Alexander Stöger

Epistemische Tugenden im deutschen und britischen Galvanismusdiskurs um 1800

Wilhelm Fink 2020

Wie der Titel der knapp 600 Seiten starken Dissertationsschrift aussagt, geht es ihrem Autor Alexander Stöger nicht um die experimentalphysikalische Handlungsrealität des Galvanismus, sondern um die epistemischen Tugenden eines Diskurses, der auf die Forschungsrealität des Galvanismus Bezug nimmt, sie aber nicht exakt abbildet. Es ist also kein weiteres Buch, das herausfinden möchte, was damals in den Forschungslaboratorien, Studierstuben oder Studentenbuden an experimenteller Arbeit geleistet worden ist, kein Buch, dass uns sagen möchte, wie es damals wirklich war, sondern eines, das die Konzentration des fragenden Interesses auf die in dem Wissenschaftsdiskurs verhandelten Werte lenkt, die zu ihrer Zeit darüber mitentschieden haben, was unter Wissenschaft verstanden wurde.

Die Einleitung dient dabei der Orientierung, führt in die Themenstellung ein und rekapituliert den Forschungsstand. Aber vor allem stellt sie das für die Arbeit zentrale Konzept der epistemischen Tugenden vor. Mit den epistemischen Tugenden greift Stöger den Forschungstrend der Virtue Epistemology auf, ein ursprünglich in der Philosophie diskutierter erkenntnistheoretischer Ansatz, der sich in abgewandelter Form seit ein oder zwei Jahrzehnten in der sich kulturwissenschaftlich verstehenden Wissenschaftsgeschichte zunehmend größerer Beliebtheit erfreut. Epistemische Tugenden sind Wertvorstellungen, die zu jedem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess gehören. Sie sind, und hier bezieht sich Stöger auf Lorraine Daston und Peter Galison, „keine festgelegten, unveränderlichen Größen oder gar Entitäten“, sondern sie „entstehen in einem wissenschaftskulturellen Kontext und passen sich technologischen, moralischen und kulturellen Entwicklungen an, erweitern und verengen sich oder werden ersetzt“. (S. 3)

Welche epistemischen Tugenden für die Forschung und den Erkenntnisfortschritt wichtig sind, wird dabei zwischen den am Diskurs beteiligten Wissenschaftlern verhandelt, und zwar unabhängig davon, ob sie als Selbstbeschreibungen von den wissenschaftlichen Handelnden eingeführt oder diesen seitens der wissenschaftlichen Gemeinschaft zugeschrieben werden. Entscheidend ist nur, dass sie allgemein akzeptiert und sowohl handlungspraktisch für die Experimentierenden als auch diskurstheoretisch für die Schreibenden relevant sind.

Nach Stöger lassen sich im italienisch-deutschen Galvanismusdiskurs fünf epistemische Tugenden unterscheiden: Bescheidenheit, Gewissenhaftigkeit, Originalität, Gelehrtheit und Leidenschaft. Zu diesen kommt im britischen Diskurs noch die Tugend Gesellschaftsfähigkeit hinzu. „Bescheidenheit bezieht sich auf die Interpretation des Beobachteten, die Konstruktion der Theorien und die Unterscheidung zwischen Erfahrung, Deutung und Vermutung.“ (S. 32) „Gewissenhaftigkeit bezieht sich auf die Konzeption, Durchführung und Auswertung empirischer Experimente und Beobachtungen.“ (S. 32) „Originalität drückt sich in innovativen Versuchsanordnungen aus, durch die spezifische oder komplexe Fragen mit experimentellen Methoden beantwortet werden können.“ (S. 33) „Gelehrtheit meint, die eigene Forschung im Kontext des Diskurses zu verorten.“ (S. 33) „Leidenschaft äußert sich in der Mühe und Anstrengung, die der Forscher auf sich zu nehmen bereit ist, um zu neuen und wichtigen Erkenntnissen zu gelangen.“ (S. 33) Selbstverständlich gibt es auch epistemische Laster oder Untugenden wie etwa die Ruhmsucht. Aber diese werden im Diskurs kaum erwähnt. Diese fünf bzw. sechs epistemischen Tugenden bilden nach Stöger „das Vokabular, um die komplexen Zusammenhänge von individuellem Anspruch, kollektivem Verständnis und rhetorisch-argumentativen Darstellungsstrategien naturwissenschaftlicher Identität im Galvanismusdiskurs zu untersuchen.“ (S. 35f.)

Das erste Kapitel skizziert den Beginn der Debatte, die in Italien mit dem Schlagabtausch zwischen Luigi Galvani und Alessandro Volta startet. Bereits in dieser Kontroverse spielen nicht nur die mitgeteilten Fakten, sondern auch die Art der Mitteilung der Fakten eine Rolle. Das „persuasive Moment“ in Galvanis Schrift De viribus (S. 1791) markiert die von Anfang an bestehende Verschränkung des Entdeckungs- und Rechtfertigungszusammenhangs. Galvani wusste, dass er seine Leserschaft „von seiner Integrität als Wissenschaftler überzeugen musste“ (S. 54). Ähnliches gilt für Volta. Beide orientierten sich in der Darstellung ihrer Ergebnisse an den epistemischen Werten, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als zentral betrachtet wurden und so eine gemeinsame Wissenschaftskultur ausmachte, die für das Selbstverständnis der Naturforscher von Bedeutung war.

