Stefanie Junges
Oszillation als Strategie romantischer Literatur
Ein Experiment in drey Theilen
In ihrer Dissertationsschrift Oszillation als Strategie romantischer Literatur. Ein Experiment in drey Theilen versucht Stefanie Junges einen innovativen Zugang zur historischen Romantik und zur Romantikforschung zu entwickeln. Erschienen ist die Untersuchung in der von Peter-André Alt und Monika Schmitz-Emans herausgegebenen Reihe Schlegel-Studien. Sie fokussiert sich auf den der Physik entliehenen Begriff der Oszillation. Junges erkennt in ihm die zentrale Strategie romantischer Literatur- und Theorieproduktion. Die Romantikforschung sieht sie mit einer „grundlegende[n] Problematik“ behaftet. Anstatt Momente des „Nichtverstehen[s]“ romantischer Texte als Ausdruck einer programmatischen Oszillationsstrategie zu begreifen, versuche die Forschung, sie auf „operationalisierbare“ Modelle zu reduzieren.
Um das „Gravitationsfeld“ Romantik auszuloten, schlägt Junges einen „induktiven [...] Textzugriff[ ]“ vor. Romantische Unverständlichkeitsstrategien und deren Effekte auf die Textrezeption sollen prozessual nachvollzogen werden. Bemerkenswert an Junges Arbeit ist, dass sie in Anknüpfung an die „progressive[ ] Universalpoesie“ die Gattungsgrenzen von Literatur, Philosophie und Wissenschaft zu überwinden versucht. Dies zeigt sich in Dialogen („Im Zwischenraum“), in denen sich fiktive Teilnehmer austauschen, oder in Passagen, die einen „scientific stream of consciousness“ entfalten, um den Prozess des Textverstehens zu reflektieren. Durch diese Experimente soll die Frage beantwortet werden, wie sich Oszillation im heterogenen Schaffen der Romantiker äußert und ob sich diese Strategie analysieren lässt, ohne die Mehrdeutigkeit romantischer Textproduktion zu zerstören.
Die Dissertationsschrift gliedert sich in drei, als Bücher bezeichnete Teile. Das erste Buch ist in zwei Abschnitte aufgeteilt. Zuerst widmet sich Junges programmatischen Texten der Romantik („Ersten Buches Erster Theil“) u. a. aus den Bänden des Athenaeum[s]. Wesentlich ist die Rekonstruktion von Novalis’ und Friedrich Schlegels Haltung zu Definitionen und Systemen. Diese werden zwar als „Hilfskonstrukte“ anerkannt, zugleich wird „Modelle[n]“ attestiert, ihren Gegenstand, die Poesie, zu beschneiden. Anknüpfend an romantische Formbestände wie Dialogizität, Ironie, Arabeske, Fragment und das Phantastische wird hier das Konzept der Oszillation entfaltet. Dieses tritt in Gestalt von „handlungsinternen Grenzüberschreitungen“, „formalen Überschreitungen innerhalb eines Textes“ oder beim „Übertreten von Textgrenzen“ zu Tage. Im zweiten Teil des ersten Buches („Ersten Buches Zweyter Theil“) werden in Abgrenzung zu Positionen der Romantikforschung die Thesen des ersten Teils verlängert. Es wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem mehrdeutigen Oszillieren der Primärtexte und den aus Junges Sicht reflexhaften Versuchen, das ‚Romantische‘ abschließend zu bestimmen.
Im zweiten Buch („Zweytes Buch“) werden die Oszillationstrategien anhand vertiefender Analysen literarischer Texte dargelegt. Im ersten Kapitel wird das Phänomen der Oszillation anhand der von Zeitgenossen stark kritisierten Erzählstruktur der Lucinde von Friedrich Schlegel erörtert. Das zweite Kapitel befasst sich mit Ludwig Tiecks Theaterstück Der gestiefelte Kater und behandelt die Rolle von Metaebenen und die Rolle des Phantastischen. In der Gegenüberstellung von E.T.A. Hoffmanns Fortsetzungsgeschichten Die Irrungen und Die Geheimnisse im dritten Kapitel fördert Junges dann zahlreiche intertextuelle Verweise zu Tage und zeigt die Vervielfachung von Rezeptionsebenen auf. In diesen Abschnitten der Studie kommt die Verfasserin ihrem experimentellen Anspruch auf verschiedene Weise nach: Im Lucinde-Kapitel soll durch eine „Umordnung“ der Unordnung der Erzählstruktur eine lineare Fassung des Primärtextes vorgestellt werden, um den Lektüreeffekt der tatsächlichen Version genauer rekonstruieren zu können. Das Tieck-Kapitel entspricht der Struktur des Metadramas, wobei durch einen ausufernden Fußnotenapparat eine Verdopplung von Fließtext und Kommentarebene hergestellt wird. Das Kapitel zu Hoffmanns Erzählungen wird dagegen durch die Rekonstruktion einer komplexen Wissensregie getragen, mit welcher der Autor den ästhetischen Effekt des Wiedererkennens unterwandert.
