Ingo Müller

Maskenspiel und Seelensprache

Zur Ästhetik von Heinrich Heines „Buch der Lieder“ und Robert Schumanns Heine-Vertonungen

Rombach Wissenschaft 2020

Es herrscht eine lange und innige Beziehung zwischen dem „vielleicht letzte[n] Wort der Kunst“, wie Heine am 20. April 1841 (Artikel XXXIII der Lutezia von 1854) die Musik als deren Schlusspunkt nannte, und der Literatur bzw. Dichtung. Als Gegenpol zur herausragenden Stellung der Musik, jener „Auflösung der ganzen materiellen Welt“, brachte er den „Tod“ als existentiell zugehöriges Ende des menschlichen Lebens und dessen „letzte[s] Wort“ ins Spiel. Es geht hier somit um mehr als um harmlos erholsame Erlebnisse für Mußestunden in Oper, Konzertsaal oder zu Hause. Aus der intensiven Verknüpfung haben sich immerwährende Folgen einer bedeutungsvollen Verdoppelung ergeben. Das gilt für sämtliche literarischen Texte, die einer Komposition zugrunde liegen und mit ihr durch die musikalische Darbietung zu Gehör kommen.

Ein besonders intimes und publikumswirksames Verhältnis zwischen Wort und Ton hat sich bei überaus vielen Exempeln der Lyrik durch deren Vertonungen herausgebildet. Heines angeborene wie ausgefeilte dichterische Begabung, die für das Kunstlied wie geschaffen und geeignet war, bot dafür reichlich Stoff. Insbesondere die in Zyklen geordneten, häufig aufeinander bezogenen Strophen seines Weltbestsellers Buch der Lieder von 1827 wurden von zahlreichen Komponisten auf zehntausendfache Weise wahrgenommen und genutzt. Günter Metzner hat zu diesem Phänomen, frühere Vorstufen aufgreifend, ein umfassendes Verzeichnis in zwölf Bänden (Tutzing 1989–1994) vorgelegt. Diese bibliographischen Notate haben ihre Fortsetzung gefunden; so z. B. durch Arnold Pistiak zu neueren und neuesten Kompositionen in den Heine-Jahrbüchern 2016 und 2017 (wie überhaupt die Jahrbücher unter der Rubrik „Heine-Literatur“ auch die musikalischen Titel fortschreiben).

Zu den mit Recht immer wieder genannten Musikern, gewissermaßen der ersten Stunde, gehört unbestritten Robert Schumann, der seinen eigenen frühen Sinn für Sprache wie Unsagbares besaß und wenn schon nicht selbst zum Dichter, so doch zu einem der wichtigsten Liedkomponisten wurde. Diese zwillingshafte Präsenz von Poesie und Musik, die dem lyrischen Text die gesungene Ausgestaltung angedeihen ließ, wie sie durch die sich sogar in München 1828 persönlich begegnenden Zeitgenossen Heine und Schumann (damals 30 bzw. 18 Jahre alt) eine frappant greifbare und intensive Gestalt angenommen hat, wurde gewiss erst nach und nach, der sich wandelnden Anerkennung von Dichter und Komponist entsprechend, aber in mittlerweile überwältigender Weise entdeckt. 2006, im gemeinsamen Düsseldorfer Gedenken zum 150. Todesjahr beider, erschien etwa unter seinerzeit weiteren fächerübergreifenden Unternehmungen die 676-seitige Studie von Sonja Gesse-Harm Zwischen Ironie und Sentiment. Heinrich Heine im Kunstlied des 19. Jahrhunderts (in der Reihe der Heine-Studien, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler).

Sie widmet sich neben den Kompositionen von Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Giacomo Meyerbeer, Franz Liszt, Johann Vesque von Püttlingen und Robert Franz in dem Kapitel „Dann löst sich des Liedes Zauberbann“ an vierter Stelle und auf 126 Seiten „Heines Lyrik in den Liedern Robert Schumanns“ (S. 267–393). Mit dem Vorurteil in Bezug auf Schumanns angeblich mangelndes Heine-Verständnis, was dessen spezielle Form der Ironie betrifft, wurde z. T. aufgeräumt. Die 45 Schumann-Vertonungen zu Gedichten Heines sprechen eine nicht ganz einfache, aber nachzuvollziehende Sprache in ihren diffizilen Vertonungen. Insofern ließ sich an die kompakte Darstellung von Gesse-Harm nahtlos anknüpfen, wie das hier anzuzeigende äußerst ambitionierte und in mehrfachem Sinn, nämlich nicht nur dem Umfang nach, auf das fast zehnfache vergrößerte und reiche Werk von Ingo Müller eindringlich unter Beweis stellt.

