Paula Kitzinger

Narrare la patria

Nation und Vaterland in der italienischen Literatur nach 1861

AVM.edition 2023

„Literatur und nationales Bewusstsein sind in Italien eng miteinander verwoben.“ (19) Ausgehend von dieser scheinbar einfachen, aber gleichermaßen gewichtigen Beobachtung widmet sich Paula Kitzinger in ihrer Dissertation einem viel verwendeten, dennoch selten klar konturierten Konzept: der patria. Dies kann insofern überraschen, als dass die Halbinsel, die wir heute Italien nennen, seit dem Niedergang des Weströmischen Reichs bis ins 19. Jahrhundert hinein allen voran politisch, aber auch sprachlich und sozial zersplittert war und ein ‚Italien‘ lange – wenn überhaupt – mehr als literarische denn als nationale Einheit wahrgenommen werden konnte. Insbesondere die Autoren der italienischsprachigen Romantik seien es, so Kitzinger, die das Konzept der patria italiana innovativ ausgestalteten und nachhaltig prägten. Aufgrund einer solchen Modellhaftigkeit reicht Kitzingers Blick von Texten des risorgimento und Autoren der italienischsprachigen Romantik bis hin zur Gegenwart, in der sie eine narrative Beschäftigung mit dem in der Romantik geprägten Begriff konstatiert. Die politische Einheit 1871 versteht sie somit „als Initiationsmoment für einen Prozess, der als kollektive Selbstvergewisserung beschrieben werden kann und der [...] in unterschiedlicher Intensität bis in die Gegenwart andauert.“ (21)

Bei ihrem Jahrhunderte-übergreifenden Ansatz sind es die „Modi des Fortwirkens-, Denkens, und -Schreibens“ (27f.) ebenjenes romantischen patria-Entwurfs, an anderer Stelle „diskursive Versatzstücke“ genannt, die die Autorin untersuchen möchte. Um dies methodisch zu realisieren, stützt sie ihren Ansatz auf die Arbeiten des Historikers Alberto Mario Banti zu den diskursiven Strukturen in der Entwicklung der italienischen Nationengründung (u. a. in La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, 2006). Dieser hatte verschiedene sogenannte ‚Tiefenfiguren‘ („figure profonde“ (hier 26)) als übergeordnete rhetorische Muster des nationalen Diskurses festgehalten, welche sich unter die drei Themenkomplexe ‚Verwandtschaft‘ (parentela), ‚Liebe/Ehre/Tugend‘ (amore/onore/virtù) und ‚Opfer(-bereitschaft)‘ (sacrificio) fassen lassen. Kitzinger zeigt nun exemplarisch anhand von Giuseppe Mazzinis politisch motiviertem Text Agli Italiani (1848), dass Bezüge zur patria in unterschiedlicher Form in allen thematischen Ausprägungen des nationalen Diskurses identifiziert werden können und nutzt anschließend die festgestellten Merkmale als richtungsweisendes Analyseinstrument für die nachfolgenden Kapitel.

Mit Blick in das zwanzigste Jahrhundert stellt sie sodann fest, dass „der italienische romanticismo per se als ein ambivalentes Phänomen rezipiert“ (28) werde. Die Autorin differenziert anschließend zwei Modi des Fortwirkens der romantisch geprägten patria-Idee, welche sich diametral gegenüberzustehen scheinen: ein positiver bzw. affirmativer und ein negativer bzw. destruktiver Modus. Die Gliederung der Arbeit spiegelt jene Ambivalenz wider, wenn sich der erste Teil einem Modell der Romantik zuwendet, ehe in Teil zwei und drei die „narrative Neubegründung“ (145) und die „narrative Bewältigung“ (223) des romantischen patria-Konzepts untersucht werden.

Im ersten Teil führt Paula Kitzinger zunächst mit einem Überblick zur Begriffsbestimmung in die Thematik ein, um so das Innovative des romantischen patria-Konzepts hervorzustellen. Anhand von drei Beispielen der römischen Antike (Cicero, Vergil, Augustinus) und zwei weichenstellenden Autoren des italienischen volgare (Francesco Petrarca, Niccolò Machiavelli) konturiert sie den einem steten semantischen Wandel unterliegenden Begriff.  Mit Beispielen von Ludovico di Breme, Pietro Borsieri und Giovanni Berchet setzt Kitzinger sodann an der poetologischen Debatte im 19. Jahrhundert an und betont, wie zentral für das risorgimento eine Kopplung von Literaturschreibung und gesellschaftlichem Erneuerungsgedanken war. Mit Ugo Foscolo und Alessandro Manzoni treten anschließend einschlägige Beispiele der romantischen Literaturschreibung auf den Plan. Anhand von Foscolos bekanntem Roman Ultime lettere di Jacopo Ortis (1802), seinem Gedicht Dei sepoltri (1807) und Manzonis Ode Marzo 1821 (1821) werden als Charakteristika des romantischen patria-Entwurfs ein seit der Antike andauerndes starkes verwandtschaftliches Band der italienischen Bevölkerung, eine gemeinsam erinnerte Geschichte, ein klar abgegrenztes Territorium und eine geteilte Sprache und Kultur festgehalten, wobei die Idee von patria und Unabhängigkeit oftmals religiös begründet werde. Darüber hinaus stellt Kitzinger eine Dynamik in der Verwendung der persönlichen regionalen piccola patria und der national gedachten patria fest.

