Olaf L. Müller
Ultraviolett
Johann Wilhelm Ritters Werk und Goethes Beitrag – zur Geschichte einer Kooperation
Mehr Optimismus in der Wissenschaftsgeschichte! So jedenfalls plädiert Olaf L. Müllers kondensierte Doppelbiographie, die sich detailliert mit der Zusammenarbeit zwischen Goethe und Ritter rund um die Entdeckung der Ultravioletten Strahlen befasst, und fordert einen instruktiveren Blick auf die historischen Quellen. Die Einleitung zeigt aber bereits, dass das Buch deutlich mehr bieten will. Basierend auf methodologischen Reflexionen und einem quellen- wie forschungskritischen Ansatz liefert die Monographie eine vehemente Verteidigung der naturwissenschaftlichen Leistungen Goethes und Ritters, eine kritische Haltung gegenüber der traditionellen (Forschungs-)Perspektive auf die Farbenlehre und ein Spotlight auf die vermeintlichen Verlierer der Wissenschaftsgeschichte, die vor allem eine Geschichte der Gewinner, der Entdecker, der langfristig Erfolgreichen erzählt. Ultraviolett will interessierten Leser*innen einen kondensierten Ausschnitt naturwissenschaftlichen Arbeitens um 1800 präsentieren und einem kritischeren Fachpublikum in textgestalterisch abgehobenen Vertiefungen eine detaillierte Quellenstudie bieten. Gleichsam will das Buch eine von der Forschung bislang einseitig betrachtete Kontroverse beleuchten und eine Methode stark machen, die historische Ambivalenz unter der Prämisse transparenter Argumentation aushalten kann. Insofern sticht Müllers Monographie in vielerlei Hinsicht als erfrischend experimentell, ehrgeizig und zuweilen auch angriffslustig hervor.
Ultraviolett untersucht minutiös den Zeitraum zwischen 1792, dem Beginn von Goethes intensiver Beschäftigung mit Newtons optischen Experimenten, und 1810, dem Jahr von Ritters Tod. Ausgangspunkt der Betrachtung ist Goethes Annahme einer Polarität von Licht und Dunkelheit im Lichtspektrum, die Newtons Theorie entgegenstand, nach der Dunkelheit, als Abwesenheit des Lichts, kein eigenes Element sei. Zwar wurden Goethes Ansichten von vielen zeitgenössischen Experimentatoren abgelehnt und gelten unter Forscher*innen bis heute häufig als Beweis für seine anti-empirische Haltung. Der junge Experimentalphysiker Johann Wilhelm Ritter, so zeigt Müllers Monographie, ließ sich aber auf Goethes Perspektive ein. Als der deutsch-britische Forscher Wilhelm Herschel 1800 die für das bloße Auge unsichtbaren Infrarotstrahlen an einem Ende des Lichtspektrums entdeckte, vermutete Ritter im Geiste der Polaritätsannahme auch am anderen Ende unsichtbare Strahlen. In ausgeklügelten, teilweise zusammen mit Goethe durchgeführten Experimenten konnte er diese sogenannten Ultravioletten Strahlen wenige Monate später nachweisen.
In sechs Kapiteln unterteilt, stellt das Buch die verschiedenen Phasen der Kooperation Ritters und Goethes, direkt wie indirekt, dar und diskutiert eingehend, inwiefern persönliche wie wissenschaftliche Anerkennung beider ihre Sichtweise beeinflussten. Müller berücksichtigt dabei nach eigenen Angaben alle vorhandenen Quellenzeugnisse Goethes wie Ritters zu diesem Thema und bettet sie in den wissenschaftshistorischen Kontext ein. Ein wichtiges Augenmerk des Autors gepaart mit scharfer Kritik an seinen Vorgänger*innen liegt darin, die Plausibilität der Quellen genau abzuwägen und auf ungerechtfertigte Schlüsse im Geiste tradierter Idealbilder zu verzichten. Folgerichtig stehen ausführlich zitierte Quellen im Mittelpunkt von Müllers Betrachtung. Trotzdem ermöglicht der Text Dank kurz gehaltener „langweilige[r] Literaturverweise“ (S. 18) und einer präzisen und zugleich leicht zugänglichen und unterhaltenden Rhetorik einen angenehmen Lesefluss.
Die Kapitel sind chronologisch unterteilt und mit einer Zeittafel für den jeweiligen Abschnitt eingeleitet. Das erste Kapitel führt die Leserschaft in das Konzept der Polarität in seiner historischen Dimension ein und erläutert, wie Goethe dabei heraussticht – nicht, weil er sich spekulativen Polaritätsideen verschrieb und sich dabei den empirisch gewonnenen Erkenntnissen der Naturwissenschaftler entzog, sondern weil er die weit verbreiteten Polaritätsideen, wie sie auch von prominenten Experimentatoren verfolgt wurden, auf die Optik zu übertragen versuchte, obwohl diese Dank Newtons Theorien von den meisten anderen Forschenden um 1800 nicht mit Polarität in Verbindung gebracht wurde.
