Annika Bartsch

Romantik um 2000

Zur Reaktualisierung eines Modells in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart

Universitätsverlag Winter 2019

Inwieweit die Romantik in der Literatur der Gegenwart eine Rolle spielt – das ist, stark vereinfacht gesagt, das Anliegen der Dissertation von Annika Bartsch. Die Arbeit ist am Graduiertenkolleg ‚Modell Romantik‘ der Universität Jena entstanden und bietet eine kompakte theoretische Einführung sowie Analysen ausgewählter Werke von insgesamt fünf deutschsprachigen Schriftsteller*innen der Gegenwart. In einer feuilletonistisch inspirierten Einleitung wird die Forschungsfrage zunächst aus aktuellen Beiträgen zu einer ‚heutigen Romantik‘ motiviert, Definitionsprobleme und methodische Schwierigkeiten werden angesprochen, bevor es in den drei folgenden Teilen philologisch fundiert zur Sache geht.

Der erste Teil der Dissertationsschrift befasst sich mit Theorie und Methode: Zunächst wird beschrieben, in welcher Weise literarische Tradition als Reaktualisierung verstanden werden kann. Dabei zeigen sich die für einen diachronen Vergleich typischen Probleme: Welche Texte referenzieren in welcher Form auf die Romantik und was ist dabei das Tertium Comparationis? Mit Verweis auf die Forschungsliteratur wird die Schwierigkeit einer Definition von ‚Romantik‘ vorgestellt. Dann wird in Abgrenzung von intertextuellen und diskursanalytischen Ansätzen ein modelltheoretischer Ansatz nach Kerschbaumer und Matuschek für die Beschreibung und Reaktualisierung von Romantik vorgestellt. Der diskursgeschichtliche Ansatz wird hier allerdings nur stark verkürzt wiedergegeben. Hier hätte bspw. auf die diskurssemantischen und begriffsgeschichtlichen Arbeiten zur Romantik von Jochen A. Bär zurückgegriffen werden können, die einen praktikablen Ansatz bieten, um sowohl mit romantischer Ambivalenz als auch mit der Spannung zwischen historischer Bedeutung und heutiger Verwendung umzugehen.

In Grafiken und Erläuterungen werden Geschichte und Nutzung des Modellansatzes für die Literaturwissenschaft erklärt, dann wird das „Modell ‚Romantik‘ als Referenzobjekt der Reaktualisierung“ (S. 45) vorgestellt. Dabei werden die „zentralen Basisannahmen“ der „Konstituierungsphase des Modells ‚Romantik‘“ um 1800 beschrieben und es wird vorausgesetzt, dass diese über das Modell transportiert werden (S. 47). Die ‚Ladung‘, in der Sprache des Modells als „Cargo“ bezeichnet, ist das, was in der Gegenwartsliteratur übernommen wird. Diese „Essenz der Basisannahmen“ (ebd.) der Romantik ist damit das Tertium Comparationis, das im Folgenden genauer definiert wird.

Der zweite Teil enthält dann die eigentliche inhaltliche Beschreibung des Modells ‚Romantik‘, zugeschnitten auf die Fragestellung der Arbeit. Dabei wird der Cargo des Modells als abstrahierte und reduzierte „Essenz“ aus romantischen poetologischen und philosophischen Texten sowie aus der Forschungsliteratur gewonnen. Angelegt ist diese Reduzierung des Gegenstands elegant unter Zuhilfenahme eines problemgeschichtlichen Ansatzes nach Werle (2006), der es erlaubt, Romantik als „Reaktion auf eine vorgefundene Problemkonstellation“ aufzufassen (S. 55). In einem zweiten Schritt wird die romantische Antwort auf diese Problemkonstellation beschrieben. Die Autorin kondensiert dabei unterschiedliche romantische Positionen zu einer Struktur, die als Pyramide vorgestellt wird. Diese verbildlicht die für das Modell ‚Romantik‘ konstitutive Grundannahme: An der Spitze steht ein diskursiv nicht erfassbares höchstes Prinzip. Darunter folgen Denkfiguren der ästhetischen Darstellung und die Überführung der Philosophie in die Kunst, während die Grundfläche die konkreten Textphänomene bilden (S. 78). Die Pyramide soll dabei die quantitative Verteilung und den Abstraktionsgrad anzeigen. Dieser kondensierte Romantikbegriff dient dann als Ausgangspunkt für die Analyse der Werke aus der Gegenwartsliteratur.

