Stefan Matuschek

Der gedichtete Himmel

Eine Geschichte der Romantik

C.H. Beck 2021

Eine Kippfigur ist ein Bild, das eine zweifache (oder mehrfache) Wahrnehmung zulässt. In dem berühmten Beispiel Wittgensteins aus seiner Sprachphilosophie ist es eine Abbildung, in der man entweder einen Enten- oder Hasenkopf sehen kann; es liegt im Auge des Betrachters, diesen „Aspektwechsel“ durchzuführen. Einen solchen Aspektwechsel nimmt auch der Jenaer Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek in seiner Geschichte der Romantik vor, wenn er die Romantik als explizit moderne Bewegung vorstellt.

Damit folgt Matuschek einem Trend, wie er sich in der deutschen akademischen Romantikforschung seit den 1960er Jahren zunächst mit Blick auf die Frühromantik durchgesetzt hat, diese nicht als Gegenbewegung zur Aufklärung zu verstehen, sondern als deren Fortsetzung. Oder, wie Matuschek es ausdrückt: Die Romantik ist „alles andere als eine Gegenaufklärung – sie ist nach der Aufklärung der zweite entscheidende Schritt zur europäischen Moderne“ (S. 24). So deutete es schon Karl Heinz Bohrer in Die Kritik der Romantik von 1989, der nicht mehr nur von der Frühromantik einen Impuls für die Moderne ausgehen sah (nämlich den Begriff der „Reflexion“, das Bewusste), sondern auch von der späteren Romantik (nämlich das Phantastische, das Unbewusste). Auch Rüdiger Safranski schloss sich in seiner populären Gesamtschau zur Romantik von 2007 diesem Moderne-Diskurs an. Von Safranski grenzt Matuschek sich dann allerdings entschieden ab, wenn er statt einer „deutschen Nabelschau“ auf eine europäische Perspektive abzielt und völkerpsychologische Deutungen hinter sich lassen will. Diese sieht er etwa in Lukács' prominenter These vom Nährboden der Romantik für den Nationalsozialismus angelegt, aber auch in Heines Kritik am Romantisch-Deutschen. Dagegen betont Matuschek eine historische Entwicklung, die nicht zwangsläufig gewesen sei: „Es gibt kein Schicksal eines ‚romantischen Deutschland‘. Was es gibt, sind die Verbrechen und die Verantwortung der nationalsozialistischen Propagandisten und Akteure.“ (S. 29) Die europäische Perspektive ist also gegen das Klischee der Romantik als Angelegenheit der „deutschen Seele“ gerichtet. Zwar beginnt auch Matuschek mit den deutschen Frühromantikern, deren Theorie die entscheidenden Grundlagen für den Romantikdiskurs gelegt habe. Die Phänomene, die sich damit erklären ließen, gingen aber weit über Deutschland hinaus und der Theorie zum Teil voraus. Eine frühe vermeintlich progressive und späte reaktionäre Phase der Romantik spielt Matuschek nicht gegeneinander aus. Gleichwohl wirkt es etwas zynisch, dass Heine als „das beste Beispiel für einen nicht reaktionär-patriotisch-katholischen Romantiker“ (S. 47) zur Ehrenrettung für etwas herangezogen wird, das er bei aller Ambivalenz doch entschieden kritisiert hat.

Entscheidend sei das innovative Potential der Romantik. Es liege weniger in „neuen Überzeugungen, Meinungen oder Thesen als vielmehr in einer neuen Darstellungsweise“. (S. 10) Nicht was, sondern wie es dargestellt wird, kennzeichne die Romantik und dabei kommt der Kippfigur in Matuscheks Erläuterungen eine zentrale Rolle zu: Er zeigt dies unmittelbar einleuchtend am Beispiel von Eichendorffs Gedicht Mondnacht, das auch den Titel des Buchs – Der gedichtete Himmel – erklärt. Mit dem Seelenflug-Motiv eröffne das Gedicht eine transzendente Perspektive, die man als christlichen Jenseits-Glauben deuten könne, aber eben nicht müsse. Die Metaphorik bleibe offen genug, sodass sie am Ende des Aufklärungsjahrhunderts, in dem das Bröckeln traditioneller christlicher Lehren auch als Verlust von Gewissheiten empfunden wurde, als „sprachästhetisches Angebot“ verstanden werden könne. Als Kippfigur zwischen christlicher Deutung und subjektiver Naturerfahrung stelle diese romantische Neuerung damit ein Verfahren dar, „die metaphysische Obdachlosigkeit durch imaginäre Bautätigkeit zu beheben“. (S. 11)

