Jörg Bong, Roland Borgards (Hgg.)
Ludwig Tieck: Wilde Geschichten
Dieses Buch stellt eine Sammlung von Tieck-Geschichten vor, die genauso geeignet ist, neue Leser in die Frühromantik einzuführen, wie auch den Horizont bereits vertrauter Tieck-Leser zu erweitern. Der Großteil der Werke ist in den kritischen Ausgaben zu finden, neu sind die originellen Zwischentexte der Herausgeber Jörg Bong und Roland Borgards. Jede Tieck-Geschichte wird von diesen Beiträgen eingerahmt, die keine reinen Interpretationshilfen sind. Obwohl sie oft philologischen Hintergrund und biographischen Kontext liefern, sind sie keine trockenen Lexikonartikel. Die Kommentare verschmelzen vielmehr mit den Atmosphären von Tiecks Geschichten - mit dem Ergebnis, dass die Texte selbst einen ironischen Ton bekommen, der Tiecks Stilentwicklung von seinen frühen bis zu seinen späteren Werken entspricht.
Die Geschichten sind nicht ‚wild‘ im alltäglichen Sinne der englischen Redewendung wild story – ein Ausdruck, der Bilder von Drogenrausch, Freizügigkeit oder kindischer Zerstörungswut heraufbeschwört. Sicherlich finden sich solche Elemente gelegentlich bei Tieck. Jedoch impliziert der Titel dieser gesammelten Erzählungen viel eher eine allgemeinere Art von Wildheit: Eine psychologische Disposition, die nicht nur Schock, sondern auch starke Anziehungskraft erzeugt – eine Simultanität von Abstoßung und Faszination, auf der die umfassende Tieck-Narration von Bong und Borgards basiert. Mit einer gleichzeitig informellen und pädagogischen Stimme erforschen beide Herausgeber den Inhalt sowie die potenzielle Leserrezeption dieser Geschichten. Die Wahl des Titels ist daher präzise. Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass das Lesen von Tieck nicht nur Unterhaltung durch seine Geschichten bedeutet, sondern auch das Erleben des Unvorhersehbaren einschließt. Wilde Inhalte und wilde Vorstellungen verschmelzen hier miteinander. Der Geist wird sich selbst fremd, weicht vor der eigenen Entfremdung zurück. Und während man über Wilde liest, kann man nicht anders, als sich selbst als wild zu empfinden.
Die ersten fünf ausgewählten Geschichten stammen aus Friedrich Nicolais Sammlung Straußfedern, doch diese Reihung ist nicht nur einem chronologischen Interesse geschuldet. Besonders in ihrem Verständnis von „Der Psycholog“ und „Die Freundin“ präsentieren Bong und Borgards den jungen Tieck als Meister der literarischen Fallbeschreibung – nicht aufgrund einer empirischen oder evidenzbasierten Herangehensweise, sondern im Sinne eines Tieck, der die im Allgemeinen als monolithisch betrachtete Einheit des Egos eher als ein Aggregat verschiedener und konkurrierender Perspektiven betrachtet. Der Tieck der Gegenaufklärung und romantischen Ironie, so die Herausgeber, sei genau in diesen frühen Stücken schon präsent. Er spiele mit zeitgenössischen Vorurteilen, mit Sinnhaftigkeit, Einheit und Moral, um sie frischer und lebendiger zu präsentieren. Daher sei eine Form von Wildheit die Wildheit der literarischen Theorie, wenn diese, in Tiecks Händen, literarische Modelle und Erwartungen entfesselt.
Tieck ist jedoch nicht ironisch, weil er satirisch oder zynisch sein möchte. Sein Ziel ist das Gegenteil des solipsistischen Denkens, das allzu oft den Bildersturm begleitet. In gleicher Weise ergreifen die Herausgeber des Bandes die wichtige Maßnahme, zwischen den Philosophien der „Naturerfahrung“, die Tiecks Fallbeschreibungen ausmachen, und dem „Naturkonsum“, den er kritisiert, zu unterscheiden. Während „Naturkonsum“ eine egoistische oder vollständig introspektive Art des Betrachtens der Außenwelt bedeutet, weicht „Naturerfahrung“ einer narzisstischen Identifikation mit der Welt aus und bedeutet stattdessen ein Eintauchen in das Andere und eine Wachsamkeit gegenüber egoistischer Stagnation. Tiecks „Die Farben“ dient als ein Beispiel für diese Wachsamkeit, während Geschichten wie „Der Psycholog“ und „Der Naturfreund“ das Instrumentalisieren der Außenwelt kritisieren: Darin finden sich dilettantische Psychologen, die Wahnsinn nur zur Unterhaltung katalogisieren, und Naturbeobachter, die die Natur zur geistigen Erhebung oder für andere menschliche Zwecke ausnutzen.
