Roland Borgards, Frederike Middelhoff, Barbara Thums (Hgg.)
Romantische Ökologien
Vielfältige Naturen um 1800
Das Bewusstsein, dass der Mensch mit der Natur einen gemeinsamen Oíkos, also ‚Haushalt‘ teilt, verdankt die Moderne zu einem nicht unwesentlichen Teil der Romantik. Diese in der Forschung etablierte These möchte der Sammelband Romantische Ökologien. Vielfältige Naturen um 1800, der auf eine Frankfurter Ringvorlesung zurückgeht, mit Methoden der aktuellen Environmental Humanities vertiefen. Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung einräumen, ist der Begriff der Ökologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht gebräuchlich und wird erst von Ernst Haeckel als Wissenschaft von den „Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt“ definiert. Gleichwohl ist das Nachdenken über diese Beziehungen in der Zeit der Romantik von enormer Bedeutung. Dabei hat die Romantik, wie im Lauf der Lektüre deutlich wird, nicht eines, sondern eine Vielfalt ökologischer Modelle hervorgebracht. Der Plural „Ökologien“ im Titel hat deshalb seine Berechtigung.
Auch wenn die meisten Beiträge in der germanistischen Literaturwissenschaft zu verorten sind, versammelt der Band eine Vielzahl von Perspektiven auf das Thema. Anglistik und Philosophie sind ebenfalls vertreten, einbezogen werden Erkenntnisse der Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Digital Humanities. Der Band beginnt mit der philosophischen Grundlegung des Themas bei Kant, Schelling und Novalis und wendet sich dann der romantischen Literatur zu. Zur Sprache kommen Texte von Karolin von Günderrode, Bettina von Arnim, Ludwig Tieck, Samuel Taylor Coleridge, Anna Seward und John Clare. Aber auch Humboldts Naturgemälde und Musik Robert Schumanns stehen zur Diskussion. Die Beiträge verorten sich methodisch im Feld der Environmental Humanities und hier vor allem im Romantic Ecocriticism. Es geht darum, die Kritik an der hierarchischen Modellierung des Natur-Mensch-Verhältnisses historisch zu verorten. Der Anschluss an zeitgenössische Phänomene wie Naturzerstörung, Artensterben und Klimawandel ist gewollt. So wie im Fall der ‚Romantischen Ökologien‘ wird auch hier die Vielfalt der methodischen Ansätze deutlich; die Beiträger gewichten das Verhältnis von Natur, Mensch und Literatur mitunter sehr unterschiedlich.
Über die aktuellen Forschungen zur romantischen Ökopoetik, deren Zahl in den letzten Jahren rasant steigt, informiert die fundierte Einleitung ebenso wie die Beiträge. Erfreulich ist auch die konsequente und kritische Reflexion der verwendeten Theorien und Begriffe, sodass sich der Band gut als Einstieg in das Thema verwenden lässt. Einzig der Beitrag von Bernhard Malkmus über die „Leiblichkeit der Musik“ in der Romantik fällt hier negativ auf. Er bescheinigt den heutigen Geisteswissenschaften pauschal eine „anämische Hörscheu“, ohne die inzwischen kaum mehr zu überschauenden Studien im Feld der literarischen Musik-, Klang- und Soundstudien zu erwähnen, die ihre wichtigsten Thesen gerade aus einer intensiven Auseinandersetzung mit der romantischen Musikästhetik gewonnen haben.
