Kristen Case, Rochelle L. Johnson, Henrik Otterberg (Hgg.)

Thoreau in an Age of Crisis

Uses and Abuses of an American Icon

Wilhelm Fink 2021

Die Forschung zum Werk des amerikanischen Transzendentalisten Henry David Thoreau, der zu seiner Zeit weit weniger bekannt war als sein Mentor und Freund Ralph Waldo Emerson, boomt in unserer Zeit. Das hat zwei Gründe. Erstens ist Thoreau im 21. Jahrhundert (unfreiwillig) zum Säulenheilgen vieler unterschiedlicher Lifestyle Movements geworden. Diese beziehen sich meist, teils richtig und teils missverstanden, auf Thoreaus wohl berühmtestes Lebensexperiment am Walden Pond, an dem er zwei Jahre, zwei Wochen und zwei Tage zwischen 1845–47 verbrachte. Thoreau schrieb dort unter anderem den Text Resistance to Civil Government, besser bekannt als Civil Disobedience, verbrachte eine Nacht im Gefängnis, weil er aus Protest gegen die Sklaverei seine Steuern nicht bezahlt hatte, reiste nach Maine und bestieg den Mount Katahdin. Der Text Walden entstand viel später; am See verarbeitete Thoreau vor allem den Tod seines geliebten Bruders John und schrieb den Entwurf seines ersten Buches A Week on the Concord and Merrimack Rivers, den Bericht einer zweiwöchigen Paddeltour, die er mit John 1939 unternommen hatte. Walden zeigt, dass Thoreau sich weder in die Wildnis zurückziehen wollte, noch unmittelbar Erlebtes aufschrieb und dass seine politischen nicht von seinen Naturessays zu trennen sind. Dennoch steht Walden/Walden heute Modell für viele zeitgenössische Bewegungen – vom „Vanlife“, „Cabin Porn“ und Aussteigertum bis zur „Mindfulness“-Bewegung und Entwürfen für eine neue, an der Natur orientierte Männlichkeit –, die vor allem auf den Rückzug in die Natur fokussieren. Modelle vereinfachen und abstrahieren stets, so dass ein genauer Blick notwendig ist, wie viel Thoreau tatsächlich in den Nachahmerbewegungen steckt.

Neben diesen Lifestyle-Phänomenen hat die Thoreau-Forschung aber zweitens Hochkonjunktur, weil seine Naturessays ökologische Ideen und harte Daten liefern, die heutigen naturwissenschaftlichen Forschungen der Botanik, Forstkunde, Geologie und Biologie als Referenzpunkte dienen. Thoreaus Idee des Wilden, das nicht das Gegenteil von Zivilisation ist, sondern eine in diese zu integrierende und Kulturen regenerierende Kraft darstellt, war Lesern vor allem durch Walden und Walking, or the Wild seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Seine späten Naturessays, von denen viele erst Ende des 20. bzw. zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Dean Bradley (Faith in a Seed 1993; Wild Fruits 2000) und William Rossi (Wild Apples 2000) herausgegeben wurden, eröffnen dabei nochmal ein ganz neues Feld. Seit den 1850er Jahren begann Thoreau sich für die Flora und Fauna seiner Umgebung zu interessieren und begann an seinem größten Projekt, einem phänologischen Kalender nach Vorbild von Humboldts Kosmos, zu arbeiten. Über Jahre notierte Thoreau minutiös den Frucht- und Blütenstand von Pflanzen sowie den Beginn des Vogelzugs. Diese erst in neuerer Zeit bekannt gewordenen Daten werden heute zur Erforschung von Klimawandel und Artenvielfalt herangezogen und Thoreau als Protoökologe gefeiert, dessen Forschungen zu den Funktionsgemeinschaften verschiedener Organismen Impulse für nachhaltigen Städtebau und Wasserbewirtschaftung geben.

Diesem breiten zeitgenössischen Interesse an Thoreaus Schriften widmet sich der Sammelband Thoreau in an Age of Crisis. Uses and Abuses of an American Icon. Er ist das Ergebnis einer Tagung, die 2017 zu Thoreaus 200. Geburtstag an der Universität Göteborg in Schweden stattfand. Ziel der Tagung, so die Herausgeber:innen in ihrer kurzen Einleitung, sei gewesen, den Einfluss von Thoreaus Schriften auf neuere Theoriebildungen insbesondere in den Gender und Ethnicity Studies sowie den Environmental Humanities zu untersuchen (xiii). Wie der Untertitel andeutet, sollen dabei Simplifizierungen und „abuses“ von Thoreaus Gedankengut ebenso aufgedeckt werden wie blinde Flecken in seinem Werk, etwa mit Blick auf den Genozid der indigenen Bevölkerung Amerikas. Gleichzeitig will der Band Thoreaus herausragende Rolle für neue Theoriefelder, etwa das des Ecological Grief oder die Ökologie, herausstellen.

