Nicole A. Sütterlin
Poetik der Wunde
Zur Entdeckung des Traumas in der Literatur der Romantik
2019 hat Nicole A. Sütterlin eine Studie vorgelegt, die sich mit der Entdeckung des Traumas in der Literatur der Romantik beschäftigt. Seitdem die Trauma Studies in den 1990er-Jahren an der Yale School of Deconstruction aufkamen, wurden sie von ihren Kritikern bezichtigt, sich zum Handlanger einer unethischen ‚Trauma-Kultur‘ zu machen, in der die Grenzen zwischen Tätern und Opfern zugunsten einer Differenzlosigkeit verwischt würden. Nicole A. Sütterlin zeigt in ihrer Studie Poetik der Wunde überzeugend, dass der Traumadiskurs schon zu Zeiten der Formierung des modernen Individuums maßgeblich beteiligt war.
An Traumadiskurse in den Nullerjahren anschließend (Kap. II), interessiert sich Sütterlin vor allem für das Trauma als kulturelles Deutungsmuster. Zwar macht sie darauf aufmerksam, dass – anders als die diagnostischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-II vermuten lassen – das Trauma oder die PTBS-Diagnose seit ihrer Einführung im Jahr 1980 schon immer auch in politische und (moral-)ökonomische Diskurse eingebunden waren und zudem aufgrund des stark ausgeprägten subjektiven Faktors sich einer glasklaren Definition entziehen. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der diskursiven Dimension, die das Trauma (von griech. Τραύμα, ‚Wunde‘) zum Paradigma aufsteigen ließ: Sütterlin verweist unter anderem auf das Oxford English Dictionary, das registriere, wie das Traumavokabular im populären Gebrauch „zunehmend für belastende Erfahrungen aller Art verwendet wird“ und so „zu einem Sinnbild für das heutige Selbst- und Weltverständnis schlechthin avanciert“ (ebd., S. 8). Greifen wir auf unser Alltagswissen zurück, bestätigt sich diese Beobachtung schnell: Allgemeinmenschliche Erfahrungen von Verletzung und Verlust werden oft als ‚traumatisch‘ bezeichnet und verstanden (vgl. ebd., S. 71). Dies ist nur ein Hinweis darauf, „dass sich der Mensch des ausgehenden und des beginnenden Jahrtausends zunehmend über seine psychischen Wunden definiert“ (ebd.). Das Trauma, so Sütterlin, sei zur Wahrheit des Subjekts geworden.
Die Protagonisten der Yale School of Deconstruction interessieren sich insbesondere für das traumatische Gedächtnis, und zwar insofern, als sich dieses der Bewusstwerdung und Darstellung entzieht. Das Trauma steht also, literaturwissenschaftlich gewendet, einerseits für das grundsätzliche Scheitern von Repräsentation und andererseits wird es „zum Inbegriff für die Annahme einer nicht-symbolischen […] ‚Wahrheit‘ des Subjekts, die dem Bewusstsein ebenso wie der (sprachlichen) Darstellung unzugänglich bleibt“ (ebd., S. 63f.). Die Trauma Studies verstehen sich als ein ethisches Projekt, denn dadurch, dass traumatisches Wissen literarischem Wissen angenähert wird, könne eine neue Art des Zuhörens ermöglicht werden, die gerade dann gebraucht wird, wenn sich die Frage stellt, wie „das Zeugnis“ der sich verringernden Zahl noch lebender Holocaust-Opfer „in verantwortlicher Form tradiert werden könne“ (ebd., S. 65). Die ethische Forderung verlangt eine an der Literatur geschulte Komplexität, die die Tätigkeit der Lektüre eines Textes mit dieser neuen Art des Zuhörens verzahnt. Dieses Lektüreverfahren, wie es beispielsweise Goeffrey Hartman konzipiert, weiß um das Nicht-Darstellbare und Nicht-Einholbare, um das sich die Erzählung spinnt.
Diese literarisch geschulte Komplexität des Zuhörens wird von der Kritik allerdings als Differenzlosigkeit gewertet. Wulf Kansteiner, der zu den wortführenden Kritikern der Trauma Studies gezählt werden darf, kritisiert die „irreführende Gleichsetzung zwischen den vorgeblich traumatischen Komponenten aller menschlichen Kommunikation und dem konkreten Leiden der Opfer physischer und mentaler Traumata“ (Kansteiner, Menschheitstrauma, S. 109f.). Kansteiner versteht Hartmans Annäherung von traumatischem und literarischem Wissen als kategoriale Gleichsetzung, mittels derer jeder zum Opfer würde. Die Trauma Studies, so Kansteiner, machen sich so zum Handlanger einer ‚Trauma-Kultur‘, die dort eine zunehmende Differenzlosigkeit propagiere, wo die Unterscheidung von Täter und Opfer moralisch und politisch geboten sei.
