Walter Zimmermann (Hg.)
Novalis ABC Buch
Das „Allgemeine Brouillon“. Materialien zur Enzyklopädistik, neu geordnet nach Novalis eigenen Klassifizierungen
„Mein Buch muß die kritische Metaphysik d[es] Recensirens, des Schriftstellens, des Experimentirens, und Beobachtens, des Lesens, Sprechens etc. enthalten. Klassification aller wissenschaftlichen Operationen. Bildungslehre d[es] allg[emeinen] wissensch[aftlichen] Organs – oder besser der Intelligenz –“ (S. 63).
Derart sieht Novalis die Aufgabe der „Encyclopaedistik“ (S. 49–65), wenn er sich in seinem ABC Buch unter dem entsprechenden Stichwort Gedanken dazu macht. Mit seinem Projekt bewegt er sich auf der Grundspur der Romantik, ein Allumfassendes, ein Gemeinsames aller zeitgenössischen Wissensgebiete zu finden. Der Komponist Walter Zimmermann und der Literaturwissenschaftler Josef Schreiber haben zusammen mit Sebastian Jehl und Patrizia Bach das Projekt des Novalis – Das ‚Allgemeine Brouillon‘. Materialien zur Enzyklopädistik – aufgegriffen und bei Matthes & Seitz neu herausgegeben. Ergänzt werden die Texteinträge nun durch Bilder Nanne Meyers.
Die von den Herausgebern vorgenommene Neuordnung der einzelnen Beiträge basiert auf Novalis’ eigenen Klassifizierungen. Da der romantische Autor durch seinen frühen Tod nicht mehr all seine Aufzeichnungen mit einer einschlägigen Klassifizierung versehen konnte, wurden in der neuen Ausgabe nur jene bereits von ihm bearbeiteten Textbausteine verwendet (vgl. S. 6f.). Somit entsteht eine nach Stichworten von Friedrich von Hardenberg geordnete, an mehreren Stellen von kleinen Malereien unterbrochene und mit Querverweisen versehene Enzyklopädie als Fortsetzung der Ursprungsidee des Romantikers. Die Neuausgabe besteht aus einem größeren Einführungsteil, den Einträgen des ABC Buches, einem Abschlussteil von Rainer Riehn sowie einem Register und einer Konkordanz.
Eingeleitet wird die Neuauflage durch eine Einführung von Zimmermann und eine von Schreier – jeweils bestehend aus drei großen Teilen mit unterschiedlichen Themenbereichen (bspw. Aufbau, Entstehungsgeschichte…). Auch Meyer wird Raum gegeben, die Intentionen ihrer Zeichnungen darzulegen, wenngleich die Ausführungen eher einer Randnotiz ähneln, da sie mit einem Sternchen versehen auf dem unteren Rand einer Seite stehen. Die Skizzen, die jene Einträge mit nur einer Gedankennotiz begleiten, sollen als Ergänzungen, als neu entstehende Rätsel gesehen werden, die all das ausdrücken, „was im Text jenseits der Sprache mitschwingt, was nicht in Worte gefasst werden kann und dennoch präsent ist“ (S. 11). Diese Kombination setzt Novalis’ Arbeitsweise des wahllosen Sammelns von Ideen (vgl. S. 17) und seinen Grundgedanken zur „Encyclopaedistik“, dem Ineinanderspiel zweier Pole aus unterschiedlichen Wissensbereichen und der sich immer wieder neu bildenden Realität/dem immer neuen Werden, fort (vgl. S. 16f.).
An diese außertextuelle Ebene knüpft Walter Zimmermanns Vorwort an. Einerseits werde mit der Neustrukturierung von Novalis’ Notizen angestrebt, „eine leichter zugängliche Zusammenschau der Themen [zu] ermöglichen[,] als dies die originalgetreue Transkription in der Historisch-Kritischen-Ausgabe (HKA) vermag“ (S. 6), wodurch eine Betrachtung der Bedeutungen aus verschiedenen Perspektiven möglich werde (vgl. ebd.); andererseits ergebe sich im Idealfall „die Voraussetzung für eine ‚Transkription‘ in musikalische Strukturen“ (ebd.), also eine weitergehende Verknüpfung abseits des Schriftbildes. Als Neuerung nennt Zimmermann die alphabetische Ordnung der in Kapitälchen gesetzten Stichworte, zu der der romantische Autor selbst wohl nicht mehr gekommen war, wenngleich dabei ausschließlich den Klassifizierungen Novalis’ gefolgt werde (vgl. S. 7). Alle weiteren Abschnitte und Gedanken des romantischen Autors, die von ihm keine eindeutige Klassifizierung erhalten haben, werden aus der neuen Zusammenstellung weggelassen (vgl. S. 9). Den Abschluss der Zimmermannschen Einleitung stellt eine Erklärung des Aufbaus und der Benutzung dar.