Mit Kants Kritik der Urteilskraft verortet Rahel Villinger in ihrem Beitrag den Beginn des im Band diskutierten ökologischen Denkens im Jahr 1790. Bereits hier, argumentiert Villinger, werde das Verhältnis von Natur und Kultur nicht als fundamentale Differenz, sondern als Kontinuum gedacht. Zwar sei der in der Kritik der Urteilskraft verwendete Naturbegriff zum Teil widersprüchlich, die Theorien des Organismus und einer in der Natur wirkenden Teleologie hätten jedoch wesentlich zur Überwindung der mechanistischen Naturbeschreibungen der Aufklärung beigetragen und das romantische Denken inspiriert. Dies gilt auch für Kants Ästhetik: Während sich die Natur mit den Kategorien des Verstandes letztlich nicht erklären lässt, wirkt sie in der Kunst und kann so dem Menschen zugänglich werden. Johanna Hueck nimmt diesen Stab auf und zeigt, wie Schelling in seiner frühen Naturphilosophie die Theorie des Organismus weiterentwickelt, indem er den Prozesscharakter und die Produktivkraft der Natura naturans in den Vordergrund stellt. Dies und seine Idee, durch ‚intellektuale Anschauung‘ die Natur jenseits von Verstandeskategorien zu ergründen, waren für das romantische Naturverständnis bahnbrechend. „Eine Ökologie der Natur“, so Hueck, sei bei Schelling „nicht zu erreichen ohne eine Ökologie des Bewusstseins.“ (S. 52)
Trotz dieser Einflüsse Kants und des Idealismus setzt mit der deutschen Frühromantik ein völlig neues Denken der Natur ein. Dies zu zeigen, ist das Verdienst des Beitrags von Barbara Thums. Sie deutet die Beschreibung des Natur-Mensch-Verhältnisses im Werk des Novalis als „Methexis“, also Teilhabe. Dieser für die Romantik typisch synkretistischen Theorie zufolge haben Tiere und Pflanzen ebenso am Absoluten teil wie das menschliche Bewusstsein. Zentral hierfür sei Novalis’ Idee einer „Wechselrepräsentationslehre des Universums“. Folgt man ihr, müssen sich die Ökologien Kants und Schellings als unzureichend erweisen, denn es gilt nun, sämtliches Wissen über die Natur zueinander in Beziehung zu setzen. Analogiebildungen zwischen Natur und Kultur sind anders als bei Kant kein vorläufiges Hilfsmittel, sie avancieren stattdessen zu den wichtigsten Instrumenten der Erkenntnis. Und anders als bei Schelling geht es nun nicht mehr um den stufenweisen bzw. teleologischen Aufstieg von der unbewussten Natur zum menschlichen Bewusstsein, sondern um horizontale Verflechtungen jenseits jeder Hierarchie. Damit wird die Romantik anschlussfähig an gleichlautende Theorien der Gegenwart, sei es der Netzwerkgedanke der Ökokritik oder die Idee einer von Mensch und Natur geteilten Atmosphäre.
Wie sind nun aber Literatur und Kunst in diesem Geflecht der Wechselbeziehungen zwischen Natur und Kultur zu verorten? Auf diese Frage antworten die folgenden Beiträge auf unterschiedliche Weise. Ute Berns setzt Coleridges Ballade The Rime of the Ancient Mariner in Analogie zur frühindustriellen Energiegewinnung in England. Die Begegnung des Segelschiffes mit einem Geisterschiff, dass durch Dampf und Feuer angetrieben scheint, mache den Übergang in das fossile Transport-Regime der Moderne sichtbar (S. 239). In diesem Fall, so Berns, konditioniere die Literatur die Weltwahrnehmung der Leser und schärfe ihre Sinne für den neuartigen Zugriff des Menschen auf die Natur (S. 241). Demgegenüber dehnen Kate Rigby und Frederike Middelhoff das Verhältnis von Literatur und Ökologie noch weiter aus. Es geht nicht mehr nur darum, dass literarische Texte das Natur-Mensch-Verhältnis auf eine neue Art inszenieren, vielmehr soll die Natur nun selbst Teil der ästhetischen Produktivität werden. In Rückgriff auf Donna Haraways Konzept der „Sympoiesis“ und in kritischer Abgrenzung von Schellings Theorie der stufenweisen Potenzierung der Natur zum menschlichen Bewusstsein (S. 210–213) will Rigby am Beispiel von Gedichten Anna Sewards und John Clares zeigen, wie unterschiedlich die romantische Literatur die Teilhabe der Natur an kreativen Prozessen verwirklicht. Während Seward dem Gedanken der Potenzierung der Natur durch den Menschen verhaftet bleibe, gehe es Clare um konkrete „practices of conviviality“ (S. 217). Wenn seine Gedichte die Natur als Akteur beschreiben, sei dies mehr als eine rhetorische Figur, sondern die Anerkennung der Tatsache, dass seine Lyrik von der ihn umgebenden Welt „materially co-constituted“ werde; sie entstehe aus seinen „embodied encounters with diverse more-than-human others“ (S. 217).
