Boris Roman Gibhardt
Nachtseite des Sinnbilds
Die Romantische Allegorie
Boris Roman Gibhardts Buch, das im Titel auf Gotthilf Heinrich Schuberts Nachtseiten-Metaphorik zurückgreift, widmet sich dem Versuch der Charakterisierung einer zentralen rhetorischen Stilfigur des Romantikdiskurses – der Allegorie. Nachtseite des Sinnbilds bietet ein Angebot zur Annäherung: Wolle man dem Gegenstand wirklich gerecht werden, so schickt es der Autor voraus, sollte man dem Phänomen nicht mit einem exklusiven Konzept der Dechiffrierung begegnen, sondern kontextabhängig variabel bleiben. Die Frage „nach dem Konnex von Allegorie und Romantik“ (S. 22) müsse dabei neu ausformuliert werden, um das typologische Romantikverständnis vieler bisheriger Allegorie-Abhandlungen zu überwinden.
Und so begibt sich Gibhardt in seiner detailversessenen und zu jeder Zeit genauestens erarbeiteten Studie auf verschlungene Pfade romantischer Formen der Allegorie, denn er macht auch in den Analysen darauf aufmerksam, dass die Allegorie nicht als ein „einheitliches historisches Konzept umrissen werden kann“ (S. 14). Die Tatsache, dass sie vielmehr darstellungsbezogen immer wieder neu (re-)kontextualisiert und ausgedeutet werden muss, mündet in ein – mitunter ins Unüberschaubare tendierendes – Heranziehen von Theorien und Theoretikern der Romantik. Zudem kommen auch Stimmen der Aufklärung und Klassik sowie etliche Proto- und ‚Anti-Romantiker‘ zu Wort. Der vermeintliche Theorieüberschuss der Arbeit ist dabei nicht von Gibhardt konstruiert, sondern vielmehr dem Gegenstand selbst geschuldet, ist doch die ‚romantische Allegorie‘ – und das kann als eine zentrale Erkenntnis der Lektüre gewertet werden – Idee des theoretischen Geistes und weniger der des schaffenden Künstlers.
Über zahlreiche Analysen wird aber immer wieder der Bezug zu einem jeweils konkreten Kunstwerk hergestellt. So finden sich beispielsweise Passagen zu Novalis‘ Christenheit oder Europa, Caspar David Friedrichs Mönch am Meer und den sich darum rankenden Diskurs (v. a. Brentanos und Kleists Empfindungen), Schlegels Lucinde oder Tiecks Franz Sternbald. Kaum ein Werk des romantischen Kanons scheint Gibhardt dabei zu übergehen. Zentraler Anker der Abhandlung ist jedoch das Werk Philipp Otto Runges, welches sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es in seiner ästhetischen Komplexität den Darstellungspostulaten der (Früh-)Romantik am nähesten kommt. Die romantische Allegorie sprenge die klassische Vorstellung einer Einheit von Inhalt und Form und setze auf ein auf Disjunktion von Geist und Zeichen bauendes Formprinzip, um eine Bedeutungsgenese in einen temporalen Prozess zu überführen. Gerade die in Runges Werk zentralen arabesken Formen und ihre künstlerische Neubewertung als Bedeutungsträger bei gleichzeitiger Wahrung der reinen ornamentalen Gestalt versteht Gibhardt als adäquate bildkünstlerische Umsetzung eines verhüllenden Spiels der Zeichen, welches die romantische Allegorie laut ihren Theoretikern auszeichnen soll. In Gibhardts ausführlicher und differenzierten Auseinandersetzung mit Runges Kleinem Morgen wird deutlich, dass das Kunstwerk diesen theoretischen Ansprüchen gerecht zu werden versucht.
