Ina Henke
Weiblichkeitsentwürfe bei E.T.A. Hoffmann
„Rat Krespel“, „Das öde Haus“ und „Das Gelübde“ im Kontext intersektionaler Narratologie
Die narratologische Studie von Ina Henke zu einem der bedeutendsten Dichter der Romantik geht sorgfältig und durchdacht mit dem oft heiklen Aufeinandertreffen von Intersektionalität und Literaturwissenschaft um, doch nicht nur das zeichnet die Studie aus. Sie macht auch den etymologischen Wurzeln von „Intersektionalität“ (engl. intersection, Schnittmenge) alle Ehre, indem sie das Schnittmengenprinzip mehrmals anwendet:
So handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine gelungene Schnittmenge aus handwerklich sauber gearbeiteter literaturwissenschaftlicher Analyse auf der einen Seite und einer aktuellen und zugleich historisch sensiblen Anbindung an soziologische Forschungsparadigmen auf der anderen Seite. Die Auswahl der Primärwerke, drei Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, die entstehungsgeschichtlich nah beieinander liegen, gelingt ebenfalls und entspricht auch wieder dem Schnittmengenprinzip, denn alle drei Texte haben einiges gemeinsam: ihren Prototypencharakter in Bezug auf die Inszenierung von Weiblichkeit in der Romantik und das Hinzutreten weiterer Kategorien wie Klasse oder Alter auf der Ebene der histoire, die erzähltechnische Subversion inszenierter Weiblichkeit auf der Ebene der discours, einen ausgeprägten (romantischen) Leerstellenmodus auf der Ebene der Vermittlung.
Die Studie ist logisch aufgebaut. Sie enthält zwei große Analysekapitel zu den im Buchuntertitel genannten drei Erzählungen (Rat Krespel, Das öde Haus, Das Gelübde), nämlich „Konstruktionen von Weiblichkeit“ und „Subversionen von Weiblichkeit“. Davor bezieht sich Henke in einem fundierten Theorieteil sowohl auf die Intersektionalitätsforschung der Gegenwart als auch auf Weiblichkeitsimagines des damaligen zeitgenössischen (anthropologisch geprägten) Geschlechterdiskurses um 1800. Es findet also keine unsachgemäße Vermengung mit dem gegenwärtigen Geschlechterdiskurs statt. Die Darstellung des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses ist fokussiert und kurzweilig, denn sie konzentriert sich auf intersektionale Implikationen und verzichtet auf Redundanz. Henke arbeitet an dieser Stelle konsequent mit dem Begriff des Geschlechts (anstelle von Gender, was anachronistisch wäre).
Die Forschungslinie in den Analysekapiteln lässt auf eine Neubewertung romantischen Erzählens im Kontext von Konstruktion und Dekonstruktion schließen: Zunächst werden schablonenhafte Weiblichkeitsimagines identifiziert, die ganz den tradierten Normen des polar angelegten Geschlechterdiskurses um 1800 entsprechen und auch als Weiblichkeitsstereotype bezeichnet werden können. Die intersektionale Verschränkung der Kategorie Geschlecht mit weiteren Differenzkategorien ergibt antizipierte Varianten (Präfigurationen) der späteren (passiven) femme fragile und der (dämonischen) femme fatale. Männliche Erzähler- und Figurenstimmen (Henke differenziert zwischen heterodiegetischen Erzählerinstanzen und homodiegetischen Figureninstanzen) scheinen diese Weiblichkeitsimagines zu produzieren bzw. durch Zuschreibung zu perpetuieren. Doch aufgrund bestimmter Darstellungsverfahren (unzuverlässiges Erzählen, Metafiktion), die Henke in Anlehnung an Babka u. a. im Rahmen eines Queer Reading untersucht, wird dies subversiv in Frage gestellt und mit dem Etikett des Glaubwürdigkeitsverlusts versehen. Henke bezeichnet die ans Licht beförderten Imagines bilanzierend als „subjektive Fantasiegeburten männlicher Künstler- bzw. Erzählerfiguren (...), denen keine ‚Realität‘ außerhalb der Sprechakte ihrer Urheber zukommt, sondern die immer erst mittels performativer Akte (...) als ‚Wirklichkeit‘ konstruiert werden. Dadurch wird ein Verständnis von Weiblichkeit als performatives Konstrukt angebahnt, das bereits auf (post-)moderne Deutungsmuster im Sinne Butlers vorausweist (...)“ (S. 269–270).