Während sich die Herausgeber auf „Naturerfahrung“ nur im quasi-buchstäblichen Sinne konzentrieren – Landschaft, Blumen und Ähnliches –,wird das Thema im Hinblick auf die Phantasus-Geschichte allumfassender. Die Werke aus den Straußfedern werden hier von den typischeren Tieck-Stücken begleitet; Bong und Borgards lassen die bekannten Geschichten „Der blonde Eckbert“ und „Der Runenberg“ mehr oder weniger für sich selbst sprechen. Jedoch werden die Leser nach der äußerst psychologischen und destruktiven Geschichte „Liebeszauber“ – einem Text, der direkt zum Tieck’schen Kernproblem von Selbstbejahung versus Selbstverneinung kommt – nochmal vor die Aufgabe gestellt, zwischen einem Tieck, der sich für Introspektion interessiert, und einem anderen Tieck, der unseren Blick auf die Außenwelt jenseits des Egos lenkt, zu unterscheiden. Deshalb ziehen die Herausgeber die wichtige Trennlinie zwischen Naturkonsum/Introspektion und Naturerfahrung/Entfremdung als eine Art Kurzschrift der frühromantischen Ironieverpflichtungen zum Wohle des Lesers deutlich nach. Es ist nicht nur so, dass Ironie eine bloß wunderbare oder schwärmerische Wildheit besitzt. Egal wie oft Tieck die Grundlagen der Schlegel’schen Ironie modifiziert, das Ironie-Prinzip bleibt eine zugleich selbstverneinende sowie selbstschöpfende Kraft. Die Selbstverneinung ist bei Tieck die Fähigkeit, das Selbst zu plündern, um seinen Reichtum jenseits des Selbst zu finden. Als Beispiel der Entfremdung heben die Herausgeber die Phantasus-Erzählung „Die Elfen“ hervor, die eine Form der ökologischen Kritik repräsentiert. Das tragische Ende der Geschichte – ein Verrat des freundlichen Waldes, eine Natur, die sich entzaubert, um menschliche Augen zu bestrafen – könne, so sagen sie, die Idee des „ecological grief“ (S. 261) darstellen. Eine solch einschränkende Perspektive droht jedoch, Tieck in eine rein normative Kraft zu verwandeln. Man könnte hinzufügen, dass „Der blonde Eckbert“ und „Der Runenberg“ ebenfalls Naturkonsum kritisieren, wie zum Beispiel Berthas Missbrauch von Tieren oder Christians Forderungen nach einer kommerzialisierten Landwirtschaft, doch das würde lediglich eine Interpretation von Tieck verstärken. Gewiss besitzt Tieck immer eine richterliche Haltung oder zumindest den Wunsch, über diejenigen zu urteilen, die urteilen. Aber als Gegenpol dieser spielerischen Boshaftigkeit lenken Bong und Borgards den Leser erneut auf Tiecks Verständnis von Perspektiven und Konflikten. Es würde Tieck einschränken, wenn man fragte, was er als hochheiliger Schriftsteller sagen will. Besser ist die offene Frage: An welchem Punkt wird moralische Vorschrift bloß zu einer klagenden Beschreibung, die die Selbstsucht der Welt sachlich wiedergibt? Und in welchen Momenten wird diese Entscheidung vom Leser und nicht vom Autor getroffen?
Ein Vorteil des Abkürzens solcher Interpretationen, wie zum Beispiel der ökologischen, besteht darin, dass es Tieck wild hält, besonders im abschließenden Sinn von Wildheit, wie ihn die Herausgeber präsentieren – nämlich Wildheit als tiefe Unruhe. Die späteren Zwischentexte quälen sich humorvoll damit, wie sie den Band beenden sollen. Die Geschichte, für die sie sich entscheiden, „Eine Erzählung, aus einem italienischen Buche übersetzt“, ist eine Art unbekannte Größe, aber sie ist eine treffende Wahl, weil sie sich thematisch mit der Wirkung von Kunst befasst. Bong und Borgards charakterisieren daher in letzter Minute die Kunst des Lesens von Tieck als die Kunst, durch die eigenen Emotionen und enttäuschten Erwartungen hindurch zu lesen – als ein Willkommenheißen der Unausweichlichkeit des Textes und als romantische Verheißung. Ihr Beispiel für beharrliches Lesen kommt in Form des Rats, mit der Lektüre dieses Bandes erneut zu beginnen. Und damit haben sie die Einzigartigkeit der Wiederholung angesprochen: Eine Besonderheit, von der der Philosoph Deleuze spricht, wenn er die Singularität selbst repetitiver Momente beschreibt oder die Idee, dass jede Iteration einen bestimmten Moment in der Zeit einnimmt. Dieser Moment des erneuten Lesens von Tieck hat immer die Chance zu einer Unterbrechung: hin zu neuen Gefühlen und neuen Herausforderungen. Und ist das nicht der Grund, warum man sich den Klassikern zuwendet?
Rezension verfasst von David Takamura
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.62387