Das dritte Buch („Drittes Buch“) ist von ausblickhaftem Charakter. Junges bekräftigt ihren Zugang, der sich einer „künstlich auferlegten theoretischen Fixierung“ entziehen will. Diskutiert wird der mögliche Mehrwert des Oszillationskonzepts für die Forschung. Während romantische Poesie mit der Metapher des „Spiegelkabinetts“ beschrieben wird, unterbreitet Junges den Vorschlag, Oszillation nicht nur als Strategie romantischer Texte in den Blick zu nehmen, sondern auch dem „wissenschaftlichen Diskurs“ zu Grunde zu legen. Laut Junges bzw. den im „Zwischenraum“ sprechenden, fiktiven Dialogteilnehmern bestehe darin die zentrale Innovation der Studie, die „noch keiner vorher in Erwägung gezogen“ habe.
Zu den Stärken von Junges Metastudie gehört, dass sie einen kritischen und einfallsreichen Zugang zu Definitions‑ und Analysefragen eröffnet, die in Forschungsprozessen eine zentrale Rolle spielen. Bereichernd für die Romantikforschung ist ihr Versuch, Prozesse des Textverstehens als ein Phänomen zu begreifen, das sich auf verschiedensten Ebenen abspielt: auf der Ebene textueller Strategien, der Rezeption sowie im Zusammenspiel verschiedener Text‑ und Wirklichkeitsreferenzen. Insbesondere in den Kapiteln zu den literarischen Texten erweist sich Junges Zugang als überaus produktiv und eigenständig, beispielhaft ist hier das Hoffmann-Kapitel anzuführen. Anstatt sich einer bestimmten Theorieströmung anzuschließen, versucht die Studie aus einer erzählanalytisch geprägten Perspektive, pragmatisch Zusammenhänge aufzudecken.
Aus dieser Positionierung erwachsen im Verlauf der Untersuchung allerdings auch Probleme. Allzu willkürlich wirken manche Entscheidungen der Verfasserin, etwa wann man auf den als reduktionistisch ausgewiesenen Forschungsdiskurs zurückgreifen sollte und wann nicht. Gattungs‑ und Epochenzuordnungen werden weiter verwendet, nur eben dort nicht, wo es „nicht für die Analyse von Bedeutung ist“. Die eher philosophisch-dialogischen als literarischen Verfahren stehen in der Studie manchmal recht unvermittelt neben Abschnitten, die ihren Erkenntniswert auf konventionelle Weise generieren. Es drängt sich die Frage auf, ob der Wert der experimentellen Verfahren an allen Stellen tatsächlich so groß ist, wie behauptet. Man darf überdies in Abrede stellen, dass es die Aufgabe einer wissenschaftlichen Untersuchung sein sollte, das Geschäft der Romantiker fortzuführen. Wenn nämlich Oszillation eine Strategie ist, dann gilt es, diese nicht zu verlängern, sondern − wie in Junges Studie streckenweise durchaus realisiert − aufzudecken und in ihrer ästhetischen Eigenlogik zu durchdringen. Eine Rückbindung an historisierende Forschungsperspektiven, wie sie vor allem im Hoffmann-Kapitel anklingen, hätte in diesem Zusammenhang womöglich noch weitere Einblicke in das Phänomen der Oszillation erlaubt.
Was Junges Untersuchung in einem derart intensiv beforschten Gebiet wie der Romantik gelingt, ist weniger eine bahnbrechende (anti‑)methodische Innovation, als vielmehr eine erkenntnisfördernde Vermittlung zwischen wissenschaftlichem Gegenstand und Methodik. Statt die romantischen Texte stillzustellen, werden die von ihnen angestoßenen Forschungs‑ und Rezeptionsprozesse rekonstruiert. Damit liefert die Untersuchung im Kontext der Romantikforschung wichtige Impulse: Wo sind Modelle zu reduktionistisch? Wie ist mit dem umzugehen, was bei der analytischen Synthese unter den Tisch fällt? Und wie kann das derart Ausgegrenzte von einer wissenschaftlichen Untersuchung reflexiv eingeholt werden?
Rezension verfasst von Sebastian Weirauch
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61612