Hendrick Heimböckel
Epiphanien
Religiöse Erfahrungen in deutschsprachiger Prosa der ästhetischen Moderne
Hendrick Heimböckels Dissertation entstand am Graduiertenkolleg „Modell Romantik. Variation, Reichweite, Aktualität“. Sie zeigt, dass dessen Leitfrage nach der Romantik als Modell für späteres Kunstschaffen gut gestellt ist. Heimböckel widmet sich der erzählerischen Darstellung von Epiphanien und legt eine Studie in der Tradition der Erzähltheorie vor. Sie bezieht sich auf den ‚Inhalt‘ der Texte, insbesondere deren Weltenbau. Heimböckel erarbeitet eine Tabelle und Formeln, mit denen sich beschreiben lässt, welchen Realitätsgrad Epiphanien in den jeweiligen Texten haben. Die Wahrnehmung und Interpretation der Epiphanien durch die Figuren in den erzählten Welten kennzeichnet diese als fantastisch, wunderbar oder unheimlich. Die Kategorien findet Heimböckel in Todorovs Einführung in die fantastische Literatur. Die große Frage seiner Untersuchungen ist die nach der literarischen Verhandlung transzendentaler Phänomene im Zeitalter von und nach Religionskritik und Romantik.
Hintergrund der Analysen bildet also die Verschiebung von dogmatisch, hierarchisch und traditionell vorgegebener Religion zur subjektiven religiösen Erfahrung, die sich als Reaktion auf die aufklärerische Religionskritik vollzieht. Hier kann er vor allem auf Bernd Auerochs’ Die Entstehung der Kunstreligion und den von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin herausgegebenen Sammelband Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung aufbauen. Heimböckels Blick schweift immer wieder bewusst von der Literatur zu den jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten. Obwohl er das nicht in dieser Radikalität formuliert, wird doch deutlich – und das ist aufschlussreich –, dass in der romantischen Literatur im Grunde Religion für eine rationalisierte, kapitalistische Welt des Fortschritts neu erfunden wird. Und das ist nur möglich, weil ‚Glauben‘ in das Subjekt einer immer individualistischer werdenden Gesellschaft verlagert wird. Damit wird Religion unangreifbar, weil sie nicht mehr „intersubjektiv nachweisbar ist“ (S. 415) und auch nicht zu sein braucht. Das wiederum hat zur Folge, dass sich transzendentale Phänomene im 19. und 20. Jahrhundert „hegelianischer und nietzscheanischer Todesbekundungen der Religion zum Trotz erhalten.“ (S. 414)
Heimböckel nun untersucht in seiner zweigeteilten Studie, erstens wie die romantische Literatur Epiphanien darstellt und zweitens wie die Literatur der ‚Synthetischen Moderne‘ diese Modell-gewordenen Verfahren fortführt und/oder verändert. Die Synthetische Moderne der deutschsprachigen Literatur setzt Heimböckel in Berufung auf Gustav Frank und Stefan Scherer von Mitte der 1920er bis Mitte der 1950er Jahre an. Diese eher ungewöhnliche Zeitspanne gründet darin, dass Heimböckel die formalen Eigenheiten der Texte berücksichtigt, die über Nationalsozialismus und zweiten Weltkrieg hinweg vergleichbar bleiben. Das ist eine wichtige und richtige Entscheidung, die Kontinuitäten in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen Deutschlands nicht verkennt. Der Vergleich mit den Vorgängern zeigt, dass die deutschsprachigen Schriftsteller*innen Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch an den bahnbrechenden Texten der romantischen ‚Epoche‘ geschult sind.
Heimböckels Begriff der literarisch dargestellten Epiphanie ist relativ weit. Grob gesagt versteht er darunter Erkenntnis, die Figuren nicht durch rationale Prozesse, sondern durch plötzliche übernatürliche Eingebungen erlangen. Wie die betroffenen Charaktere selbst und ihre Umwelt sie einordnen, entscheidet darüber, ob die erzählte Welt fantastisch ist oder nicht. Während sich in der Romantik die Tendenz abzeichnet, ‚Kunst‘ als Auslöser für Epiphanien zu inszenieren, sind es in der Synthetischen Moderne eher Naturerfahrungen. Das arbeitet Heimböckel anhand eines exemplarisch gewählten Korpus heraus.
