt die Monografie eine gewisse Herausforderung dar und wird eigentlich erst ab Kapitel acht so richtig interessant. Zwar wird die Verfasserin dem Begriff des Messianismus in allen seinen Facetten durchaus gerecht und macht deutlich, inwiefern unterschiedliche kulturelle Traditionen sich in den konkreten Übersetzungsfällen bemerkbar machen, es handelt sich dabei aber immer auch um minutiöse Einzelheiten.
Das Kapitel über den Messianismus als poetologisches Programm im europäischen Vergleich gipfelt in einer Grafik, die Verbindungslinien zwischen Mickiewiczs Messianismuskonzept und benachbarten Konzepten der europäischen Romantik wie Mythologie, romantische Volkspoesie, Nationalliteratur, Dichter als Prophet, Romantischer Idealismus, Politik und Literatur, Ironie, Universalpoesie, romantische Eingebung, Literatur und Leben, romantische Wahrheit aufzeigt und benennt. Das abschließende Kapitel setzt dann mit dem Satz ein: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Konzept des Messianismus nicht zusammenfassen lässt“ (S. 405). Begründet wird dies mit der „romantischen Natur der Sache, die das Streben nach dem Absoluten mit der (sprachlichen) Unerreichbarkeit verbindet“ (ebd.). Beschreiben lasse sich jedoch die Rekonstruktion des Konzepts des Messianismus: Durch mehrfache Übersetzungsprozesse zwischen Sprachen sowie durch Übertragung von Mündlichkeit in Schriftlichkeit entstünden Mehrsprachigkeit und Polyphonie.
Messianismus sei, wie die vergleichende Analyse aller drei sprachlichen Versionen gezeigt habe, keinesfalls ein rein polnisches Phänomen, sondern es schwinge immer auch das Konzept einer europäischen und universellen Bewegung mit. Gehe der polnische Messianismus eindeutig auf deutsche philosophische Konzepte des Idealismus zurück, sei die französische Variante aufgrund der Sprach- und Kulturhierarchie innerhalb Europas im Bereich der Philosophie von einem solchen „Import“ (S. 406) unabhängig. Insofern als die Eingebung zur zentralen Erkenntnisform werde, stünden die poetologischen Konzepte des Messianismus unter dem Einfluss romantischer Theorie. Mit der Bestimmung des Messianismus als poetologischem Konzept komme auch der Literatur eine neue Bestimmung zu, nämlich im Sinne von Sprache als mystischer Handlung. Literatur und Leben träten damit in Verbindung, und die Literaturgeschichte erhalte die Möglichkeit der nationalen Identifikation. Dies gilt vor allem für die polnische Literatur, der in Zeiten der Staatenlosigkeit die Rolle der nationalen Identifikation zukam. Zugleich lässt sich ein solches Konzept natürlich auch auf die Situation im deutschsprachigen Bereich Mitte des 19. Jahrhunderts übertragen.
Trotz gewisser Differenzen der einzelnen sprachlichen Versionen hinsichtlich der philosophischen und politischen Konnotationen lasse sich im Hinblick auf das poetologische Konzept eine große Gemeinsamkeit feststellen. Im Streben nach dem Absoluten, dem Fortschrittsdenken und der Erkenntnis einer neuen Wahrheit greife der Messianismus auf die deutsche Frühromantik zurück, die offenbar alle drei Romantiken geprägt hat. Gleichwohl sei der Messianismus nicht nur ein neuer Name für ein altes Konzept, sondern erzeuge gerade durch seine Bezeichnung aus bereits bestehenden Grundlagen etwas Neues. Weder sei die Romantik identisch mit dem Messianismus, noch der Messianismus mit der Romantik, in jedem Fall aber lasse er sich durch das Vorhandensein der Übersetzungen als europäisches Konzept verstehen. In Anbetracht der hier kurz paraphrasierten Erträge der Untersuchung erscheint aus literaturwissenschaftlicher Sicht die Bestimmung des Messianismus als poetologisches Konzept, das in verschiedener Hinsicht eingebettet ist in die europäische Romantik, das wichtigste Ergebnis zu sein.
Bei der Darlegung des Inhalts von Mickiewiczs Vorlesungen stößt die Verfasserin allerdings auch an gewisse Grenzen ihrer Kompetenz. Wenn sie z. B. über Mickiewiczs Äußerungen zur serbischen Literatur schreibt: „Die Darstellung gibt also eher Einblick in die derzeitige Situation der Aufarbeitung serbischer Volksdichtung als in eine kohärente Literaturgeschichte“ (S. 303), so scheint ihr nicht bewusst zu sein, dass Mickiewiczs Quelle, die Untersuchungen und Anthologien von Vuk Stefanović Karadžić, auf die sie selbst verweist, sich ausschließlich auf Folklore bezieht und dass vor allem die neuere serbische Literatur Anfang des 19. Jahrhunderts noch ganz an ihren Anfängen steht. Es ist Vuks Sprachreform, die erst ab Mitte des 19. Jahr-hunderts eine nennenswerte serbische Literatur hervorbringt und die (einschließlich ihrer wenigen Vorläufer im ersten Jahrhundertdrittel) zur Zeit der Vorlesungen am Collège de France im übrigen Europa kaum bekannt gewesen sein dürfte. Auch dürfte es kaum verwundern, dass für Mickiewicz die damalige russische Literatur mit Puškin endet (S. 305), denn tatsächlich dauert es noch ca. zehn Jahre, bis die großen russischen Realisten auch im westlichen Europa wahrgenommen werden. Ebenso wenig erstaunt es, dass es in der polnischen Literatur eine „école lithuanienne“ und eine „école ucrainienne“ gegeben hat, waren doch Polen und Litauen in Personalunion vereint, und das Territorium dieses Staates umfasste weite Teile der heutigen westlichen Ukraine. Die ukrainische Schule ist Teil der polnischen Romantik und wird bis heute in literaturgeschichtlichen Darstellungen erwähnt. Selbstverständlich sind die entsprechenden Texte auf Polnisch verfasst.
Gleichwohl ist die Leistung der Verfasserin, die verschiedenen Ausprägungen des Messianismusbegriffes akribisch zu untersuchen, zweifellos groß. Im Ausblick verweist sie zudem auf das Fortwirken des Messianismus bis in die Gegenwart nicht nur in der polnischen Literatur, u. a. bei Walter Benjamin, Ernst Bloch, Stanisław Wyspiański bis hin zu Olga Tokarczuk, die sich im Roman Księgi Jakubowe [Die Jakobsbücher] mit dem Begründer des Frankismus, Jakob Frank, auseinandersetzt. Schließlich regt die Verfasserin Untersuchungen zum Messianismus über einzelne (vor allem polnische) Autoren auf der Grundlage der von ihr gewonnenen Erkenntnisse an. Ob sich aber ihre Methode der Kombination von linguistischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen außerhalb ihres eigenen Wirkungsbereichs durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Die Dissertation, die eingangs den Anspruch erhebt, das bisher nicht deutlich formulierte Konzept des Messianismus neu zu bestimmen, erweist sich als eine Arbeit, die im Grunde umfassende Vorkenntnisse in allen drei behandelten Sprachen und Literaturen voraussetzt, damit die neu gewonnenen Erkenntnisse im Detail gewürdigt werden können. Wer sich lediglich über den Messianismus informieren möchte, sei auf die von der Verfasserin auf S. 21, Fußnote 13, genannte Quelle verwiesen.
Rezension verfasst von Andrea Meyer-Fraatz
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61420