Nach einer knappen literaturwissenschaftlich-biographischen Einführung zu Novalis und der Rezeption des Werkes nähert sich Josef Schreier über die Begriffe des Allumfassenden, des Absoluten sowie der Realität (vgl. S. 15 und 17) der Entstehung des Allgemeinen Brouillon im Zusammenspiel mit der zeitgenössischen Suche nach „den letzten Grundlagen jeden Wissens“ (ebd.). Dabei spielt in einem kleinen Absatz die von Zimmermann eingeführte Musikalität erneut eine Rolle – in dem Sinne, als dass ein Zusammenspiel „polare[r] Bestimmungen […] den Eindruck einer musikalischen Bewegung“ (S. 16) erwecke, wodurch „bei Hardenberg an vielen […] Stellen musikalische Charakterisierungen gedanklicher Vorgänge zu finden“ (ebd.) seien. Nicht zuletzt transportiere die Sprache die größte Musikalität – und mit ihr das Wissen (vgl. S. 20).
Positiv an der Neuausgabe von Novalis’ Allgemeinem Brouillon fällt der Einführungsteil auf, da er den Lesenden neben Hintergrundinformationen zur Textentstehung sowie zur philosophischen Gedankenwelt Friedrich von Hardenbergs weiterhin Hinweise zur Verbindung mit der HKA und zur Nutzung gibt. Gerade der letzte Punkt zeigt sich als essentiell, um die Struktur der Enzyklopädie zu durchdringen und den Aufbau der einzelnen Einträge zu verstehen. Es erweist sich als gut durchdacht, allen drei Hauptpersonen – den beiden Herausgebern sowie der Künstlerin – Raum für Erklärungen zu lassen, um so drei Perspektiven mit einzubringen: eine editionsphilologische/musikwissenschaftliche, eine künstlerische und eine germanistische. Vor allem die Erklärung zur Beziehung zwischen den Stichworten des Allgemeinen Brouillon und der Musikalität geben Aufklärung und Gedankenanstöße – nicht nur in Bezug auf den Text selbst, sondern ebenfalls für die Tatsache, dass ein Komponist Herausgeber einer philosophischen Schrift ist. Gleiches gilt für Meyers kurze künstlerische Einführung, da sie die Grundintention sowohl der Zeichnungen als auch der Text-Bild-Beziehung darlegt. Generell kann die Verbindung von Bild und Text als gelungen angesehen werden, stellt sie doch einen Ausgangspunkt für weitere Reflexionen dar und rekurriert gleichzeitig auf ein wiederkehrendes Thema der Literaturwissenschaft. Die Verweise auf die HKA – auch in Form der Konkordanz – bieten interessierten Lesenden die Möglichkeit, für weitere, tiefergehende Beschäftigungen mit den einzelnen Einträgen des ABC Buches und dadurch Anschluss an einen rein wissenschaftlichen Kontext.
Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Textgestaltung in den Einführungen: Der gewohnte Blocksatz wird bei jedem neuen Absatz unterbrochen, da dieser in der Seitenmitte beginnt, was sich mit Blick auf die Gestaltung zweifellos an der Form der Enzyklopädieinträge orientiert, die auf dieselbe Weise aufgebaut sind. Auffällig und etwas zu umfangreich erscheinen außerdem die vielen konjunktivisch eingeleiteten Hypothesen in den Erklärungen Zimmermanns zum Fragmentcharakter der Einträge (S. 7f.). Hier entsteht eine gewisse Unsicherheit mit gleichzeitigem Drang zur Rechtfertigung der Ordnung. Etwas verloren wirkt der Text „In (Un-)Art der ‚Europeras‘“ von Rainer Riehn am Ende der Neuausgabe (S. 281–285). Zwar verweist Zimmermann zu Beginn auf den Komponisten und dessen Beschäftigung mit Novalis, doch ist dies nur der Anfangsschritt für die eigene Beschäftigung mit Friedrich von Hardenberg; Riehns textliche Komposition indes bleibt ein nicht eingebundenes Postskriptum.
Schlussendlich stellt sich die grundlegende Frage: Für welches Zielpublikum ist die neue Textausgabe gedacht? Schließlich kann der neuen Herausgabe des Textes mit Blick auf den Umfang, die Gestaltung und den Verlag durchaus unterstellt werden, ein breiteres Publikum als ein rein akademisches erreichen zu wollen, was keinesfalls nachteilig ist. Den literaturwissenschaftlich-philosophischen Ausführungen im Eingangsteil ist jedoch nicht unbedingt leicht zu folgen, zumal sie ein etwas breiteres Vorwissen bezüglich der philosophischen Strömungen um 1800 voraussetzen.
Trotz alledem ist den Herausgebern und Nanne Meyer eine sehr gute Neuausgabe des Allgemeinen Brouillon von Novalis gelungen. Sie ist für eine erste Beschäftigung mit den enzyklopädischen Einträgen leichter zugänglich als die HKA und kommt einer Poetisierung der Wissenschaften gleich (vgl. S. 20). Die Verbindung von Wort und Bild inspiriert, neue Ansätze zu finden, diese weiterzudenken und damit neue Wege im wissenschaftlichen Denken zu erschließen.
Rezension verfasst von Alexander Pappe
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar:
https://doi.org/10.22032/dbt.64094