Die Aufsatzsammlung gliedert sich in mehrere Themenfelder: 1. „Thoreau and Grief“, das sich in einer Zweiteilung dem Kummer widmet, den Menschen damals wie heute angesichts von Umweltzerstörung erfahren, wie dem Kummer, den Thoreau selbst durch den Verlust geliebter Menschen und Krankheit erfahren musste. 2. „Thoreau’s Science“ wendet sich in einem exzellenten Aufsatz von Robert Sattelmeyer, einem altgedienten Thoreau-Experten, Thoreaus bislang noch wenig erforschten hydrologischen Studien zu. Auch der zweite Aufsatz in dieser Sektion, Dennis Nosons Untersuchung zu Thoreaus wilden akkustischen Klanglandschaften, ist herausragend. 3. „Thoreau and the More-Than-Human“ untersucht in einer heterogenen Mischung von Beiträgen Thoreaus Darstellung des Sublimen, seine a-chronologische, an den Zyklen der Natur orientierte Vorstellung von Zeitlichkeit sowie die Schaffung des „Katahdin Woods and Waters National Monument“. Hier ist ein Zusammenhang der Aufsätze schwer erkennbar, und während das Themenfeld „more-than-human“ Mensch-Tier-Beziehungen erwarten lässt, spielen diese überhaupt keine Rolle. Erwähnenswert ist hier Mark Luccarellis Beitrag, der argumentiert, dass Thoreau in seinem Erstlingswerk A Week on the Concord and Merrimack Rivers eine De-synchronisierung historischer Zeit praktiziert, die dem synchronisierten Zeitverständnis des zivilisatorischen Fortschritts zuwiderläuft.

4. „Thoreau and Race“ bildet mit vier Aufsätzen das größte Themenfeld. Es geht um Thoreaus Verhältnis zur indigenen Bevölkerung, deren Wissen er sehr schätzte und zu bewahren versuchte. Allerdings nur, weil er sie, als Kind seiner Zeit, als aussterbende Art sah. Anders als bei seinem Einsatz für die Abschaffung der Sklaverei nahm Thoreau die Umsiedlung und Ausrottung der Indigenen schweigend in Kauf und war mehr als an ihnen selbst an ihrem Wissen interessiert, wie John Kulich in seinem sehr gelungenen Artikel „Thoreau’s Indian Problem“ herausstellt. Es geht im Fortgang dieses Themenfelds auch darum, ob und wie Walden, der Bericht eines privilegierten weißen Mannes, auf die Erfahrungen schwarzer Amerikaner übertragbar ist. Der letzte Teil, 5. „Thoreau’s Reception“, sammelt schließlich ein, was nicht anders unterzubringen war und kulminiert in einem absurden Aufsatz von Andrew McMurry, der auf seinem Stand-up Paddle Board darüber sinniert, wie man Thoreau nutzen kann, um sich gegen Donald Trump zu verwahren.

Es gibt in diesem Sammelsurienband ganz ausgezeichnete Aufsätze und es gibt andere, die entweder nie hätten erscheinen sollen oder besser hätten eingebunden werden müssen. Vor allem aber hätten die Herausgeber:innen stärker editorisch und ordnend eingreifen und in einer ausführlicheren Einleitung die Zielsetzung der Aufsatzsammlung verdeutlichen müssen. Die Einleitung besteht aus nicht einmal drei Seiten Schilderung der Genese des Bandes statt einer inhaltlichen Einführung und aus weiteren sieben Seiten Zusammenfassung der Aufsätze, die im Wortlaut (sic!) eine Aneinanderreihung der Abstracts sind, die jedem Beitrag ohnehin vorangestellt sind.

Das gerade einmal 2 ½-seitige Vorwort der renommierten Thoreau-Forscherin Sandra Petrulionis versucht etwas zu bemüht, den Begriff der Krise aus dem Titel des Bandes zu bestimmen. Heute Covid, Klimawandel und Rassismus, damals Kapitalismuskritik und Aufbegehren gegen die Sklaverei. Das ist mehr billig als gut und mogelt sich um die Definition des Begriffs der Krise herum – ebenso wie um eine Klärung der Frage, welche Rolle Literatur- und Kulturwissenschaft in solchen Krisen-Momenten spielen. Stattdessen behauptet Petrulionis pathetisch: „Generation Z and Millenials have spent nearly their entire lives in an America at war” (x). Weder Krieg noch Krise werden definiert, aber diesen jungen Menschen soll Thoreau als Vorbild dafür dienen, heute selbstbewusst ihre Meinung zu äußern. Das klingt dann doch mehr nach Hagiographie als nach reflektierter Auseinandersetzung.

Fazit: Auf dem Klappentext bezeichnen die Herausgeber:innen das Buch als Anthologie und genauso sollte man es benutzen. Dies ist kein in der Gesamtheit gelungenes Buch, aber ein Buch, das sehr gelungene Aufsätze enthält. Je nach Themengebiet kann man einiges Neue über Thoreau und sein Werk lernen, Schuldig bleibt der Band, was der Titel verspricht, eine Auseinandersetzung mit Thoreaus Status als Ikone, und er hätte davon profitiert, einige Aufsätze auszusortieren, und bei anderen stärker einzugreifen – manche Aufsätze bestehen durchweg aus einer halben Seite Fußnoten. Wie Thoreau es in seinem Aufsatz Walking, or the Wild so treffend formulierte, hat die Natur einen Platz für die wilde Clematis ebenso wie für den Stinkkohl. In einem kulturwissenschaftlichen Sammelband hätte man sich etwas mehr editorisches Unkrautjäten gewünscht.   

 

Rezension von Caroline Rosenthal

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.63652

Thoreau in an Age of Crisis