Im Hinblick auf die Intersektionalitätsforschung ist auch die Lektüre der Fußnoten lohnenswert. Henke arbeitet auch hier gründlich und weist beispielsweise auf die Streitfrage hin, ob es sich bei der Intersektionalität um eine Theorie, eine Analyseperspektive oder ein Paradigma handelt oder geht auf relevante Kritiken ein, beispielsweise auf die Kritik am als zu additiv empfundenen Begriff der Mehrfachdiskriminierung. Zu Recht verdeutlicht Henke, dass Intersektionalität im soziologischen Kontext, in der Politik oder in der Sozialen Arbeit eine andere Stoßrichtung und Tragweite besitzt als im literaturwissenschaftlichen Kontext. Es gelingt ihr dabei vortrefflich, die Grenzen der Fachkultur einzuhalten und die Epochenspezifika der Romantik zu respektieren.
Die Anwendung des eingangs erläuterten Schnittmengenprinzips in einer Arbeit über Intersektionalität bleibt nicht die einzige Raffinesse: Ina Henke beginnt mit einem pointierten Zitat aus der bekannten Hoffmann-Biografie von Rüdiger Safranski, spannt den Bogen des unzuverlässigen Erzählens und der Metafiktion konsequent und endet im Rahmen eines geschickten Schachzuges mit dem Aufgreifen eben dieses Zitats, dessen Dimension man erst nach der Lektüre der gesamten Arbeit begreift. Richtig interpretiert stellt das Zitat gewissermaßen eine Art Quintessenz zu den Forschungsergebnissen dar und changiert gleichzeitig zwischen unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen, die Henke wie bereits erwähnt „Fantasiegeburten“ nennt. Safranski deutet nämlich die Hoffmann’sche Alter Ego-Kreisleriana nur scheinbar biografisch und entlarvt anstelle des unzuverlässigen Erzählers aus den Novellen Hoffmans nunmehr den unzuverlässigen (fiktiven) Herausgeber, der dann folgerichtig nur performativ lieben kann - Henke spricht hier von der „Unglaubwürdigkeit und Gemachtheit der von Safranski behaupteten Künstlerliebe des Fantasten Hoffmann“ (S. 272) und weist auf das Spiel mit der Identität des Autors hin, „das die Grenzen von Realität und Fiktion verschwimmen lässt“ (S. 272).
Selten hat jemand das Intersektionalitätsparadigma in einer solch stimmigen Weise umgesetzt, nämlich so, dass eine intersektionale Analyse vorliegt, die dem Paradigma tatsächlich gerecht wird und dennoch mit dem strengen Knigge der Literaturanalyse und -interpretation harmoniert. Zudem hat Henke einen wesentlichen Beitrag zur E.T.A. Hoffmann-Forschung geleistet, da Hoffmanns Frauenfiguren bisher nicht unter der Ägide mehrerer verschränkter Differenzkategorien untersucht wurden.
Und was bleibt für die Leserschaft der Hoffmann’schen Novellen? Eine mimetische Schwebe, ganz im Sinne der romantischen Leerstelle: „Unter Rückgriff auf Formen mimetisch unentscheidbaren Erzählens halten die Texte Hoffmanns in der Schwebe, was sich hinter den männlichen (...) Sprechakten und Diskursen verbirgt (...). Ambivalenz ist sonach ein „dominierendes Strukturmerkmal“ der Erzählungen Hoffmanns, die eine Verunsicherung der Leser*innen nicht nur für den (kurzen) Zeitraum der Lektüre bewirkt, sondern diese in eine grundsätzliche und andauernde Reflexion über die Bedingungen und Grundlagen menschlicher Erkenntnis verstrickt“ (S. 270).
Rezension verfasst von Lea Grimm
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61634