Frederike Middelhoff (Hg.)
literatur für leser:innen
Verbriefte Frühromantik, weiblich gewendet
„Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch“. Mit dem vielleicht bekanntesten von Novalis’ Aphorismen beginnt die von Friederike Middelhoff herausgegebene Publikation Verbriefte Frühromantik, weiblich gewendet, die in der Zeitschrift Literatur für Leser:innen (44. Jahrgang) als zweites Heft des Jahres 2021 erschienen ist. Neben dieser programmatischen Passage, in der der Brief sich als strahlkräftiges Bindeglied zwischen innerem Leben und poetischem Ausdruck herauskristallisiert, sind drei weitere hier zusammengefasste Zitate zu finden. Friedrich Schlegels Konzeption (aus Athäneum, Fragment 77) des Briefwechsels als einer Kette von Fragmenten, die das Ich in der Dynamik eines vergrößerten Dialogs reflektieren; dann eine Briefpassage von Dorothea Veit an Friedrich Schleiermacher, in der sie sich als Auslegerin und Ergänzerin der kurzen Mitteilungen ihres Lebenspartners vorstellt; schließlich eine selbstbewusste Briefpassage von Karoline Schlegel an Novalis, die von deren brieflicher Beziehung auf Augenhöhe zeugt. Durch diese ausgewählten Zitate sind bereits viele Aspekte dieses interessanten Sammelbandes angedeutet: „der Brief“ ist schon längst als poetologisches Mittel der Frühromantik in den Fokus der Forschung gerückt, aber hier wird die Perspektive durch eine dezidierte Wendung zum Weiblichen verändert und damit ein neuer Blick ermöglicht.
Seit mehr als 50 Jahren ist anerkannt, dass Frauen ein aktiver Teil des Frühromantischen Projekts der Sympoesie waren; wie konstitutiv die kollaborativen Momente und gemeinsam erprobten Formen und Strukturen der romantischen Schreibpraxis (für literarische Texte und Übersetzungen wie fürs Briefeschreiben) gewesen waren; wie wichtig die Rolle des (ohne intellektuelle Agentinnen undenkbaren) Salons für Rezeption und Wirkung literarischer und gesellschaftlicher Phänomene der Frühromantik war; aber noch heute bleiben Forschungslücken und Desiderata in dieser Hinsicht bestehen. „[D]ie Romantikforschung [scheint sich] immer noch schwer zu tun, der Relevanz und dem Status der Frauen insbesondere im frühromantischen Netzwerk Rechnung zu tragen“, so die Herausgeberin in ihrem Editorial (S. 107). Leider blenden auch jüngst erschienene wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Geschichte der Romantik (und der romantischen Literatur) Anteil und Einfluss der Frauen einfach aus. Middelhoff nennt in diesem Kontext (nur ein Beispiel unter vielen!) das 2020 erschienene Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, in dem nur Rahel Levin Varnhagen, Bettina von Arnim, Annette von Droste-Hülshoff und Germaine De Staël mit eigenen Kapiteleinträgen präsent sind. Das Handbuch reflektiert aber den Stand der Forschung und der aktuellen Editionen, da kaum editorisch verlässliche Ausgaben von Briefen der Romantikerinnen (außer den Obengenannten) vorliegen. Kanonisiert wurden damals wie heute hauptsächlich männliche Namen; und wer nicht namhaft ist, ist auch nicht nennenswert, erfährt also keine wissenschaftliche Edition (weder von literarischen Texten noch von Korrespondenzen); ohne Werk wiederum bleibt kein Name: es entsteht ein Teufelskreis, der sich nur durch einen ganz starken Paradigmenwechsel unterbrechen lässt.