Genau in diesen Engführungen von Kunsttheorie und Werk ist die Arbeit argumentativ am überzeugendsten. Aber auch darüber hinaus ist Gibhardts Stil (wenn man sich an seine komplexe Struktur des Argumentierens gewöhnt hat) stets und in allen seinen Ausführungen so präzise, dass man ihm gerne in immer neue Gründe des Romantisch-Allegorischen folgt. Dass dabei oftmals die direkten Verbindungslinien von literarisch-philosophischer Theorie zur künstlerischen Praxis nicht nachzuweisen sind, führt jedoch nicht zu einer Verunklarung der Darstellungslogik der romantischen Allegorie, sondern ist Wesensmerkmal des vor allem auf Theorieebene geführten Diskurses. Obwohl die Abhandlung keiner streng narrativen Logik folgt, ergibt sich in der Gesamtschau der nebeneinandergestellten Analysen ein relativ geschlossenes Bild einer Debatte, deren breites Fundament hier kenntnisreich offengelegt wurde. Somit wird das Fortwirken verschiedener Theoreme über die relativ kurze historische Epoche hinaus sehr gut nachvollziehbar.
Dass die Werkbeispiele aus der bildenden Kunst teilweise recht klein und nur in Graustufen abgebildet sind, lässt sich insofern verschmerzen, als dass man, um Gibhardt bis in die letzten Züge seiner Argumentation zu folgen, sowieso nicht umhinkommt, sich die besprochenen Bilder und Bildausschnitte in hochauflösender und farblicher Variante neben die Lektüre zu legen.
Es zeichnet die Analyse aus, dass sie einen Bogen darum macht, vermeintlich einfache und definite Aussagen über die romantische Allegorie treffen zu wollen. Gerade in der klugen Zusammen- und Nebeneinanderstellung der Theorien und Theoreme entwickelt der Autor so ein Paradigma für die Aushandlungsprozesse ästhetischer Problemstellungen um 1800.
Auch wenn der bei Gibhardt prominent und zentral positionierte Verweis auf die besondere Temporalität der romantischen Allegorie bereits in Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels zum Tragen kommt (der dabei wiederum sehr stark auf Friedrich Creuzer zurückgreift) und die besondere Rolle der Allegorie in der Kunsttheorie der Romantik bereits an etlichen Stellen recht ausführlich Besprechung fand, ist die vorgelegte Studie die erste auf Monographie-Länge herausgegebene Schrift zur ‚romantischen Allegorie‘. Schon allein daraus ergibt sich die dem Buch künftig zukommende zentrale Rolle bei Bezugnahmen auf jene Formen des Denkens und Darstellens der Romantik, die die Form des Allegorischen aufweisen. Dafür spricht auch, dass Gibhardt die Allegorie nicht bloß auf einem eng eingehegten Feld einer Disziplin in den Blick nimmt. Zwar steht die Analyse mit der Fokussierung auf das Werk Philipp Otto Runges auf einem kunsthistorischen Grund, jedoch gehen die Wege immer wieder in die benachbarten Gebiete der Literatur, Philosophie, Theologie und Musiktheorie, sodass die Universalität allegorischer Verfahren auch in der Anlage des Buches zum Tragen kommt. Die enge Verzahnung all dieser Teilbereiche (bei gleichzeitiger Wahrung der Differenzen) ist eine Stärke des Buches. Auf knapp 200 Seiten behandelt es zwar ausgiebig den Charakter der romantischen Allegorie, ist aber gleichzeitig ein guter Führer durch die Debatten zur Ästhetik um 1800. Die Aufnahme in die gleichnamige – von Johannes Grave und Sabine Schneider herausgegebene – Reihe im Wallstein Verlag ist damit mehr als begründet.
Die romantische Allegorie, blieb am Ende kaum mehr als eine Kopfgeburt, zu der schon die Romantiker selbst ziemlich schnell auf Distanz zu gehen versuchten – vor allem dann, so Gibhardt, wenn es dazu kam, dass die Kunst „mit den ambitionierten Postulaten der frühromantischen Ästhetik – Reihe, Ironie, unendliche Spiegelung – Ernst machte“ (S. 152). Mit dieser Pointe endet Gibhardt und macht damit nochmals auf eines der oft übersehenen Grundprobleme der Romantik aufmerksam. Trotz dieser Ambivalenzen genuin romantischer Ausprägungen der Allegorie auf die Spur gekommen zu sein und etliche bislang dunkel gebliebene Ecken dieses nachtseitigen Phänomens beleuchtet zu haben, muss Gibhardt deshalb umso höher angerechnet werden.
Rezension verfasst von Martin Ehrler
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61413