Dirk von Petersdorff
Romantik
Eine Einführung
Dirk von Petersdorffs Einführung in die Literatur und Kunst der Romantik endet in der Gegenwart. Und zwar bei Tocotronic, genauer dem Song Electric Guitar von einem Album, das ein zentrales Motiv der Romantik bereits im Titel trägt: Die Unendlichkeit. Diesem Schlussakkord, in dem Petersdorff sein Romantik-Album ausklingen lässt: „Ich erzähle dir alles, und alles ist wahr, Electric Guitar“, ist der kurz zuvor erwähnte, „geradezu als Sentenz formuliert[e]“ (S. 138) Songtitel: Im Zweifel für den Zweifel vom Tocotronic-Album Schall & Wahn gleichermaßen beiseite- wie gegenübergestellt.
Von Wahrheit und Zweifel, Schall und Wahn handeln auch die Texte der literarischen Romantik, die zwar einiges, aber nicht alles mit dem gemein hat, was heute unter dem Stichwort „Romantik“ verhandelt und, wie sich in vielen Fällen vielleicht korrekter sagen lässt, vermarktet wird – die „Romantik-Hotels“ (S. 8) sind hierfür nur ein Beispiel, das auch von Petersdorff nennt. Die literarische Romantik, die selbst so heterogen war wie die Texte und die in der Regel bewusst fragmentarischen Programmatiken, die sie verfasste, verband letztlich vielleicht nur eines: ein Ungenügen an der Gegenwart, eine Sehnsucht nach dem Unbedingten, dem Transzendenten, der „Unendlichkeit“ inmitten des Endlichen, Bedingten; immer begleitet von unterschiedlich ausgeprägten Formen des Zweifels und der hieraus hervorgehenden Motorik einer nie stillzustellenden Suche. Eine Bewegung, die kein Ziel findet, weil jedes Ziel sie selbst (und dies nicht im Hegelschen Sinne) aufheben und nichtig werden ließe; eine Bejahung der Negation – „im Zweifel für den Zweifel“ – bei gleichzeitig emphatischem Festhalten an einer unbedingten Wahrheit, deren Versprechen aber daran gekoppelt ist, auch alles erzählen zu können, denn nur „alles ist wahr, Electric Guitar“. Und wer kann schon von sich behaupten, alles erzählen zu können?
Ob von Petersdorff es allererst versucht? Eher nicht. Auf rund 150 Seiten wäre dieser Anspruch auch vermessen. Gleichwohl: Er beginnt bei den frühromantischen Anfängen, jenen Salons und „Wohngemeinschaften in Berlin, Jena und Heidelberg“ (S. 22), in denen um 1800 die Bewegung der damals 20 bis 30-Jährigen ihre ersten „symphilosophischen“ und „sympoetischen“ Gespräche führt und Texte schreibt, und endet bei Bob Dylan, Herrndorffs Tschick oder dem schon zitierten Dirk von Lowtzow. Dazwischen findet sich von der frühromantischen „zündenden Idee“, der sprachlich-literarischen Form der romantischen Ironie, Caspar David Friedrichs Gemälden, den gesellschaftlich-politischen Vorstellungen der Bewegung bis zu Fragen nach der romantischen Liebe (auf die konsequenterweise nur noch die Erörterung der „dunkle[n] Seite der Romantik“ folgen kann: „Melancholie, Depression, Spaltung") all das, was man von einer Einführung in diese Epoche thematisch erwarten kann – und sollte.