Der Verfasser des Jahrgangs 1977 hat sich professionell der Germanistik und Musik gewidmet und ist außerdem als internationaler Barockoboist und Instrumentalpädagoge tätig. Insofern bietet er nach Interesse, Kenntnis und Methode, von seinem anspruchsvollen Stil unterstützt, für die intensive Darlegung über Schumann und Heine die idealen Voraussetzungen. Dabei bildete der Komponist für ihn schon immer, wie Müller zu Beginn in seinem „Dank“-Wort emphatisch bekennt, „eine einzigartige kulturelle Echokammer“, in der „auf vielfältige Weise die Frage“ widerhalle: „was es bedeutet, Mensch zu sein“ (I, S. 9). So viel Respekt und liebevolle Akzeptanz wird nicht nur dem musikalischen Part, sondern auch dem poetischen entgegengebracht. Seine Studie bildet denn auch tatsächlich eine mit Recht als bedeutsamen Höhepunkt einzuordnende Darstellung zum Verständnis der Leistungen beider Künstler. Denn zutreffender – dabei gleichzeitig vor- oder umsichtiger – hätten Titel, Untertitel und Einzelbezeichnungen dieses Doppelbandes mit den zusammen über 1000 Seiten gar nicht formuliert werden können. Sie versprechen viel und halten alles, was zur Qualität eines Standardwerks berechtigt.

Dabei wird der Benutzung nicht wenig abverlangt. Es handelt sich an keiner Stelle um leichte Kost. Für die Bewältigung solcher Lektüre bedarf es der unvoreingenommenen Geduld und der nachvollziehenden Verständnis-Bereitschaft. Beim grundlegenden 1. Band mit seinen vier gut gegliederten Kapiteln bedeutet dies, dass in den beiden kürzeren als Auftakt vor allem Schumann (S. 29–175) und dessen „Seelensprache“ wie Einsicht in den „neuen Dichtergeist“ zur Debatte steht, wodurch Heine mit seiner frühen Lyrik zum Favoriten wird, während die anschließenden zwei längeren spezieller zu Heine (S. 177–403) und seiner „Differenzerfahrung“ aufgrund des empfundenen „Weltrisses“ samt Ironie, Komik und Humor gewidmet sind sowie die „Verknüpfung von postromantischer Dichtungsästhetik und romantischer Musikästhetik“ vorführen. Somit wird der Horizont in aller gebotenen Ruhe eröffnet und es fließen die Argumente über Unterschiede und Vergleichbarkeiten beider in einer Weise kritisch, aber unaufgeregt vorüber, dass man an das Bild vom ‚Rheinstrom‘ gemahnt sein könnte, wie er in der Loreley mit ihrem Gesang und Echo vorkommt. Nur dass niemand aufgrund einer ihn ablenkenden Botschaft unterzugehen braucht, wenn er die wahrhaft tiefgründigen Interpretationen aufnimmt. Im Gegenteil: Er wird belohnt und weiß anschließend sehr viel mehr über Lyrik und Musik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber, „was es bedeutet, Mensch zu sein“ (s. o.), womit wir obendrein bei dem auch vom Verfasser schon angesprochenen „Echo“ wären.

In dieser Intensität vollziehen sich die Argumentationen ebenfalls im 2. Band, der die Einzelvertonungen in Liederkreis op. 24 mit seinen neun und in Dichterliebe op. 48 mit seinen 16 Gedichten ebenso ausführlich vorstellt wie die übrigen drei Abteilungen von Heine-Versen. Dabei handelt es sich um die vier aus der Dichterliebe ausgesonderten Lieder, um die drei Heine-Lieder aus dem Myrthen-Liederkreis op. 25 und um sechs Balladen. Hier bedeuten die Verknüpfungen zwischen Texterklärung und musikalischer Ausdeutung einen unentbehrlichen Fortschritt. Folgt man den suggestiv gemessenen Darlegungen Müllers, dann wird man belohnt durch die gelungene Kombination von gewissermaßen untergründigen Verweisen auf die Voraussetzungen von Schumanns und Heines ‚Weltbild‘ bzw. dessen Einbettung in die zeitgenössische ästhetische Diskussion. Und das Ganze jeweils durch eine kundige Benutzung der für beide einschlägigen englisch- wie deutschsprachigen Fachliteratur vieler Jahrzehnte mit Blicken durchaus etwa auch auf französisches oder italienisches Spezialistentum. Gerade diese unerschöpfliche und gründlich erörterte Vielfalt der sogenannten Quellen- oder Primär- und der entsprechenden Sekundärliteratur, – das möge als offener Wunsch notiert sein –, hätte ein eigenes Personen-Register verdient, aus dem noch mehr oder deutlicher als aus dem weiterführenden Anmerkungsapparat mitsamt dem Literaturverzeichnis die abwechslungsreiche Variabilität der Argumente und Verflechtungen spontan greifbar und leichter nachschlagbar gewesen wäre.