Er beginnt mit Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, die er als einflussreichen Gründungstext für die neue kunstreligiöse Literatur des post-aufklärerischen 19. Jahrhunderts betrachtet. Es folgen Novalis’ Die Lehrlinge zu Sais und Heinrich von Ofterdingen sowie Hoffmanns Einsiedler Serapion und Die Elixiere des Teufels. Die Gabe der Einbildungskraft ist in diesen Werken die entscheidende Bedingung dafür, dass Figuren überhaupt Epiphanien erleben können. Dadurch erhalten diese Szenen „eine ästhetische bzw. poetologische Funktion“ (S. 187). Wie das Göttliche den Figuren erscheint, so erscheint dem Künstler das Werk.
Für die Synthetische Moderne wählt Heimböckel: Heimito von Doderers Die Bresche (1924) und Die Dämonen (1956), Elisabeth Langgässers Gang durch das Ried (1936) und Märkische Argonautenfahrt (postum, 1950) sowie Hans Henny Jahnns Nacht aus Blei (1956) und seine Trilogie Fluß ohne Ufer (1949–1961). Schon in den romantischen Texten spielen sich die Epiphanien in der Regel auf der Binnenebene, „in Erzählungen und Träumen“ (S. 192), ab. In den Texten der Synthetischen Moderne werden sie vollends zu ‚realistischen‘ psychischen Prozessen, die jedoch „zu den Epiphanien in der romantischen Prosa funktional äquivalent“ (S. 202) sind. In beiden Fällen haben die Darstellungen übernatürlicher Erkenntnismomente eine poetologische Funktion und arbeiten weiter an dem Mythos einer religiösen Dimension von Kunst. Und in beiden Fällen wird die „Deutung von Wirklichkeit anhand politischer Einstellungen […], sofern sie überhaupt Thema ist, marginalisiert und kritisiert.“ (S. 415) Heimböckel leitet aus den Analysen allgemeine Formeln ab, so dass seine Ergebnisse trotz eines notwendigerweise eingegrenzten Korpus, auf beliebige weitere Werke anwendbar sind. Die romantischen Modelle und die jüngeren Variationen können als Schablonen dienen, um Gemeinsamkeiten und Abweichungen aufzuspüren.
Das Motiv ‚Epiphanie‘ entpuppt sich als punctum saliens und „paradigmatisches Verfahren für moderne Prosa“ (S. 5), weil mit der Romantik die Säkularisierung der Kunst einsetzt und die Religion zugleich ein Refugium in der Kunst findet. An der Gretchenfrage scheiden sich die Geister, denn es kann durchaus vermessen sein, die Religion ganz selbstverständlich in den Bereich des Fantastischen zu (ver)bannen. Vielleicht hätte Heimböckel dem Schock etwas mehr Beachtung schenken können, den es bedeuten muss, wenn Epiphanien ‚plötzlich‘ nicht mehr zur ‚realistischen‘ Literatur gehören. Dennoch erweisen sich religiöses Vokabular, religiöse Metaphorik und Symbolik als ungebrochen relevant, weil sie Dinge aussprechbar machen, für die es jenseits der religiösen keine Sprache gibt. Anzurechnen ist Heimböckel seine Sensibilität dafür, dass literarische Epiphanien Leid und Unrecht als etwas Schicksalhaftes verklären können – ein Umstand, der zu Zeiten der Romantik nicht so problematisch ist wie kurz vor, während und nach Auschwitz. Heimböckel nennt es „spezifisch modern“ (S. 199), wenn die ‚Realität‘ von Epiphanien innerhalb des Textes in Frage gestellt wird, wenn also die Figuren die gleiche Meinung darüber haben wie die Leser*innen in einer post-aufklärerischen Welt. Er zieht daraus den wichtigen Schluss, dass dadurch die „empirische Realität […] implizit zum interpretationsbedürftigen Text“ (S. 199) erklärt wird.
Rezension verfasst von Julia Ingold
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61952