Dabei gelingt es von Petersdorff, die von Schlegel und Novalis als Prinzip romantischer Literatur ausgemachte Formel, in einzelnen Beispielen, im Mosaik der Fragmente, in der Miniatur, das ‚große Ganze‘ aufscheinen zu lassen (bei gleichzeitigem Wissen, dass man seiner nie vollständig habhaft werden kann), zum eigenen Darstellungsprinzip zu machen; was nicht heißt, das der Band nicht zugleich auch in Form der weitgehend abgeschlossenen Kapitel stimmige, in sich runde Abhandlungen der jeweiligen Aspekte präsentierte. Insbesondere mit Blick auf die Komplexität der frühromantischen Poetologie eignet sich die argumentativ konzise, sprachlich elegante und flüssig zu lesende Darstellung z. T. sehr voraussetzungsreicher Diskurse und Theoreme nicht nur, aber gerade auch für Studierende. Was etwa romantische Ironie beinhaltet, inwiefern sie sich von einer „einfache[n] rhetorische[n] Ironie“ (S. 47) abgrenzt bzw. diese anreichert, wie sie bei Heinrich Heine, Thomas Mann literarisch oder Richard Rorty Ende des 20. Jahrhundert philosophisch aufgegriffen wird, ist auf weniger als 15 Seiten kaum präziser und zugleich durch den Einbezug konkreter Beispiele plastischer, greifbarer darzulegen. Gleiches gilt für das Kapitel „Romantik in der Praxis: Politik“. Es zeichnet den Weg von den frühromantischen Konzepten, primär unter Rekurs auf Schriften Novalis‘, hin zu der antisemitisch und national-restaurativen Programmatik der von Adam Müller und Achim von Arnim mitbegründeten „Deutschen Tischgesellschaft“ nach – und Petersdorff weist mit einigem Recht auf eine gewisse Anfälligkeit, ein „Risiko in der Anlage der romantischen Politikvorstellung“ (S. 84), der in den offenen Salons der Frühromantik, „in denen Juden und Christen zwanglos zusammentrafen“ (ebd.), formulierten frühromantischen politisch-gesellschaftlichen Theorien für die späteren „aggressiv nach innen und nach außen“ (ebd.) betriebenen Abgrenzungsbestrebungen der „Tischgesellschaft“ hin.
In dem mit „Melancholie, Depression, Spaltung: die dunkle Seite der Romantik“ überschriebenen Kapitel wird am Beispiel der Lektüren von Hoffmanns Erzählungen Der goldene Topf oder Der Sandmann vorgeführt, wie hier frühromantische Theorien der „Existenz zweier Welten“ (S. 110), zweier Wahrnehmungsweisen, einer alltäglichen, bedingten, und einer phantastisch-wunderbaren, unbedingten, aufgegriffen und am Beispiel der Protagonisten in ihrem bedrohten Gleichgewicht zur Darstellung gebracht werden. Einbezogen wird dabei auch die Darstellungsebene, die Art und Weise, wie es den Erzählungen gelingt, ihre Rezeption durch Techniken der Selbstreflexion und durch das Mittel romantischer Ironie hinsichtlich einer Bewertung der dargestellten Vorgänge in der Schwebe zu halten und so das frühromantische Postulat Schlegels aus dem 116. Athenäums-Fragment einzulösen. (Ein wenig verkürzt wird einzig Tiecks Märchennovelle Der Runenberg, wenn Petersdorff der Wertung des Erzählers, der vom Protagonisten Christian am Ende als dem „Unglückliche[n]“ spricht, vielleicht etwas voreilig und aus der Perspektive der bürgerlich-alltäglichen Wahrnehmungsweise folgt.)
Die Thematiken der einzelnen Kapitel sind stets so konturiert, dass Kontexte in Form diachroner wie synchroner Verbindungslinien sichtbar werden. Schwerpunkte bilden etwa die englische Romantik, auf die am Beispiel von Autor_innen wie Elizabeth Barrett Browning, William Wordsworth oder Edgar Allan Poe eingegangen wird, aber auch Resonanzen, „Erneuerung[en]“ (S. 123) in der deutschen Literaturgeschichte ebenso wie in anderen Nationalliteraturen. Zugleich werden aber auch benachbarte Diskurse der Philosophie und Malerei, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist, mit einbezogen, die verdeutlichen, dass die Strömung der Romantik nicht auf das Feld der Literatur begrenzt bleibt, sondern Einflüsse anderer kultureller Diskurse aufgreift und auf diese zugleich auch zurückwirkt. Wer nicht nur eine gut verständliche und argumentativ klare Einführung in die Romantik sucht, sondern den Blick auch dafür weiten möchte, wie sehr zentrale Gedanken dieser Zeit (auch jenseits aller Vermarktungen des Begriffs) bis in unsere Gegenwart fortwirken und noch unsere heutigen Auffassungen von Liebe, Identität oder Natur prägen, und wer zudem eine ebenso kenntnisreiche wie unterhaltsame Erzählung, wie man es fast nennen möchte, dieser Zusammenhänge sucht, dem/der ist das Buch vorbehaltlos zu empfehlen.
Rezension verfasst von Carlo Brune
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61729