Dieser Spur folgt auch Frederike Middelhoff, die mit „Phytoökologien“ einen weiteren Aspekt der romantischen Ökokritik ins Spiel bringt. Sie untersucht Passagen aus Bettina von Arnims Die Günderrode, Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde und Clemens Brentano’s Frühlingskranz, in denen die Erzählerin die Pappeln im Offenbacher Garten ihrer Großmutter Sophie von La Roche als Akteure kreativer Prozesse beschreibt. Die Bäume partizipieren, folgert Middelhoff, materiell und semiotisch am Schreibprozess. Bettina reflektiere in diesen Texten, „inwiefern die Produktion von Gedanken und Schrift nicht zwangsläufig als alleiniges Werk eines menschlichen Schreibenden zu betrachten ist.“ (S. 141)
Mehrere Einwände ließen sich gegen diese Radikalisierung der literarischen Ökokritik bei Rigby und Middelhoff formulieren. Der erste könnte lauten, dass Pappeln bekanntlich keine Texte schreiben. Er wäre jedoch etwas banal, da es hier eher um die Einsicht romantischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller geht, dass ihre Literatur ohne die Natur nicht hätte entstehen können. Wie Middelhoff betont, müsse man Arnims Pappel-Texte als ökologische Schulungen der Aufmerksamkeit begreifen (S. 156). Gewichtiger schon wäre das Argument, dass in dieser Spielart der Ökokritik jeder Unterschied von Natur und Kultur eingeebnet wird. Damit geraten auch kulturelle Formen eines Umgangs mit der Natur in die Kritik, die nicht auf Ausbeutung beruhen, sondern auf Bewahrung und Pflege.
Thums erwähnt in ihren Ausführungen zur „Methexis“, dass die Idee der Teilhabe auch eine soziale und ökonomische Komponente habe. Diese wird in verschiedenen Beiträgen deutlich. Rigby weist auf die Analogie hin zwischen der frühindustriellen Ausbeutung der Natur und der Arbeitskräfte in England und den Kolonien (S. 221) und hält dieser die utopisch anmutende Vision einer auf gleichberechtigtem Austausch basierenden „multispecies conviviality“ entgegen (S. 218). Im Kontrast hierzu zeigt Rainer Emig im Anschluss an Theorien des Material Ecocriticism und ebenfalls an Gedichten John Clares, dass dessen Auseinandersetzung mit der im 18. Jahrhundert in England einsetzenden, politisch dirigierten Landnahme der „enclosures“ das Verhältnis von Natur und Mensch zwar als ein interaktives, aber auch konfliktreiches sichtbar mache. Die Natur bringe als eigenständiger und mitunter aggressiver Akteur die politischen Pläne des Menschen immer wieder durcheinander, umgekehrt beruhe die Gewalt des Menschen gegen die Natur nicht allein auf deren Abwertung gegenüber der Kultur. Die Bauern, die in einem Gedicht Clares einen Dachs quälen, seien „selbst in die Enge getriebene. So wie das Tier seinem Habitat entrissen wird, sind sie des Grundes beraubt worden, der ihre Lebensgrundlage darstellt. Weil sie dies vielleicht begreifen, aber nicht ändern können, betreiben sie selbst Umweltzerstörung“ (S. 259).
Mit Romantische Ökologien liegt eine fundierte und anregende Publikation vor. Es ist ein wissenschaftlicher Sammelband, wie man ihn sich wünscht: Die Beiträge nehmen Bezug aufeinander, zeigen interdisziplinäre Verbindungslinien auf, machen aber auch theoretische Differenzen sichtbar. Es sei empfohlen, nicht nur einzelne Beiträge des Bandes zu konsultieren, sondern das Buch als Ganzes zu lesen.
Rezension verfasst von Martin Schneider
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.62565