Die anregende Umwelt in jedem Sinne beförderte also offenkundig sowohl bei Heine, den älteren, als auch bei Schumann, den jüngeren Künstler, manch spürbare, wenn auch jeweils veränderte Reaktion. Was beide bewegte und zur Produktion anregte, das lag sozusagen in der gemeinsamen Luft. Schumann blieb der Romantik zweifellos verhaftet, Heine dagegen war ihr nach eigenen Worten zwar bereits ‚entlaufen‘ und dennoch, wovon oben bereits die Rede war, ihr postromantischer Erbe. Über deren Gefühls- und Verhaltenswelt verfügte er souverän und konnte damit aufgrund einer distanzierenden Maske spielerisch walten und der Problematik ‚seines‘ Gegenwarts-Erlebnisses dekonstruierend Ausdruck verleihen, womit er das Empfinden des Publikums (teilweise durchaus verspätet) traf und vor allem auch das seines Komponisten. Gerade weil alles mit jedem zusammenhängt, ergaben sich für beide die erstaunlichsten Abhängigkeiten und Fortschritte. Wenn schon auf ideologiekritischem Felde beim katholisierenden Novalis und dem protestantischen Arnim das schließlich durch Heine zum geflügelten Wort gewordene Diktum von der Religion als ‚Opium des Volkes‘ nacheinander auftaucht, wie sehr ist auf ähnliche Weise im Bereich von Sprache und Musik deren ‚Material‘ miteinander verflochten, was freilich einer genauen Betrachtung bedarf.

Genau diese gründliche Sicht auf die Dinge wird von Müller fortgeführt durch seinen weitgespannten Blickwinkel über die gängige Berufung auf Schumanns Jean Paul-Erlebnis hinaus, was auch für Heine Bedeutung besaß. Die vielen Vertreter der verschiedenen Phasen der Romantik wie z. B. die Schlegel-Brüder, Schelling, Novalis, Arnim, Brentano oder Hegel u. a. kommen neben manchen vorher wie nachher zu beachtenden Gewährsleuten differenziert zu Wort, sodass beide Künstler in ein ganzes Diskursgeschehen ihrer Epoche und Nachwirkung eingebettet sind. Gerade bei der Einzelbesprechung der Lieder macht sich dieses Fingerspitzengefühl eindrucksvoll bezahlt. Das gleiche gilt bis zur letzten Seite, wie angedeutet, für die herangezogenen Zeugnisse aus der einschlägigen Schumann- wie Heine-Forschung auf bewundernswert kollegiale Weise.

Schumann wusste, auf was er sich bei Heine einließ. Dessen unharmonische Skepsis wird vor 200 Jahren bereits im Brief vom 5. Februar 1821 an Heinrich Straube deutlich (I, 194 „Wenn der Frühling kommt“): Das im Übermaß benutzte Arsenal aus der lyrisch nach gewohnter Weise ausgeschlachteten Natur mit Frühling, Sonne, Mond und Sternen (als Diminutiva) bedeutet samt den damit verglichenen süßen „Äuglein“ – „Wie sehr das Zeug auch gefällt“ – durchaus „doch noch lang nicht die Welt“. Diese sei ihrerseits durch das Anfangs-Zitat erneut in den Blick gerückt: „[d]ie Musik ist vielleicht das letzte Wort der Kunst, wie der Tod das letzte Wort des Lebens“, womit Heine seine Betrachtung u. a. über den tauben Beethoven und dessen „Töne“ einläutet, die „nur noch Erinnerungen“ wären. Und selbst Heines späte Matratzengruft und Schumanns Rosenmontags-Sprung in den Rhein verfügen über ihre eigentümlich abgründige Parallele.

Rezension verfasst von Joseph A. Kruse

 

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61589

Maskenspiel und Seelensprache