Das zweite Kapitel behandelt den deutschen Galvanismusdiskurs im Zeitraum von 1792 bis 1798. Hierfür untersucht Stöger die monografischen Diskursbeiträge von Christoph Heinrich Pfaff, Alexander von Humboldt und Johann Wilhelm Ritter. Pfaff, der sich durch die epistemischen Tugenden der Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit auszeichnet, gelingt es durch seine handbuchartige Zusammenfassung des aktuellen Stands der Auseinandersetzung und Beschäftigung mit dem Galvanismus diesen als Diskurs zu konstruieren. Alexander von Humboldt favorisiert andere epistemische Tugenden: Für ihn ist die wichtigste epistemische Tugend die Originalität. Er möchte Neues und Unbeachtetes erschließen. Das setzt voraus, dass er das Bekannte kennt und dementsprechend über Gelehrsamkeit verfügen muss. In seinen Selbstexperimenten kommt dagegen die epistemische Tugend der Leidenschaft zum Tragen, die Stöger als Beleg für epistemische Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit deutet, auch wenn die letztere, für Alexander von Humboldt, „eher untypisch“ (S. 220) sei. Auch Johann Wilhelm Ritter will seine Leserschaft nicht nur von seiner Theorie überzeugen, sondern auch von seinen Qualitäten als Wissenschaftler. Bei ihm stehen Gewissenhaftigkeit, Bescheidenheit und Leidenschaft im Vordergrund, die ersten beiden sind unerlässlich, »um durch Experimente zu Erkenntnis zu kommen«, die letztere wiederum, weil sie ihn antreibt (S. 360).

Das dritte Kapitel untersucht den deutschen Galvanismusdiskurs am Beispiel der Rezensionen, die im Zeitraum von 1798 bis 1805 zu den vorgestellten Monografien publiziert wurden. Den Rezensenten (und Zeitschriftenherausgebern) kommt nach Stöger eine wichtige Rolle bei der „Konstruktion des idealen Wissenschaftlers“ zu. Sie sind nicht nur „Wissensverwalter“, sondern auch „epistemische Sittenwächter“ und „Regulatoren“. Sie wachen darüber, „dass die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft geforderten epistemischen Werte eingehalten wurden“ (S. 366). Die Betrachtung der Rezensionen eröffnet deshalb nach Stöger neue Einblicke in die „Entwicklung der modernen Naturwissenschaften“ (S. 429).

Das vierte Kapitel thematisiert den zeitverzögert einsetzenden britischen Galvanismusdiskurs, in dem der Italiener Giovanni Aldini scheiterte, weil er nicht über die nötige epistemische Gesellschaftsfähigkeit verfügte. Humphrey Davy dagegen gelang es, „durch geschickte Darstellung der richtigen epistemischen Tugenden zu einem der gefragtesten Forscher Londons zu werden“. (S. 433)

Das fünfte Kapitel handelt schließlich vom „Erbe des Galvanismusdiskurses“ und zieht Linien zu den Bereichen Elektromagnetismus, Elektrochemie und Elektrophysiologie, deutet aber auch an, welchen Einfluss er auf Kunst und Literatur hatte.

Die Stärken der Dissertation Stögers liegen darin, dass sie im Rückgriff auf das Konzept der epistemischen Tugenden die Geschichte des Galvanismus aus einer erfrischend neuen Perspektive erzählt und die Lesenden mit einer originellen Aufarbeitung des Galvanismusdikurses überrascht. Der Tugendepistemologie erschließt sie ein fruchtbares Anwendungsbeispiel, und auch die Erforschung des Galvanismus um 1800 wird durch die Berücksichtigung der epistemologischen Tugenden neue Impulse erhalten. Die Arbeit verfügt also über die Tugend der epistemischen Originalität. Was die der Gelehrsamkeit anlangt, ist festzuhalten, dass Stöger einen großen Teil der Sekundärliteratur zum Galvanismus auswertet und sich gründlich in die Virtue Epistemology eingelesen hat. Der Nachweis der ausgewerteten Sekundärliteratur in den Fußnoten ist wiederum ein Beleg für die epistemische Tugend der Bescheidenheit. Und für die epistemische Tugend der Leidenschaft spricht nicht zuletzt der Umfang. Dass Stöger in der Engführung der Argumentation das Konzept der epistemischen Tugenden manchmal bis an die Belastungsgrenze führt und der ambivalente Eindruck entsteht, dass auf der einen Seite die Tugenden ohne handelndes Subjekt in das Geschehen eingreifen und auf der anderen Seite die Naturforscher nichts anderes als ihre epistemischen Tugenden im Sinne haben und schon fast zu Selbstdarstellern werden, müssen die Lesenden aushalten. Wenn sie es tun, werden sie nach der Lektüre damit belohnt, dass sie nun nicht nur die Welt des Galvanismusdiskurses, sondern vielleicht auch die der Wissenschaft insgesamt mit anderen Augen sehen.

Rezension verfasst von Thomas Bach

 

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61728

Epistemische Tugenden im deutschen und britischen Galvanismusdiskurs um 1800