Andreas Arndt

Schleiermachers Philosophie

Felix Meiner 2021

Das Werk des Frühromantikers Friedrich Schleiermacher erfährt in der Forschung seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Renaissance. Zahlreiche Arbeiten sind entstanden und vor allem die evangelische Theologie ist es, die sich ausführlich mit dem Berliner Prediger auseinandersetzt. Das Werk Schleiermachers kann jedoch keineswegs auf theologische Gedanken reduziert werden. Im Gegenteil: Schleiermacher war auf der Höhe der philosophischen Debatten seiner Zeit und gleichzeitig ihr aktiver Mitgestalter. Das Werk dieses Denkers auch aus philosophischer Sicht zu erforschen, ist ein wesentliches Verdienst Andreas Arndts. Dessen grundlegendes Projekt ist es, die für die deutsche Philosophie prägende Zeit von 1789-1831 nicht ausschließlich mit Blick auf dominante Gestalten wie Fichte, Schelling und Hegel zu lesen, sondern auch andere Akteur:innen in den Blick zu nehmen. Hier steht Arndts Wirken in Kontinuität mit der Konstellationsforschung Tübinger Prägung. Gemeinsam mit Walter Jaeschke ging Arndt in seinem 2012 veröffentlichtem Werk Die klassische deutsche Philosophie nach Kant auf die Philosophie zentraler Denker der Romantik, wie Novalis und Friedrich Schlegel, ein. Darüber hinaus fand sich schon hier eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Denken Schleiermachers. Dabei ist es keine Übertreibung zu sagen, dass Arndts Arbeiten im Hinblick auf das philosophische Werk Schleiermachers zentral sind. Zu nennen wäre hier etwa 2013 erschienene Band mit dem programmatischen Titel Schleiermacher als Philosoph.

In Kontinuität zu diesem Band darf der jetzt acht Jahre später veröffentlichte Zugriff unter dem Titel Schleiermachers Philosophie verstanden werden. Die Stärke des Bandes gilt es vor allem in Auseinandersetzung Arndts mit Schleiermachers Systemkonzeption zu sehen. Sprachlich verständlich und präzise erläutert Arndt, wie Schleiermacher vor und während seiner Zeit in Halle ein Hegel entsprechendes System des Wissens entwickelte. Vermittelt über diesen Systemgedanken kontextualisiert Arndt Schleiermacher im Zentrum der nachkantischen Debatten. Er verortet sein Denken gegenüber Fichte, Schelling und Kant und in der sich zwischen 1800 und 1830 manifestierenden Gemengelage. Im Unterschied zu Fichte war Schleiermacher nicht daran gelegen, sein System auf einer einseitig dem Ich verpflichteten Transzendentalphilosophie basieren zu lassen, sondern es auf einer gegenseitigen Ergänzung von Geist- und Naturphilosophie zu konstituieren. Arndt weist diese Systemgestalt in den Hallenser Schriften nach und führt das komplementäre Lehrverhältnis zwischen Schleiermacher und dem romantischen Naturphilosophen Steffens aus.

Eine weitere Stärke des Bandes liegt in Arndts Auseinandersetzung mit Schleiermachers Dialektik. In gut lesbarer Darlegung präsentiert Arndt die Eckpunkte von Schleiermachers transzendentalphilosophischem Entwurf. Dabei deutet Schleiermacher den Begriff der Dialektik im Sinne Platons. Arndt verweist hier auf ein einschlägiges Desiderat der Schleiermacher-Forschung: das Verhältnis von Schleiermachers Dialektik zu Schlegels Jenaer Transzendentalphilosophievorlesungen. Beide Entwürfe sind von der Forschung bislang nur wenig erforscht. Seine Konzeption ergänzt Schleiermacher um eine Theorie des ‚unmittelbaren Selbstbewusstseins‘, das, wie Arndt darlegt, eine eigene Antwort auf das nachkantische Problem der Vereinigung von Idealismus und Realismus darstellt. Auch mit der Psychologie Schleiermachers, die ebenfalls einen elementaren Teil des Schleiermacherschen Wissenssystems bildet, behandelt Arndt ein Feld, das in der Forschung bislang wenig berücksichtigt wurde. Dabei verweist Arndt auf die Parallelen zu Schleiermachers Berliner Kollegen. Konkret deutet er Schleiermachers psychologischen Entwurf als Philosophie des subjektiven Geistes im Sinne Hegels.

Allerdings versäumt es Arndt, Schleiermacher auf Basis dieser Folie weiter zu profilieren. Oft fungiert Hegel für Arndt als Schablone, was Schleiermachers eigenen philosophischen Entwurf, etwa seine Auseinandersetzung mit der menschlichen Individualität, nicht ausreichend würdigt. Gerade im Unterschied zu den großen Systemdenkern interessiert sich Schleiermacher, mit Simmel gesprochen, für die qualitative und nicht quantitative Individualität. Eine Dimension, die Arndt im Kapitel mit dem Titel „Verdankte Subjektivität“ nur am Rande verhandelt. Dominant wird Schleiermacher hier als Protagonist der nachkantischen und weitgehend idealistischen Philosophie gedeutet. Als primäre Einflüsse Schleiermachers nennt Arndt vornehmlich Kant und Fichte, der Einfluss der Hallenser Schulphilosophie auf Schleiermacher, etwa in Gestalt von Christian Wolff oder auch seinem Schüler Johann August Eberhard, wird weitgehend ausgeblendet. Auch Schleiermachers sprachphilosophische Arbeiten kommen in Arndts Darstellung zu kurz. Bearbeitet wird dieses Themenfeld knapp mit Blick auf Schleiermachers Hermeneutik. Dies geschieht allerdings unter transzendentalphilosophischen Vorzeichen, denn Arndt zeigt hier vornehmlich Interesse am Begriff der Einbildungskraft. Der Band verdeutlicht demnach vor allem die Schwerpunkte Arndts eigener Arbeit zu Schleiermacher: die Ethik und die Dialektik.

Weiter zu würdigen ist, dass Arndt Schleiermachers Rolle gegenüber marginalisierten Gruppen, wie etwa dem Judentum, in den Blick nimmt, und hier gerade die Ambivalenzen herausstreicht. Somit bietet der vorgelegte Band insgesamt eine hervorragende Einführung in Schleiermachers philosophisches Denken, die deutlich macht, wie intensiv er mit den zeitgenössischen Debatten vertraut war und in diesem Horizont einen eigenständigen philosophischen Entwurf lieferte. Damit kann Arndts Votum, Schleiermacher auch als Philosophen ernst zu nehmen, nur zugestimmt werden. Über Arndt hinaus darf jedoch gefragt werden, ob sich Schleiermacher nicht im Horizont seines lebendigen Systementwurfs und seines eigenständigen Individualitätsbegriffs als dezidierter Denker einer romantischen Philosophie erweist.

Rezension verfasst von Matthis Glatzel.

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar:
10.22032/dbt.64528

Schleiermachers Philosophie