Norman Kasper und Jochen Strobel (Hgg.)
Praxis und Diskurs der Romantik 1800–1900
Der Band Praxis und Diskurs der Romantik 1800–1900 verfolgt das Anliegen, mithilfe exemplarischer Studien das ambivalente Verhältnis des 19. Jahrhunderts zur Romantik genauer auszutarieren. Die Herausgeber gehen dabei einem praxeologischen und diskurstheoretischen Ansatz nach. Sie verfolgen die These, dass dem Diskursiven auch eine praktische Dimension innewohnt, dass also Deutungen von Romantik immer auch Konzepte hervorbringen, die das allgemeine Verständnis von der Epoche prägen. Nach einem einleitenden Überblicksbeitrag zur gesellschaftlichen und literarischen Landschaft, in der sich um 1800 eine deutschsprachige Romantik formieren konnte, bietet der Band kunst- und literaturwissenschaftliche Beiträge zu praktisch-ästhetischen Umsetzungen romantischer Topoi. Des Weiteren vermitteln diskursgeschichtliche Aufsätze einen Eindruck von den affirmativen und auch deutlich kritischen Beiträgen, durch die das 19. Jahrhundert ein nachhaltig ambivalentes Verhältnis zur Romantik stiftete. Axiome des Romantischen oder gar eine Definition von Romantik sollen in diesem Band nicht vorausgesetzt, sondern in den jeweiligen positiven wie negativen Bezugnahmen auf die Epoche herauskristallisiert werden. Phänomene, die sich dem ‚Label‘ Romantik entziehen oder in keiner ausgewiesenen Rezeptionskette zu ihr stehen, gehören demnach vordergründig nicht zum Untersuchungsbereich dieses Bandes, wodurch er sich von einem modelltheoretischen Zugang abhebt.
Im einleitenden Überblicksbeitrag Romantik als poetische Praxis (in) der Aufklärung plädiert Jürgen Joachimsthaler dafür, frühromantische Texte nicht als Initialzündung für eine eigene Epoche zu verstehen, sondern vielmehr als eine „konsequente Fortführung“ (S. 27) der Aufklärung. In ihrem Programm seien etwa bereits das Konzept der unabschließbaren Perfektibilität des Menschen (Lessing) oder der Ästhetisierung des Sakralen (Goethes und Heinses Italienreisen) veranlagt gewesen. Das aufklärerische Projekt der expansiven Erschließung von fernen Kontinenten, Kulturen und Religionen habe außerdem bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Interesse an phantastischen Geschichten und neuen Vorstellungswelten geschürt. Ob und inwiefern allerdings auch das romantische Streben nach einer holistischen Sinnperspektive zur Vereinigung der disparaten neuen Erfahrungswerte durch die Aufklärung vorbereitet wurde, führt Joachimsthaler nicht aus. Der Aufsatz besticht dennoch durch die Dichte an literatur- und sozialgeschichtlichem Wissen, das der Zeit um 1800 eine anschauliche und differenzierte Darstellung verleiht. Im Gegensatz zu den in der Einleitung vorgeschlagen Ansätzen, lässt sich dieser Beitrag als eine historische Grundlage für die weiteren Beiträge verstehen.
Der künstlerischen Umsetzung romantischer Themen widmet sich Monika Schmitz-Emans am Beispiel von Wolkenstudien. Wolken wurden um 1800 als eine Verbindung zwischen Irdischem und Transzendentem betrachtet, die, in einem fortwährenden Zustand der Liminalität begriffen, keine endliche und definitive Form finden. An ihnen kann der Mensch seine Kreativität spielen lassen, gleichzeitig können die unscharfen Gebilde auch, der Arabeske gleich, das freie Spiel der Phantasie wachrufen. Wolkenstudien stellten um 1800 eine Schnittmenge poetischer, malerischer, aber auch meteorologischer Diskurse dar und beflügelten gerade die produktive Auseinandersetzung mit Fragen nach der adäquaten Darstellbarkeit des Zufälligen, Vergänglichen und Wandelbaren. Die Autorin zeigt, dass sich über die als romantisch etikettierte Wolkenkunst konstitutive Merkmale für eine disziplinübergreifende romantische Praxis nachvollziehen lassen.
In seinem Aufsatz Dramaturgien der Romantik unternimmt Norman Kaspar einen interdisziplinären, diskursanalytischen Vergleich von Epochennarrativen der Romantik. Als Analysegegenstand wählt er die Debatten um romantische Kunst im Nachmärz, die vor allem durch den Literaturhistoriker Hettner und den Kunstwissenschaftler Riegel angeführt wurden. Er stellt die literatur- und kunsthistorische Lesarten einander gegenüber und zeigt auf, wie die unterschiedlichen Zäsur- und Schwerpunktsetzungen der Fächer je eigene Akzente der Romantik als konstitutive Merkmale festlegten. Kaspar markiert mit seinem theoretischen Ausgangspunkt das Desiderat einer Metahistoriographie der Literaturgeschichte und zeigt darüber hinaus beispielhaft die narrativen Muster einer Epochenkonstruktion anhand der romantischen Kunstschriftstellerei auf.