Im zweiten Teil steht nun die Frage im Zentrum, „inwiefern literarische Werke als Projektionsfläche für die Aushandlung eines italienischen Nationalbewusstseins fungieren“ (146). Mit dem Roman Le confessioni d’un Italiano (1867) von Ippolito Nievo und der Reisereportage Viaggio in Italia (1957) von Guido Piovene werden zwei Beispiele aus gänzlich verschiedenen Kontexten bearbeitet, die jedoch die Tatsache eint, dass sie sich auf positive Weise mit der Idee einer kollektiv identitätsstiftenden patria auseinandersetzen.

Im dritten Teil werden Texte untersucht, in denen das Konzept einer ganzheitlichen italienischen patria skeptisch oder gar gänzlich ablehnend verhandelt wird. Der Zweite Weltkrieg stellt sich hier als eine Zäsur heraus und auch die 1990er Jahre scheinen einen Wendepunkt darzustellen, wonach die Frage nach einer nationalen Identität neu bearbeitet wird. Vier Beispiele sind es, in denen Kitzinger auf verschiedene Weise eine „Bewältigung“ der Idee eine patria italiana feststellt: Die Essays De profundis (1948) von Salvatore Satta und La morte della patria (1996) von Ernesto Galli della Loggia, der autofiktionale Roman Ognuno ha tanta storia (2000) von Carlo Mazzantini und das mehrteilige Projekt Patria (2010, 2017, 2020) von Enrico Deaglio, welches eine Art Sozialgeschichte des gegenwärtigen Italien seit der 68er-Bewegung darstellt.

„Reflexionen über die patria italiana als identitätsstiftendes Konzept sind bis in die Gegenwart ein relevanter Gegenstand unterschiedlichster Texte und Textgattungen“ (305), stellt Kitzinger nach ihren Textanalysen abschließend fest. Im Fazit werden die Forschungsergebnisse daraufhin noch einmal konzise zusammengefasst und die aktuellen Implikationen des Begriffs patria diskutiert.

Paula Kitzinger beleuchtet einen der zentralen Begriffe für die vergleichsweise junge Nation und erinnert daran, wie zentral die Autoren des risorgimento und des romanticismo für die Entwicklung einer nationalen patria waren. Sie kann logisch nachvollziehbar zeigen, dass ihre Texte nicht nur als explizite Referenz, sondern auch als stets implizit präsente Vergleichsgröße im anschließenden 20. Jahrhundert und bis heute nachwirken.

Eine Stärke von Kitzingers Arbeit liegt in ihrer strukturierten Herangehensweise, die sich durch ihre Methode und der Idee eines Modells ergibt. Hierdurch kann sie stets mit Weitsicht, aber nie unnötig abschweifend das patria-Modell der Romantik und seine Kontinuität beschreiben. Die Beobachtungen zu dem mehrere Jahrhunderte umspannenden und verschiedene Textgattungen begreifenden Korpus werden sprachlich präzise und übersichtlich in Zwischenergebnissen und im Fazit resümiert. Bei all dem zeugt die Autorin von umfassenden historischen Kenntnissen zum risorgimento sowie der italienischen Einheitsbewegung im 19. Jahrhundert und kann die Hintergrundinformationen sachdienlich für ihre Argumentation nutzen.

Unklar bleibt, ob die beiden Modi zwingend aufeinanderfolgend sind, wie es die chronologische Reihenfolge der Texte suggeriert, oder ob nicht Überlappungen denkbar sind und auch gegenläufige Positionen vernommen werden können, die im 19. Jahrhundert eine patria ablehnen oder sich auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts positiv-affirmativ verhalten. Darüber hinaus wäre ebenfalls eine ausführlichere Diskussion der angerissenen Problematik der missbräuchlichen Verwendung des Begriffs durch Nationalismus und Faschismus interessant gewesen. Kitzinger stellt eine „Zuspitzung des inflationären Gebrauchs zu propagandistischen Zwecken während des Faschismus“ (73) fest, nutzt diese Gedanken jedoch nicht als Ausgangspunkt für weitere Reflexionen zur notwendigen Differenzierung von Nationenbildung und Nationalismus. Auch die Literatur der Resistenza bedürfe, wie Edoardo Costadura im Vorwort anmerkt, in diesem Kontext verstärkt an Beachtung.

Dessen ungeachtet kann die Arbeit einen nennenswerten Anteil daran haben, in heutigen Zeiten, in denen sich erneut auf eine patria italiana berufen wird und die Frage der nationalen Einheit auf wirtschaftlicher, aber auch sozialer und kultureller Ebene im Raum steht, den Hintergrund des Konzepts zu beleuchten. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bildet sie einen fundamentalen Ausgangspunkt für künftige Arbeiten, die die Nationenbildung Italiens und deren Verhandlung in der Literatur in den Blick nehmen. Paula Kitzinger leistet mit ihrer Dissertation daher einen grundlegenden Beitrag zur weitreichenden Wirkung der italienischen Romantik und trägt gleichermaßen zur literaturgeschichtlichen Einordnung verschiedener Texte der italienischen Gegenwartsliteratur bei.

Rezension verfasst von Julia Schlicher

 

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61587

Narrare la patria