Die Publikation, die den Untertitel Korrespondentinnen im Gespräch mit Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg trägt, beleuchtet nicht nur die von der Forschung oft nur als Nebenfiguren wahrgenommenen Persönlichkeiten in ihrer brieflichen Interaktion mit den zwei Romantikern und scheinbar „marginale“ Themen und Praktiken rund um den Brief. Sie ist selbst das Produkt einer Reflexion „am Rande“ des Kanons, die den Paradigmenwechsel erst ermöglicht hat. In diesem Band sind die Ergebnisse eines zweitägigen Workshops von Wissenschaftler:innen versammelt, die die Ausstellung Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg vom 26. April bis zum 8. September 2022 im Deutsches Romantik Museum Frankfurt am Main begleitet hat. Die Ausstellung feierte zwar das 250. Jubiläums des Geburtsjahres der zwei kanonisierten Schriftsteller, aber die Teilnehmer:innen des Workshops widmeten sich vorrangig den Autorinnen, Akteurinnen und weibliche Verwandten, die mit beiden Romantikern korrespondiert hatten. Hier stehen die kanonisierten männlichen Namen der Protagonisten nicht als Absender im Mittelpunkt, vielmehr werden sie hier als Empfänger oder als Gegenstand des brieflichen und weiblichen Diskurses wahrgenommen. Diskutiert werden hier aber auch Schreibpraktiken sowie Genderproblematiken, zwischen den Zeilen geschrieben und nicht explizit formuliert, und die Beziehung zwischen Körperlichkeit/Raum und Text, die Vielfalt der Formen und die Vielschichtigkeit der Sprachregister, Kommunikationsstrategien, Mehrstimmigkeit in den Briefen, Erwartungen und Geselligkeitsformen und -formeln. In dieser Hinsicht sind die Briefe, gerade weil sie immer Fragmente eines Diskurses und eines Dialogs sind, dynamische Kommunikationsformate von Individuen und deren Welten, in denen das gemeinsame Schreiben oft konstitutiv war. Und die brieflichen Praktiken spiegeln „am wahrsten“ die Wünsche, die Erwartungen, die Strategien, auch die Fragilität einer neuen Frauengeneration in der Frühromantik. Der konventionelle Fokus auf die Schreibverfahren der Männer wird dadurch ein Instrument, um neue und individuelle Perspektiven zu eröffnen und die einzelnen Korrespondentinnen ins Zentrum zu setzen.
In den Einzelbeiträgen werden diese verschiedenen Aspekte beleuchtet. Nicholas Saul („Die Frau des gebildeten Standes, ist der Ungebildete“. Zum Verhältnis von Weiblichkeit und Sprache im Briefwechsel zwischen Friedrich von Hardenberg und Caroline Schelling) thematisiert, wie die Frühromantik als unmittelbar postrevolutionäre Epoche über die neue Rolle der Frau im gesellschaftlichen Leben debattiert. Gendertheoretische Fragen, utopische Vorstellungen von Ehe, Familie, der Stellung der Frauen im öffentlichen Raum werden durch das Medium des Briefes heftig diskutiert. Besonders Novalis versucht, dualistische, patriarchalisch definierte Strukturen zu subvertieren. Der hier analysierte Briefwechsel erscheint als „eine diskursive Utopie, eine besondere Sprachwelt, in der – auch zwischen den Geschlechtern oder gendern – unter anderen, tendenziell optimalen Bedingungen der Sagbarkeit miteinander […] kommuniziert werden kann“ (S. 122). Alexander Knopf (Am Rande des Gesprächs. Untersuchungen zur epistolaren Kommunikation im Schlegel-Kreis) forscht über das Thema der Inkommunikabilität innerhalb der Korrespondenzen mit Friedrich Schlegel und insbesondere in den Briefen von Karoline Schlegel. Gerade für die Frühromantiker, die den „wahren“ Brief als höchste poetische Form für den Ausdruck des Ichs ansahen, waren die Grenzen des Sagbares wie