Hendrikje Schauer und Marcel Lepper (Hgg.)
Neue Romantik
Eine kleine Literaturgeschichte 1989–2019
Der Titel dieses Büchleins, das im handlichen Format erschienen ist und gute hundert Seiten umfasst, ist missverständlich: Es handelt sich nicht um eine „kleine Literaturgeschichte“ der „Neuen Romantik“. Nein, es handelt sich um gar keine Literaturgeschichte. Denn Werke dieser Gattung nehmen – bei aller historischen Wandelbarkeit – stets Periodisierungen und Kategorisierungen vor. Und trotz des inzwischen selbstverständlichen Nachdenkens über den konstruktiven Akt jeder Geschichtserzählung und dem weit verbreiteten Wissen um dessen zwangsläufige perspektivische Einschränkung bleibt das Stiften eines Zusammenhangs doch Funktion und Ziel einer Literaturgeschichte.
Genau diese Funktion und dieses Ziel werden im Band von Hendrikje Schauer und Marcel Lepper suspendiert, indem sie eine alphabetisch gereihte Sammlung von Stichworten bieten: von „Allegorie“, über „Doppelgänger“ bis zu „Mond“, „Wolf“ und „Zauberwort“. Zu jedem dieser Lemmata liefern verschiedene Beiträger längere oder kürzere Abhandlungen. Diese verbinden entweder gegenwärtige literarische Diskurse und Phänomene oder einzelne Autoren und Autorinnen mit Aspekten der historischen Romantik. Schon 1798/99 hatte Friedrich von Hardenberg in seinem Allgemeinen Brouillon ein enzyklopädistisches Vorgehen gepriesen – keine umfassende und ordnende Sammlung von Wissens, sondern „Verhältnisse – Aehnlichkeiten – Gleichheiten – Wirkungen der Wissenschaften aufeinander“. Aber er hatte dabei wohl mehr im Sinn als diese manchmal willkürlich wirkende Auswahl von Eintragungen ganz unterschiedlicher Qualität.
Unter dem Stichwort „Berge“ verzeichnet etwa Eckard Schumacher motivische Verwandtschaften zwischen Judith Schalansky, Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann. Unter „Bund“ verfolgt Marcel Lepper das Fortwirken politisch problematischer Potentiale, die er bei Hölderlin und Stefan George (und seinem Kreis) ausmacht: ein magisch gestimmtes Programm gegen „die modernen, rationalen, verfahrensförmigen, entpersonalisierten Institutionen“. Dieses Programm wird nach Einschätzung Leppers über die George-Emphase in die frühe und mittlere Bundesrepublik transportiert. Es findet nicht nur in pädagogische Bildungsideale Eingang, sondern auch in das Denken der politischen Linken. Gerade weil die Kenntnis dieser Tradition dem Autor zufolge auch für das Verständnis gegenwärtiger Debattenbeiträge der Neuen Rechten wichtig ist, wünscht man sich eine solidere argumentative Untermauerung und eine ruhigere Analyse des Gegenstandes.
„Erlösung“ ist das Stichwort, unter dem Kai Sina konzentrierte Einsicht in eine romantische Denkfigur gewährt. Anhand der überraschenden Koppelung von Walter Kempowskis kollektivem Tagebuch „Echolot“, der monomentalen Textcollage zum zweiten Weltkrieg, und dem in den Vorbemerkungen zur vielstimmigen Sammlung zitierten romantischen „Zauberwort“ erklärt Sina, wie Kempowskis die Hoffnung auf eine erlösende Befreiung von der Vergangenheit als Phantasma entlarvt. Der folgende Eintrag „Flucht“ lässt den Leser staunen, wie er in diesen Band gelangt ist – etwa, weil es im Heinrich von Ofterdingen einen „Fremden“ gibt? Zur „Ironie“ wird von Philipp Felsch und Andreas Bernard eine wissensgeschichtliche Einordnung geboten. Der Eintrag zu „Jagd“ von Georg Dotzauer beschäftigt sich ebenfalls mit gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen und erklärt die Polarität von Durs Grünbein und Uwe Tellkamp, die in der Debatte über die Liberalität der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Dresdner Kulturpalast zu Tag trat. Dotzauer weist Tellkamps Nähe zum Werk Ernst Jüngers nach und liest den Roman Der Eisvogel als „Plädoyer für eine konservative Revolution“. Doch auch hier bleibt das so notwendige Herausarbeiten romantischer Züge der demokratieskeptischen Tradition zu vage.
Neben den bereits Genannten werden Autoren und Autorinnen wie etwa Rainald Götz, Christian Kracht, Sibylle Lewitscharoff, Reinhard Jirgl, Gianna Molinari, und Leonhard Hieronymi zu Gegenständen von Artikeln, die sich – wie im Falle von Hauke Kuhlmanns anregenden Analyse des Gedichtbands Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond – auch allein ästhetischen Phänomenen widmen können. Denn ‚Romantik‘ wird über die Ursprungsepoche hinaus als Argumentationsweise, Motivik und Stilistik verstanden. Einen definitorischen Ehrgeiz der näheren Bestimmung weist allerding kaum einer der Beiträge auf.
Der einleitende Essay erklärt die in den letzten dreißig Jahren zu verzeichnende Zunahme romantischen Dichten und Denkens mit der Parallele des Epochenumbruchs (1789 und 1989), der daraus resultierenden Verunsicherung und dem gesteigerten Orientierungsbedarf. Aus der historischen Romantik stamme eine Fracht, die noch in der ‚Neuen Romantik‘ in zweierlei Hinsicht genutzt werde: für eine ästhetisch und politisch kritische Reflexion und eine aggressive, regressive, auf Kollektivismus und Identität zielende Denkweise. Von den Herausgebern wird dies „das romantische Farbproblem“ – zwischen „blau oder braun“ genannt. Der zuspitzende, manchmal metaphorische, argumentativ etwas sprunghafte Charakter der Einleitung lässt diesen Konnex weniger differenziert hervortreten als es nutzbringend gewesen wäre. Denn im abschließenden Beitrag von David Brehm zum „Zauberwort“ zeigt sich, wie produktiv er werden kann: Eichendorff, so der Autor, sei stets verschieden gelesen worden: als Dichter der Identitätsstiftung und ihres fortgesetzten Entzugs.
Rezension verfasst von Sandra Kerschbaumer
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61350