Im zweiten Kapitel rekonstruiert der Autor die Zeit zwischen Ritters Ankunft in Jena 1796 und seiner ersten Begegnung mit Goethe, vermutlich im Sommer 1798. Müller diskutiert ebenso kritisch die bisherigen Forschungsannahmen wie er eigene Interpretationen und Entdeckungen historischer Quellen ausbreitet. Hier bewährt sich die Einteilung in Haupttext und weiterführende Betrachtungen, wodurch die oft ausgesprochen detaillierten Quellenerläuterungen leicht übersprungen werden können. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern Lesende, die zwar am Thema interessiert, aber mit der doch klaren Spezialforschung nicht vertraut sind, womöglich das Interesse verlieren und mehr überspringen, als intendiert ist.
Im dritten Kapitel werden die Entdeckung der Ultravioletten Strahlen sowie das Verhältnis zwischen Goethe und Ritter minutiös rekonstruiert. Müllers Einbezug historischer Details wie des Goethe-Hausgrundrisses oder des Wetters an den Experimentiertagen erinnert an eine unterhaltsame Kriminaldokumentation, ohne an Forschungstransparenz zu verlieren.
Das vierte Kapitel beleuchtet das allmähliche Auseinanderdriften von Ritters und Goethes Ansichten zur Newtonschen Farbenlehre, wobei der Autor erneut deutlich macht, dass es sich keineswegs um eine Abkehr des Experimentalphysikers Ritter von dem theoretisch-spekulativen Goethe handelt. Der Text verlässt die lineare Darstellung des Geschehens, da die Quellen keine eindeutigen Schlüsse darüber zulassen, wieso Goethe und Ritter ihre Zusammenarbeit beendeten. So diskutiert der Autor verschiedene Optionen, von methodischen Streitigkeiten bis hin zu persönlichen Geldsorgen, und erläutert ihre Plausibilität mit Blick auf die in den vorherigen Kapiteln erarbeiteten Gegebenheiten. Dieses Vorgehen illustriert zugleich den „toleranten Pluralismus“ (S. 337) historischer Darstellungen, der angesichts mehrdeutiger Quellenlage einseitigen Interpretationen vorzuziehen ist.
Im fünften Kapitel behandelt Müller den Zeitabschnitt vom vermeintlichen Bruch und Ritters Weggang aus Jena bis zur neuerlichen wissenschaftlichen Annäherung 1806. Einerseits beleuchtet der Autor dabei das gemeinsame Netzwerk, das eine indirekte Kommunikation ermöglichte, andererseits bespricht er im Detail die gegenseitigen Einflusspuren in literarischen und experimentellen Reflexionen. Damit untermauert er seine These, dass keine unüberwindbare methodische oder persönliche Meinungsverschiedenheit zwischen Goethe und Ritter, sondern mehrere äußere, wie inhaltliche Umstände für Differenzen auf unterschiedlichen Ebenen verantwortlich waren.
Das sechste und abschließende Kapitel behandelt die letzten Lebensjahre Ritters bis zu seinem Tod 1810 sowie die Resonanz auf sein physikalisches Wirken von Seiten Goethes und anderer Zeitgenossen. Müller verweist dabei gleichsam auf die vorhandenen Spannungen zwischen den Protagonisten, wie auch auf Indizien gegenseitiger wissenschaftlicher Anerkennung, die ein komplexes, mehrschichtiges Verhältnis zeichnen. Schließlich bespricht der Autor Goethes optische Studien im Kontext weiterer philosophischer Konzepte um 1800. Auf dieser Note endet der Haupttext der Monographie ohne separates Fazit, was angesichts der insbesondere in der Einleitung stark gemachten Herangehensweise an die Fallstudie und der langen Detailbetrachtungen die Lesenden etwas abrupt zurücklässt. Man hätte sich besonders methodisch ein Gesamtfazit gewünscht.
Ultraviolett bietet erfolgreich die angestrebte positive Interpretation eines wissenschaftshistorischen Schlüsselmoments und legt überzeugend dar, wieso eine solche Herangehensweise gewinnbringend für die Wissenschaftsgeschichte, aber auch für die Goethe- und Ritterforschung ist. An einigen Stellen entsteht zwar der Eindruck, dass der Autor mit seinen vehementen Forderungen nach Transparenz und quellenkritischer Haltung Eulen nach Athen trägt. Die Kritik am Verständnis Goethes als gescheiterter anti-empirischer Naturphilosoph, am Ansatz, Naturwissenschaftsgeschichte ausschließlich anhand der großen Entdeckungen zu erzählen und semi-willkürlich Zitate auszuwählen und miteinander zu verknüpfen, scheint sich, betrachtet man die von Müller intensiv besprochenen geistigen Forschungsgegner*innen, an frühere Generationen zu richten. Geht man aber davon aus, dass dieser Wandlungsprozess der Geschichtswissenschaften und insbesondere der Wissenschaftsgeschichte tatsächlich noch nicht abgeschlossen ist, so wird diese Monographie zweifellos einen entscheidenden Beitrag dazu liefern, ihn zu beschleunigen. Ultraviolett bietet eine erfrischend lesenswerte Darstellung einer vielschichtigen historischen Episode und macht deutlich, dass wir weit mehr aus der Geschichte der Naturwissenschaften lernen können, wenn wir den vermeintlichen Fehldeutungen und persönlichen Überzeugungen mindestens so viel Aufmerksamkeit schenken wie den heute als bahnbrechend wahrgenommenen Entdeckungen. Zweifellos steht es sich auch auf den Schultern gefallener Riesen schon beeindruckend hoch.
Rezension verfasst von Alexander Stöger
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61414