Timo Feldhaus
Mary Shelleys Zimmer
Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte
Im Jahr 1815 sorgte die Explosion des Tambora im heutigen Indonesien für eine dichte Staubwolke zwischen Sonne und Erde. Die an Heftigkeit bis auf den heutigen Tag beispiellose Eruption brachte nicht nur an die 100.000 Menschen vor Ort den direkten oder indirekten Tod. Asche und Schwefel wurden derart hoch in den Himmel geschleudert, dass sie in die Stratosphäre eindringen konnten. Noch im Jahr darauf, das als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichtsbücher einging, verschwand ganz Europa hinter einem düsteren Vorhang.
Ausfallende Ernten und eine resignierte Stimmung als Folgen des Vulkanausbruchs verstanden viele Menschen als eine Rache Gottes für die aufbegehrende Menschheit. Denn die aufklärerischen und technologischen Errungenschaften brachen sich Bahn, die Zukunft für immer zu erhellen. Diese beinahe phantastisch anmutende Situation nimmt Timo Feldhaus in Mary Shelleys Zimmer zum Ausgangspunkt, um einen wunderbaren Streit zwischen Licht und Dunkelheit zu erzählen, an dessen Ausgang das symbolträchtige neue Jahrhundert und nichts Geringeres als die beste Gruselgeschichte des 19. Jahrhunderts stehen soll.
Der historisierende Roman veranschaulicht in 38 kurzweiligen Kapiteln, die mit Schauplätzen rund um den Globus überschrieben sind, die schillernden Geburtsstunden der Moderne und liefert ein Panorama einer von einer Klimakatastrophe in Atem gehaltenen Welt. Flüchtige Einblicke in die Not an entlegenen Orten wechseln sich mit einigen konsequenter erzählten europäischen Lebensrealitäten. Dabei lässt Feldhaus die unterschiedlichsten Prominenten der Jahrhundertwende um 1800 zu Wort kommen und schmückt diese mit Fiktionalisierungen aus.
Im Mittelpunkt dieser chaotisch zusammenhängenden Chronik der Stimmung eines verwundeten London, Weimar oder New Lanark steht eine Gruppe junger Schriftsteller in England. Zwischen blutigen Schlachten wie denen Napoleons auf der einen und Erfindungen wie der Glühbirne auf der anderen Seite ringen die Freunde darum, den Anbruch der neuen Epoche mit ihren Idealen mitzubestimmen.
Zusammen mit ihrem Geliebten Percy Shelley, der der Ehemann einer anderen Frau und Vater fremder Kinder ist, und ihrer extravaganten Halbschwester Jane, die sich in Claire Clairmont umbenennt, lebt Mary Wollstonecraft Shelley, Tochter eines bekannten Philosophenpaars, in einer Kommune die ehefreie und polygame Liebe. In der kalten Dunkelheit, die mit dem Vulkanausbruch über sie hereinbricht, erkennen sie das Spiegelbild ihrer Rebellion und wähnen sich in dem Glauben, die erhabene Natur bei ihrem Vorhaben, die Welt zu revolutionieren, auf ihrer Seite zu haben.
Auf einer Reise durch Europa lassen sie sich mit dem Dichter Lord Byron und dessen Leibarzt Polidori für einen dunklen Sommer in einer Schweizer Villa nieder. Gemeinsam veranstalten sie ironisch-mondäne Salonabende, bleiben dabei stets demonstrativ in geschlossener Gesellschaft und provozieren das Gespött der Leute. Sie leben probierlustig und ernst ihre Utopie von der freien, streitenden und denkenden Gemeinschaft. Die von Umbrüchen und einem ewigen Winter gebeutelte Welt wollen die Schriftstellerfreunde aus den Angeln heben. Bewunderung wie Verachtung bringt die Freundesgruppe füreinander zum Ausdruck und für Feldhaus ist es ein Leichtes, noch die widersprüchlichsten Gefühle dieser merkwürdigen Truppe als die notwendige Triebfeder für ihren kreativen Mut, die Welt zu revolutionieren, amüsant zu transportieren. Allen voran Shelleys Resilienz inspiriert: Für sie ist die Reise durch Europa zugleich ein existenzieller Balanceakt. Einerseits will sie nichts sehnlicher, als das Erbe ihrer verstorbenen Mutter anzutreten und an ihrer Statt die progressiven, feministischen Ideen ausleben. Andererseits will sie all dies zu ihren eigenen Konditionen und kann nicht anders, als sich von ihrem Elternhaus zu lösen.