das Unsagbare, das nicht formulierbar von großem Interesse. In Yvonne Al-Taies Beitrag (Der Brief als soziales Medium. Körperlichkeit, gegenwärtiges Erleben und epistolare Vermittlung in den Briefen des Grüninger Kreises an Novalis) werden die Korrespondenzen von Jeannette Danscour, Friederike von Mandesloh, Sophie und Caroline von Kühn unter dem Aspekt der evozierten Körperlichkeitspräsenz und der Unmittelbarkeit der Körperlichkeit beleuchtet. Es wird gezeigt, wie Briefe die körperliche-räumliche Distanzierung überwinden, wie sie oft das Gefühl der körperlichen Nähe erzeugen. Als soziales Medium, in dem sich verbale und nonverbale Distanzkommunikation konfigurieren lässt, sind diese Korrespondenzen „unter technisch veränderten Vorzeichen in ähnlicher Weise in den Sozialen Medien der digitalen Gegenwart“ wiederzufinden (S. 141). Cosima Jungk („Fühlen ist gewiss mehr als Sehen“. Formen und Funktionen der Intimität in den Briefen von Friedrich Schlegel und Dorothea Veit an Karoline Paulus und Rahel Levin) analysiert, wie unterschiedliche Formen und Funktionen epistolar inszenierter Intimität in der schriftlichen Kommunikation Nähe und Distanz regulieren. Besonders das Medium des Billets erscheint optimal in dieser Kommunikation als „intellektuelle Spielform voller Mehrdeutigkeit“ (S. 175). Antonia Villinger widmet sich Dorothea Schlegels Reise nach dem Süden (Dorothea Schlegel als Reiseliteratin. Briefe aus Italien im Mai 1818 an Friedrich Schlegel). Aus ihrer eigenen Perspektive und außerhalb der Schemata der Reiseliteratur berichtet die Reisende vermittelt durch die Beschreibung der Landschaft und der Städte (insbesondere Mailand und Rom) über ihre eigenen politischen, religiösen und gesellschaftlichen Anschauungen. Schließlich bringt Claudia Bamberg (Mein „Sorgenkind“ – mein „geliebter Bruder“: Friedrich Schlegel in den Briefen der Schwestern Charlotte und Henriette Ernst sowie der Mutter Johanna Christiane Ermunthe Schlegel) neue Ansichten in das familiäre Verhältnis von Friedrich Schlegel, indem sie unbekannte Briefe von 1791 bis 1824 präsentiert. Es sind sehr interessante private Einblicke, die die gesellschaftliche Debatte jener Jahre widergeben und vor allem davon zeugen, wie spannungsreich der innere und äußere Entwicklungsgang des Schlegel-Paares auf die Familie wirkte.
Besonders reich und detailliert in allen Beiträgen sind die Literaturhinweise in den Fußnoten, die einen Überblick des letzten Forschungstandes bieten und Desiderata und Forschungslücken aufzeigen und diskutieren. Für die hier besprochenen Themen sind dazu zwei jüngst erschienen Publikation von besonderem Interesse: Signaturen der Vielfalt. Autorinnen in der Sammlung Varnhagen (hg. von Jadwiga Kita-Huber und Jörg Paulus, 2024, Vandenhoeck und Ruprecht und open access) über die weiblichen Korrespondenten des heute in Krakau aufbewahrten Varnhagen-Archivs, und In Her Own Hand: Female Agency around 1800 (hg. Helga Müllnertisch und Dennis Schäfer, Publications of the English Goethe Society, Vol. 93, 2024, 3, auch open access). Sicherlich werden neue Impulse auch von den Ergebnissen des DFG Projekts Korrespondenzen der Frühromantik. Edition – Annotation – Netzwerkforschung (Uni Mainz) ausgehen, genau wie von den Aktivitäten der Arbeitsgruppe um Martina Wernli #breiterkanon (#breiterkanon). Denn die Geschichte der Frühromantik ist nicht mehr ohne weibliche Agentinnen zu denken beziehungsweise zu (be)schreiben.
Rezension verfasst von Francesca Fabbri.
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar:
10.22032/dbt.64262