In Barry Murnanes Beitrag steht dieses kontingente und ambivalente Verhältnis von Epochenkonstruktionen ebenfalls im Zentrum der Untersuchung. Die pointiert skizzierte Rezeptionsbewegung der Literatur E.T.A. Hoffmanns von Deutschland nach Schottland über Frankreich wieder nach Deutschland steht in dem Spannungsfeld von anfänglicher psychopathogener Diskreditierung und emphatischer Aufnahme des Phantastischen. Murnane trägt sowohl der europäischen Dimension der Romantik als auch ihrer diskursiven Genealogie Rechnung: Einerseits ist die Romantik in Europa ohne transkulturelle Rezeption nicht denkbar. Andererseits implizieren literaturwissenschaftliche Modelle des Romantischen Ausschluss- und Inklusionsmechanismen.
Ludwig Stockinger bestätigt Teilergebnisse von Murnane und Kasper, indem er die Begriffe ‚Romantisches‘ und ‚Romantik‘ auf Grundlage von Artikeln in der 6. und 10. Auflage des Brockhaus Konversationslexikons historisch perspektiviert. Die 6. Auflage von 1824 gibt das Wissen um die Begriffe am Ende der Goethezeit wieder. In der 10. Auflage, die in den Jahren 1851–1855 entstand, spiegelt sich die Wende zur Realpolitik und zum literarischen Realismus. Während die Poesie und die Akteure der Romantik 1824 noch nicht als solche gekennzeichnet wurden und eher diffus die Rede von einer ‚Revolution im Gebiete der Kunst und Poesie‘ (S. 93) war, enthielt der epochenunabhängige Wortgebrauch des Romantischen bereits viele Charakteristika, die heute romantischer Literatur zugeschrieben werden. Etwas knapp fällt Stockingers Analyse der 10. Auflage und somit der Vergleich mit der Restaurationszeit aus, deren antiromantische Polemik sich auch im Lexikonwissen der Zeit niederschlug.
Maike Oergel wendet sich dem europäischen Ideentransfer des 19. Jahrhunderts zu. Ihre Argumentation besticht dadurch, dass sie entscheidende Parallelen nationalkultureller Selbstdeutungen in der deutschen Philosophie um 1800 sowie in der englischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert aufzeigt. Diese Selbstdeutungen seien aus dem Transfer eines romantischen Kulturmusters entstanden, das von der Romantik ausging. Es besteht wesentlich darin, die eigene Kultur von einer historisch differenten Kultur abzugrenzen, letztere zu überhöhen und die Abgrenzung durch Assimilation aufzuheben. Ob jedoch dieses Kulturmuster mit dem Attribut „romantisch“ ausreichend gekennzeichnet ist, erforderte weitere Studien, die zeigen, dass dieses Muster ein Präzedenzfall der ästhetischen, politischen und philosophischen Romantik ist.
Die Entstehungsbedingungen romantischer Strömungen zu erschließen und nach Umsetzungen der ihr eigenen Theorie in romantische Praktiken zu fragen, gehört ebenso zu den Säulen der aktuellen Romantikforschung wie die Analyse ihrer Bewertungen in der Epoche nach 1830. Beides verspricht adäquate Zugänge zur Erklärung ihrer Pluralität und überzeitlichen Strahlkraft. Mit seinen Einzelbeiträgen und seinem übergeordneten theoretischen Ansatz erfüllt der Band die an ihn gestellten Erwartungen und liefert reiches Material für eine noch unvollständige Landkarte kultureller, sozialer und politischer Entwicklungen im Ausgang von der historischen Romantik.
Gerade die transdisziplinären, transkulturellen und komparatistischen Aufsätze führen anschaulich vor, dass die Semantiken des Ausdrucks „Romantik“ und „romantisch“ sowie die Kontexte ihrer Verwendung Aufschluss über die zeitliche, fachliche und räumliche Gebundenheit ihrer Definitionen geben. Konträr zum theoretischen Anspruch des Bandes gelingt es jedoch nicht immer, diese Definitionen aus den jeweils spezifischen Diskursen abzuleiten. Oergel, Joachimsthaler und Murnane machen mit ihren Beiträgen deutlich, dass es ebenso produktiv wie notwendig sein kann, dem eigenen Beitrag eine Definition von Romantik transparent zugrunde zu legen, da so die impliziten Kontinuitäten und Transformationen der um 1800 entwickelten Verfahren und Muster sichtbar gemacht werden können. Der diskursanalytisch-praxeologische Ansatz des Bandes und eine modelltheoretische Perspektive, die Merkmale des Romantischen voraussetzt und auch außerhalb des Begriffs nach entsprechenden Phänomenen sucht, können sich – wie die Herausgeber in ihrer Einleitung betonen – gegenseitig in ihrem Wechselspiel ergänzen und so die Forschungslandschaft bereichern.
Rezension verfasst von Patricia Kleßen und Hendrick Heimböckel
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61418