Die Ausführungen über diese innere Zerrissenheit Shelleys und ihrer Halbschwestern zählen zu den besten des Buches, weil sie zeigen, dass gerade die Unvereinbarkeiten im Leben der jungen Frau eine produktive Stärke bergen, die die Protagonistin in der Tätigkeit des Schreibens zu überwinden weiß. In Anbetracht ihrer Biographie und der Gewalten der Natur entdeckt sie eine Modellhaftigkeit des Grauens. Und wir mit ihr: Die ersten Jahre ihres Erwachsenenlebens schildert Feldhaus als eine allmähliche Feuertaufe. Der Verlust ihrer Mutter, die Trauer und Ratlosigkeit über den Tod ihres ersten Kindes, der Kontaktabbruch zu ihrem Vater, die ärmlichen Lebensverhältnisse und die Schattenseiten ihrer Ideale bilden die Abgründe, aus denen die Schriftstellerin die Idee für Frankenstein or The modern Prometheus schafft. Gerade der schwere Leidensweg und die Distanz zu ihrer Heimat London sind es also, die Shelley letztlich dazu befähigen, die Schriftstellerin zu werden, die ihr Umfeld schon früh in ihr sah.
Die Geschichte von Mary W. Shelley, die mit ihrem Roman zur Säulenheiligen der Schwarzen Romantik werden soll, wird mit Einschüben anderer historischer Figuren wie Johann Wolfgang Goethe, Caspar David Friedrich und Napoleon Bonaparte abgewechselt. Wir begleiten Napoleon zu seinem letzten Kampf bei Waterloo, der das Ende seiner Ära und die Verbannung auf die Insel der Langeweile bedeutet; Goethe folgen wir nach Weimar, wo er um seine Frau trauert, eine Faszination für Wolken entwickelt und sich mit seinem Kunstberater über Caspar David Friedrich mokiert; Friedrich seinerseits finden wir deprimiert und unnachgiebig das Motiv des entzündeten, unheilverkündenden Himmels malend.
Es liegt ein gewisser Reiz in der Auswahl der Figuren, weil sie die Geschichte um die Protagonistin einmal mehr in eine bemerkenswerte Dunkelheit hüllen. Unverkennbar aber sind es Mary Shelleys Kapitel, die die Buchstruktur tragen. Die Dialoge und inneren Reden der anderen Figuren, wie beispielsweise Goethe und Napoleon, wirken daneben etwas konstruiert und verlieren dort, wo Feldhaus ihnen Tiefe und Authentizität verleihen will, ihre historische Dimension. So passiert es immer wieder, dass das Lesen durch etwas zu nonchalante Bemerkungen eines Goethe irritiert wird. Die behutsame Heranführung an die Geschichte Shelleys und ihrer Freunde dagegen überzeugt mit kleinen Anekdoten, wie zum Beispiel die spontane Entstehungssituation des Frankenstein: Die Schriftstellerin folgt damit Byrons Ausruf eines Schreibwettbewerbs um die beste Schauergeschichte. Außer ihr nimmt nur Polidori die Herausforderung an. Für die Kultgeschichte Vampyr, mit der sich der unterschätzte und glücklose Arzt von der Gruppe emanzipieren will, kassiert allerdings nicht er selbst, sondern ausgerechnet Byron den Ruhm.
Mary Shelley vermag es, ihre persönlichen Leiden in das Genre der Gothic Novel zu versenken und stellt sich so ihrer Angst vor den Abgründen der menschlichen Natur und den Konsequenzen ihres eigenen Schaffens. In Frankenstein or The modern Prometheus erforscht sie die Grenzen der Wissenschaft und die Frage nach dem, was es überhaupt bedeutet, menschlich zu sein. Ein von seiner Herkunft verstoßenes, von Melancholie gezeichnetes Ungeheuer, das mit der sündenvollen Heldentat des feuerbringenden Prometheus aus der griechischen Mythologie verglichen wird, ist das ambivalente Ergebnis der Selbst- und Weltbeschauungen Shelleys. Die romantisch-ironische Verklärung des Schöpfers und dessen Alter Ego wirft denn auch die Frage auf, wer das eigentliche Monster ist, denn Frankenstein und sein Erschaffer gelten bis heute als Pars pro Toto für die Dialektik der Wissenschaften.
Obwohl Mary kein Bewusstsein für die Ursache der Hungersnöte und Kälte in Europa gehabt haben kann, geschweige denn für die Langzeitfolgen der Maschinen, die sich in den nächsten Jahrhunderten entwickeln sollten, greift sie diese in ihrem Buch beinahe prophetisch auf. Schließlich begegnen uns rund 200 Jahre nach Erstveröffentlichung des bis heute vielverkauften Frankenstein ganz ähnliche Herausforderungen. Mit Mary Shelleys Zimmer zeigt Feldhaus auf, dass die Menschheit nie so schnell lernt, wie ihre Fehler sie wieder einholen und dass die Vergangenheit sich manchmal wie ein Orakel für die Zukunft befragen lässt.
Rezension verfasst von Sophie Blasig
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61358