Der dritte Teil umfasst schließlich die besagten Analysen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur in Hinblick auf ihren Romantikbezug, die eindeutig am spannendsten und lesenswertesten sind. Hier wird die Produktivität des Ansatzes für eine kritische und innovative Sicht auf Gegenwartsliteratur deutlich: Gut eingebettet in die aktuelle Forschung analysiert die Autorin, ob „sich für die Autor*innen ein je spezifisches Modell ‚Romantik‘ bestimmen lässt“ und ob diese dann Modellobjekte, also strukturgebend für das Modell ‚Romantik‘ sind (S. 117). Im Zentrum der Analysen stehen Texte der Gegenwartsliteratur, die sich auf die historische Romantik beziehen und die gleichzeitig diese Bezüge produktiv für Problemstellungen der Gegenwart nutzen. Die Analysen beginnen mit dem Roman Paradiese, Übersee (2003) der Autorin Felicitas Hoppe, dann folgen Analysen zu Wolfgang Herrndorfs Erzählband Diesseits des Van-Allen-Gürtels (2007) und Tschick (2012). Über Themen wie Reisen und Identität, durch eine Analyse der Erzählsituation, der raumzeitlichen Ordnung und der narrativen Struktur der erzählten Welt und der Weltwahrnehmung durch Sprache werden die Modelle ‚Romantik’ (Hoppe) und ‚Romantik‘ (Herrndorf) konstruiert und mit dem vorher entwickelten Romantikmodell abgeglichen. Danach wird das explizit auf die Romantik bezogene Werk von Helmut Krausser unter die Lupe genommen, besonders die Romane Thanatos. Das schwarze Buch (1996) und UC (2003). Neben den Werken wird in der Analyse die Selbstinszenierung des Autors im Geiste des romantischen Geniekults betrachtet. Anhand zahlreicher intertextueller Beziehungen zu romantischen Texten, die auch in der Forschungsliteratur gut beleuchtet sind, erläutert die Verfasserin die Romantikbezüge im Werk und kommt zu dem Schluss, dass im Werk romantische Denkfiguren produktiv rezipiert und an die moderne Problemkonstellation angepasst werden, in der das Subjekt absolut steht.

Zwei Einzelfälle der Gegenwartsliteratur mit Romantikload beschließen den Analyseteil: In Hans-Ulrich Treichels Tristanakkord (2000) wird die Rezeption romantischer Musikästhetik untersucht, die die Autorin mit umfangreichem Detailwissen vorstellt. Der Roman Die Unglückseligen (2016) von Thea Dorn, eine selbstbekennende Eichendorff-Rezipientin, wird in Hinblick auf die Hauptfiguren untersucht, die selbst den Sprung zwischen historischer Romantik und Gegenwart verkörpern. Beide Beispiele sind für die Verfasserin nicht modellhaft und strukturgebend, sondern beziehen sich nur auf einzelne Textphänomene der Romantik. In der Auswahl und Ordnung der Analyse spiegelt sich das vorher gestellte Analysemodell der Pyramide.

Abschließend sieht die Verfasserin in Bezug auf die Problemgeschichte der Romantik im Vergleich zur Gegenwart eine kontinuierliche Entwicklung von 1800 bis heute. Unterschiede beträfen dabei vor allem die transzendentale Überschreitung und das religiöse Streben nach einem Absoluten, das in der Gegenwart relativiert oder subjektiviert wird. Das Modell ‚Romantik‘ ist für sie ein „zentrale[r] Bezugspunkt“ der Gegenwartsliteratur in unterschiedlicher Ausprägung (S. 265). Kritisch betrachtet geht dieses Urteil etwas zu weit, die Untersuchung von fünf Beispielen lässt keine generalisierten Aussagen zur Gegenwartsliteratur zu. Um diese Frage angemessen zu beantworten, bräuchte es einen quantitativen Ansatz, der diese an sich spannende Fragestellung weiterführen könnte.

Zusammenfassend zeigt die Arbeit, dass das Modell ‚Romantik‘ aus Jena auch für Analysen der Gegenwartsliteratur gebraucht werden kann. Die Stärke liegt in der Anwendbarkeit und in den Analysenergebnisse. Ein vorsichtigerer Abgleich mit etablierten Ansätzen der Diskurs- und Begriffsgeschichte wäre wünschenswert. Ein besseres Lektorat, das etwa aus „Trakel“ einen „Trakl“ macht (S. 42), hätte man der Verfasserin gewünscht. Insgesamt konnten nicht alle Ziele der Arbeit in Bezug auf ein heute gültiges Romantikmodell erreicht werden, allerdings ist der große Schritt von 1800 bis 2000 durchaus gelungen.

Rezension verfasst von Jana-Katharina Mende

 

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61461

Romantik um 2000