Matuschek geht es also darum, die Romantik als eine fortschrittliche Bewegung darzustellen, und zwar in dreierlei Hinsicht: als entscheidenden Impuls für die Moderne, als Stilphänomen und neuen weltanschaulichen Modus sowie als gesamteuropäisches und transatlantisches Phänomen. Im zweiten Kapitel kontextualisiert er dies eindrucksvoll, wenn er mit Shakespeares Hamlet und Cervantes Don Quijote „Urtypen des Romantikers“ vorstellt, oder das Zeitgenössische der Romantik im Widerstreit zum Klassizismus im Vergleich mit Frankreich, Italien, England beleuchtet. Das dritte Kapitel blickt auf die Romantik nicht nur als Reaktion auf die Französische Revolution, sondern auch auf die Stilrevolutionen der Romantik. Auch im vierten Kapitel geht es um eine Revolution: die Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts (die zum Durchbruch des Romans führte). Ihr widmet sich Matuschek am Beispiel des Fantastischen, von Märchen und Schauerromantik, bevor er auf den populärsten und gleichzeitig umstrittensten Aspekt der Romantik eingeht: die „kulturpolitische Nationalisierung“ (Kapitel 5), bei der sich die Entstehung der philologisch-historischen Wissenschaften mit nationaler Identitätsstiftung verquickte. Matuschek unterscheidet dabei sowohl zwischen Romantikdiskurs und -phänomen, als auch zwischen Romantik als Epoche und Romantik als Modell (Kapitel 6). Was etwa auch bei Safranski schon mit „die Romantik“ und „das Romantische“ bezeichnet wird, findet hier noch eine Prononcierung, indem das Modelhafte der neuen romantischen Stilphänomene hervorgehoben wird: „Die romantische Literatur schafft ein neues Darstellungs- und Deutungsmodell von Transzendenz, das viele moderne Schriftsteller aufgreifen. Es wird zu einem Erfolgsmodell.“ (S. 354) Beispielhaft dafür werden etwa Baudelaire und Rilke oder Salingers Der Fänger im Roggen angeführt. Hier – wie mehrfach in seinen Ausführungen – überschreitet Matuschek zudem die Grenzen literarischer Produktionen, wenn er neben surrealistischer Literatur auch auf Malerei eingeht.

Damit legt Matuschek eine gut lesbare, anschauliche aber deswegen nicht unterkomplexe Synthese seiner Arbeit zur Romantik der letzten 20 Jahre vor. Er bildet gewissermaßen für ein breites Publikum den aktuellen Forschungsstand innerhalb der akademischen Romantikforschung ab, der sich in den letzten Jahrzehnten wohl endgültig im Sinne einer Rehabilitierung der Romantik gewandelt hat. Das zeigt sich etwa auch an der Nüchternheit, mit der Matuschek seine Thesen vorträgt. Während dies durchaus eine Stärke des Buches darstellt, bleibt die kontinuierliche Provokation, die Romantikdeutungen immer wieder darstellten – bei allem berechtigten Hinweis darauf, dass die Romantik kein Schicksalszusammenhang sei – etwas unverständlich. Dies wird erst mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte deutlich, die – wohl auch dem publikumsfreundlichen Format geschuldet – etwas einseitig erscheint. Dass bis in die 1960er Jahre die „restaurative Spätphase des Romantikverständnisses“ (S. 200) dominiert habe, gilt dort, wo die von Walter Benjamins Entdeckung der Frühromantik für die Moderne ausgehende Traditionslinie ausgeklammert wird. Mit Josef Körner, Käte Hamburger, Käte Friedemann, Ludwig Marcuse u. a. gab es eine ganze Reihe von Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die Aufklärung und Romantik zusammendachten, als Juden aus dem deutschen Forschungskontext allerdings ausgeschlossen wurden. Auch Lukács hatte in früheren Essays sehr viel differenziertere Thesen zur Romantik formuliert als die spätere von der „Zerstörung der Vernunft“. Dass Matuschek den Akzent seines Buches heute also immer noch als „ungewohnt“ bezeichnen kann, mag auch mit diesem Bruch zu tun haben, den die Romantikforschung in den 1930er Jahren erfahren hat, und der in der universitären Forschung zu einer anderen Romantik erst in den 1960er Jahren mäßig gekittet wurde.

Rezension verfasst von Annette Wolf

 

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61609

Der gedichtete Himmel