Nicole Sütterlin arbeitet sich – freilich unter anderem! – an diesem Vorwurf ab und kommt zu dem Schluss, dass nicht die Trauma Studies auslösendes Moment einer Unschärfe von Opfer und Täter sind: Über das Motiv der Wunde in der Literatur der Romantik zeigt Sütterlin überzeugend, dass die Texte von Hartman und Co. nicht Ursache, sondern Symptom sind, indem sie die diskursiven Bedingungen des Traumas in den Vordergrund stellt, nämlich das moderne Individuum, wie es sich in der Sattelzeit der Moderne entwickelt. Die Trauma Studies partizipieren an einer Neufiguration von Diskursen der Vulnerabilität, die schon um 1800 die Stoßrichtung angeben, motivisch das Trauma zum kulturellen Deutungsmuster avancieren zu lassen. Dazu zählen, um nur einige zu nennen, der Wandel der medizinischen Anschauung des menschlichen Körpers vom Säfteleib (oder Humoralkörper) zum neuronalen Organismus, die Entdeckung der Kindheit samt der identitätsbildenden Verletzlichkeit in den Anfängen der Entwicklungspsychologie. Nicole Sütterlin begibt sich sodann auf die Suche nach der Wunde/dem Trauma in der aufkommenden Moderne und beleuchtet die Basisdiskurse des fragilen neuzeitlichen Individuums, auf die schließlich romantische Poetiken – hier insbesondere diejenigen E.T.A. Hoffmanns und Clemens Brentanos – Bezug nehmen und die Wunde zu einem höchst produktiven literarischen Motiv avancieren lassen. Was die Romantik durch das Zeigen gesunder oder verletzter Haut, von Wunden, Narben, Schnitten, Schrammen und Schmissen literarisch inszeniert, verhandelt das Verhältnis von semantischen Öffnungen und Schließungen, die unaufhörlich Text generieren und an einer Neukonfiguration von Identitätskonstruktion, psychischer Verletzlichkeit und Opferschaft partizipieren.
E.T.A. Hoffmanns wohl bekannteste Erzählung Der Sandmann kann als Pathogenese des Protagonisten Nathanael gelesen werden, dessen zunehmende Dissoziation als Folge des gewaltsamen Übergriffs durch Coppelius in Nathanaels Kindheit verstanden wird. In den Elixieren des Teufels werde laut Sütterlin das Kindheitstrauma von Franz (später Medardus) thematisch. Dessen Heimsuchung durch gespenstische Doppelgänger kann als Symptom einer PTBS erklärt werden, die durch den symbolisch dargestellten sexuellen Missbrauch des Kindes durch seine zukünftige Pflegemutter (der Äbtissin) ausgelöst wird. Rufen wir uns in Erinnerung, dass aus den inzestuös-sexuellen Übergriffen der männlichen Francesko-Abkommen verletzte Frauen hervorgehen, deren weiblichen Familienabkömmlinge wiederum neue Traumata verursachen, kann man zum einen von transgenerationalen Weitergaben des Traumas und Zyklen der Gewalterfahrung sprechen, wodurch „Figuren wie Medardus […] nicht schlicht Wahnsinnige oder Verbrecher, sondern zuallererst missbrauchte Kinder [sind]“ (ebd., S. 407). Hoffmann inszeniert das Trauma als Grund und Abgrund seiner Literatur (vgl. ebd., S. 405) und gibt dem Motiv schon Anfang des 19. Jahrhunderts eine Form, die Kritiker der Trauma Studies selbigen heute anlasten wollen: Durch die schon im ausgehenden 18. Jahrhundert stattfindende Neukonfiguration von Opferschaft, an der romantische Literatur partizipiert, verkomplizieren sich in Trauma-Erzählungen die Positionen von Opfer und Täter, Betroffenen und Nicht-Betroffenen. Zudem nimmt Hoffmann gleichsam die Kritik vorweg, „welche rund zweihundert Jahre später an die ‚ästhetisierende‘ Traumatheorie gerichtet werden wird“ (ebd., S. 298).
Die Trauma Studies sind also nicht als Urheber einer psychosozialen Trauma-Kultur zur Verantwortung zu ziehen. Nicole A. Sütterlins Monografie Poetik der Wunde halte ich für rundum gelungen: Erneut wird uns vor Augen gestellt, mit welcher anhaltenden Relevanz Diskurse und Theorien aus der Romantik insistieren.
Rezension verfasst von Daniel Neumann
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61692